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Erkenntnis durch Stoffe Nikolaus Korber 1. Chemische Synthese als Leitkonzept

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Wie jede erwachsene wissenschaftliche Disziplin entzieht sich auch die Chemie einem rigorosen definitorischen Zugriff, die verkürzte Lehrbuchdefinition „Die Chemie ist die Wissenschaft von den Stoffen“1 ist tautologisch, denn ohne die Chemie gäbe es den Stoffbegriff im verwendeten Sinne nicht. Dennoch kann bei einer Betrachtung der Chemie sowohl als historischer wie als aktueller Wissenschaft kein Zweifel daran bestehen, dass es bei ihr im Kern um Materie in ihren vielfältigen Erscheinungsformen geht, um Stoffe eben, die uns umgeben und aus denen wir bestehen. Meistens sind es Stoffgemische, und die erste Aufgabe der Chemikerin oder des Chemikers bei der Beschreibung der so vorgefundenen Materie ist es, solche Gemische zu trennen, reine Stoffe zu isolieren und zu charakterisieren und schließlich alles in einer Systematik zu ordnen. Das scheint sich auf den ersten Blick kaum von anderen Forschungsprogrammen in den Naturwissenschaften zu unterscheiden, Botaniker und Mineraloginnen etwa sammeln und ordnen genauso. Das wirklich Einzigartige der Chemie kommt erst jetzt: es ist das gezielte Verändern von Stoffen, der Aufbau komplizierter Moleküle und Feststoffe aus einfachen Bausteinen, das Schaffen neuer Stoffe, die wiederum Gegenstände chemischer Analyse werden. Dieses Einzigartige ist die chemische Synthese, mit deren Hilfe bereits heute eine unübersehbare Menge an Stoffen gewonnen wurde, die in einer menschenlosen natürlichen Umwelt mit großer Wahrscheinlichkeit nie entstanden wären. Wir leben auch in dieser Hinsicht in einer durch und durch anthropogen erzeugten Umwelt,2 was im Fall artifizieller Stoffe aber generell ein größeres Unbehagen auszulösen scheint als andere artifizielle Produkte und Praktiken wie Ackerbau und Viehzucht, des Tragen von Kleidung und Sehhilfen oder die Rezeption von Medien.

Die Synthese von neuen Stoffen ist also eine Kernkompetenz der Disziplin Chemie, und wenn man eine weitere tautologische Definition hinzunehmen möchte, „Chemistry is what chemists do“3, dann würde sich im Selbstverständnis des Fachs ein weit überwiegender Teil dieses Tuns auf die Suche nach und die Herstellung von neuen Stoffen beziehen. Auch die auf den ersten Blick etwas fernerliegenden Teildisziplinen wie Analytische Chemie oder Theoretische Chemie sind in dieses Forschungsprogramm fest eingebunden, denn auch die neu geschaffenen Stoffe müssen untersucht und in ihren energetischen Aspekten verstanden werden. Historisch ist die Synthese untrennbar mit der Entwicklung der Chemie als naturwissenschaftlicher Disziplin verbunden: die Pioniere der modernen Chemie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert haben nicht etwa zuerst Stoffe getrennt und geordnet, also in einem positivistischen Sinn Tatsachen gesammelt, um in einem nächsten Schritt Versuche zu chemischen Umsetzungen zu unternehmen. Die chemische Transformation stand vom Anfang an im Mittelpunkt des Interesses. Damit haben wir also ein weithin akzeptiertes Charakteristikum von Chemie identifiziert: sie ist die diejenige naturwissenschaftliche Disziplin, die ihre Gegenstände buchstäblich selbst schafft. Die Produkte dieser Disziplin sind nicht etwa Ideen und Konzepte wie in anderen Disziplinen, sondern handfeste Stoffe, die die Welt zum Guten wie zum Schlechten verändern. Damit schwingt die technologische Dimension von Chemie an, sie ist schließlich nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch eine Industrie. Es soll hier aber eher um den erkenntnistheoretischen Aspekt dieser Welterweiterung oder Weltveränderung gehen. Der deutsche Wissenschaftsphilosoph Joachim Schummer hat das in seinem Beitrag „Philosophy of Chemistry“ zu den 2010 von Fritz Allhoff in einem Band zusammengetragenen „Philosophies of the Sciences: a Guide“ einmal in einem Satz so ausgedrückt: „Rather than depicting the world as it is, chemistry develops an understanding of the world by changing the world“4. Damit wird eine Vision der Unendlichkeit aufgemacht, die sich nicht nur auf die wissenschaftliche Disziplin, sondern auf die ganze Welt bezieht: weil die chemische Synthese im Prinzip unbegrenzt ist und auch ganz praktisch wenig begrenzt zu sein scheint, immerhin werden täglich ca. 15.000 neue Stoffe in die wichtigste chemische Datenbank eingetragen, wächst die Komplexität der Welt ständig. Damit wächst die Herausforderung an die Chemie, zu ordnen und zu verstehen, ebenfalls ins Unendliche. Die Chemie ist prinzipiell keine abgeschlossene oder auch nur abschließbare Wissenschaft.

Nicht nur ihr Wissen ist notwendig immer unvollständig, es gehört auch nicht zu den Wunschvorstellungen der Chemiker, aus ihren Schöpfungen und Beobachtungen eines Tages ein vollständiges und alles erklärendes theoretisches Weltmodell zu destillieren.5 Wie anders ist im Vergleich dazu der Anspruch von Peter Atkins, der zwar das erfolgreichste Lehrbuch für Physikalische Chemie geschrieben hat, der jedoch im Herzen immer ein Physiker geblieben ist. In „The Creation“, einem seiner radikal atheistischen populärwissenschaftlichen Bücher schreibt er: „My aim is to argue that the Universe can come into existence without intervention, and there is no need to invoke the idea of a Supreme Being. Our task should be clear. We have to embark upon the track of the absolute zero of intervention. The only faith we need for the journey is the belief that everything can be understood and, ultimately, there is nothing to explain.“6 Dieser extrem reduktionistische Ansatz, der nach der alles umfassenden Weltformel strebt, und damit eigentlich auch nach dem Ende der Wissenschaft, ist einer Disziplin wie der Chemie fremd. Ihr ist auch die manchmal spürbare Verunsicherung der Physik fremd, in der ständig nach „New Physics“ gesucht wird, aber oft das Bekannte und im Prinzip schon Erklärte gefunden wird. Die immer stabiler werdende Absicherung des bekannten Standardmodells der Elementarteilchenphysik mit immer aufwändigeren Großexperimenten beispielsweise scheint die Beteiligten eher zu stören als zu befriedigen.7

Wie objektiv ist Wissenschaft?

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