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5. Chemie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin
ОглавлениеZum Schluss soll eine Selbstreflexion meiner wissenschaftlichen Disziplin im Vergleich zu den anderen Naturwissenschaften versucht werden. Die Chemie als Disziplin steht zwischen der Physik auf der einen und den Lebenswissenschaften auf der anderen Seite. Die Physik scheint für das theoretische Gebäude in Bezug auf die materielle Welt zuständig zu sein, ihr universeller Anspruch wurde oben schon angedeutet. Die Lebenswissenschaften stehen für die biologischen Systeme, in denen chemische Transformationen erst einmal ohne menschlichen Einfluss ablaufen und die so als Fundamentalprozesse die Vielfalt der Biosphäre hervorbringen. Viele Probleme der Chemie und damit auch ihr Relevanzanspruch beziehen sich auf Wechselwirkungen mit solchen biologischen Systemen, zum Beispiel in der Werkstoffforschung. Im Dialog mit Physik und Lebenswissenschaften werden oft alle grundlegenden Fragen anderer nicht-naturwissenschaftlicher Disziplinen verhandelt, sei es die Frage nach dem Urknall, den erkenntnistheoretischen Auswirkungen der Quantentheorie oder nach Evolution und Neurowissenschaften. Es gibt durchaus die Auffassung, man könne die Disziplin Chemie auch aufteilen zwischen der Physik für alle Aspekte von Atomen, chemischer Bindung und Reaktionen auf der einen Seite und den Lebenswissenschaften auf der anderen Seite für die Betrachtung der speziellen Eigengesetzlichkeiten komplexer materieller Systeme, die sich selbst replizieren können. Besonders die Herablassung der Physiker schmerzt manchmal, ich erinnere mich noch heute an den Kommilitonen aus der Physik in Bonn, der mir nur halb im Scherz mitteilte, die Chemie betriebe ja nur „Außenschalen-Atomphysik“.
Das war eine subtile doppelte Beleidigung, denn die Atomphysik gilt im Gegensatz zur Elementarteilchenphysik als auserforscht und vollständig verstanden, und die Beschränkung auf die Außenschale engt das Zuständigkeitsfeld noch weiter ein, denn bei chemischen Reaktionen sind tatsächlich nur die Elektronen der äußersten Schale eines Atoms beteiligt. Lassen sich chemische Konzepte vollständig auf die physikalischen Grundlagen reduzieren? Tatsächlich ist dies häufig versucht worden, aber ohne Erfolg. Schon einfache chemische Vorstellungen wie die einer kovalenten oder ionischen Bindung lassen sich nicht ohne zusätzliche ad hoc Annahmen aus der Quantenmechanik ableiten, und auch für ganz fundamentale Gegebenheiten wie das Aufbauprinzip des Periodensystems der Elemente gibt es keine voraussetzungslose Herleitung. Auf diesen Umstand ist schon früh hingewiesen worden, einer der ersten Texte zu dieser wissenschaftsphilosophischen Forschungsfrage stammt von Paul Bogaard aus dem Jahr 1978 und trägt sogar den Titel „The Limitations of Physics as a Chemical Reducing Agent“.23 Auch in jüngster Zeit hat Hinne Hettema, der eigentlich ein Verfechter eines solchen Reduktionismus ist, in einem Kommentar zu seinem Artikel mit dem programmatischen Titel „Austere Quantum Mechanics as a Reductive Basis for Chemistry“24 resigniert zusammengefasst:25 „The idea that notions of chemistry can be eliminated on the basis of the axioms of physics in its purest form, without any additional or ad hoc assumptions, has not been achieved.“ Das ist irgendwie beruhigend, es gibt offensichtlich einen eigenständigen Beitrag der Chemie zum Verständnis der Natur, aber worin besteht er genau? Für den Novizen und den etwas Außenstehenden ist die ausgesprochene Theoriearmut der Chemie immer wieder erstaunlich. Es gibt keinen echten Konsens darüber, was eigentlich ein chemisches Naturgesetz ist, und häufig genannte Kandidaten stellen sich schnell als wenig zuverlässig heraus. Viele Lehrbücher der Allgemeinen Chemie beginnen zum Beispiel mit den sogenannten stöchiometrischen Gesetzen der konstanten und multiplen Proportionen. Joseph-Louis Proust formulierte das erste 1787:26 „Das Massenverhältnis zweier sich zu einer Verbindung vereinigenden Elemente ist konstant.“ Das bedeutet, dass der aus den chemischen Elementen Wasserstoff und Sauerstoff aufgebaute Stoff Wasser immer genau zwei Anteile Wasserstoff pro einem Teil Sauerstoff enthält und nicht etwa zweieinhalb zu eins oder 5 zu eins, deshalb auch die chemische Formel H2O. Diese Erkenntnis war der erste Schritt zur damals heftig umstrittenen Atomhypothese von John Dalton.27 Die Atomhypothese war der entscheidende Anstoß für die explosionsartige Entfaltung der präparativen Chemie im neunzehnten Jahrhundert, es hat allerdings mehr als hundert Jahre gedauert, bis auch in den anderen Wissenschaften, namentlich in der Physik, die Existenz von Atomen allgemein akzeptiert war. Die stöchiometrischen Gesetze, zu denen man auch noch das von Lavoiser formulierte Gesetz von der Erhaltung der Masse bei chemischen Reaktionen zählen kann, den Ausgangspunkt der sogenannten „Chemical Revolution“,28 haben alle etwas gemeinsam: sie sind nützlich und einfach zu handhaben, sie haben das Verständnis für chemische Reaktionen außerordentlich bereichert – und sie sind alle, genau genommen, falsch. Bei der Massenerhaltung gibt es den durch die Reaktionsenergie hervorgerufenen Massendefekt, den man mit der berühmten Einstein’schen Formel E = mc2 leicht ausrechnen kann. Die konstanten Proportionen gelten nur für Molekülverbindungen, nicht aber für Festkörper, die sogar deutlich variable Zusammensetzungen haben können. Ein Beispiel ist das Eisenmineral Wüstit, dessen Zusammensetzung zwischen Fe0,83O und Fe0,95O liegen kann, eine sogenannte nichtstöchiometrische Verbindung. Mit solchen einfachen rhetorischen Figuren, bei denen historisch experimentell gewonnene und im Prinzip hochrelevante chemische Gesetze vorgestellt und gleich darauf falsifiziert werden, werden Erstsemesterstudierende auf ihr Chemiestudium eingestimmt, und das geht im Folgenden immer so weiter. Bindungskonzepte, Orbitale, Kugelpackungen, Elektronegativität, alles nützliche Modellvorstellungen, aber alle auch höchst unzureichend. Es ist argumentiert worden, dass das Periodensystem der Elemente mit seiner bestechenden und auf chemischen Tatsachen gegründeten Systematik eine Art chemisches Grundgesetz darstellt. Aus dem ernüchternden Befund, dass es weit über hundert, zum Teil radikal verschiedene Darstellungen dieses Periodensystems gibt, kann man allerdings unschwer die mangelnde Verbindlichkeit dieses Grundgesetzes ablesen. Es ist heute noch möglich, mit Schulbehörden lange Briefwechsel darüber zu führen, welches Periodensystem in Chemiesälen hängen sollte und vergeblich für die eigene Position zu werben, mein Kollege Arno Pfitzner hat das kürzlich unternommen.
Inzwischen ist der hier illustrierte Konsens, dass die Physik als einzige Naturwissenschaft strenge Gesetzmäßigkeiten formuliert, ohnehin brüchig geworden. Theoretische Gesetzmäßigkeiten gelten nur für Modelle, die in der realen Welt nicht existieren. Modelle sind eigentlich konstruierte Falsifikationen der Realität, die so gestaltet sind, dass sie theoretisch erfasst werden können. Die Disziplin Chemie war immer schon, eher notgedrungen, mit der Erkenntnis zufrieden, dass sie mehr über Daumenregeln verfügt als über Naturgesetze. Damit könnte sie auch einen spezifischen Beitrag zur Philosophie der Naturwissenschaften leisten.
Diese Wissenschaftsphilosophie war lange Zeit durch den nahezu ausschließlichen Blick auf die Physik als die eigentliche Naturwissenschaft geprägt, viele bekannte Vorstellungen über den Prozess der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sind am Wandel des physikalischen Weltbilds geschärft worden. Es hat sich herausgestellt, dass davon vieles auf die Chemiegeschichte nicht oder nur eingeschränkt übertragen werden kann. Selbst die schon genannte und angeblich durch Antoine Lavoisier ausgelöste „Chemical Revolution“, also die Ablösung der Phlogiston-Theorie, war nach neueren Erkenntnissen nicht der klassische Paradigmenwechsel, als den Kuhn sie noch auffasst, sondern ein gradueller und über mehr als hundert Jahre dauernder Prozess. Inzwischen hat sich eine eigene „Philosophy of Chemistry“ etabliert, einer der profiliertesten Vertreter ist Jaap van Brakel von der Universität Leuven.29 Nach seiner Auffassung ist der wesentliche Beitrag dieser Chemie-Philosophie zur Wissenschaftsphilosophie der Fokus auf die Vielfalt der Stoffe statt auf eine Reduktion auf Ursprünge und fundamentale Prinzipien und der Fokus auf Synthesen, Transformationen und Übergänge statt auf einer statischen Weltbeschreibung,30 und ich stimme ihm hier vollständig zu. Er hat auch ein Zitat von Immanuel Kant aus seiner „Danziger Physik“ aus dem Jahr 1785 gefunden, das in Bezug auf die Grenzen der Naturwissenschaften bemerkenswert klarsichtig ist und das deshalb am Ende stehen soll:
„Die Chymie hat sich in neueren Zeiten zur großen Vollkommenheit emporgehoben; sie verdient auch mit allem Recht den Anspruch auf die gesammte Naturlehre: denn nur die wenigsten Erscheinungen der Natur lassen sich mathematisch erklären – nur der kleinste Theil der Naturbegebenheiten kann mathematisch erwiesen werden so z.B. kann es zwar nach mathematischen Lehrsätzen erklärt werden: wenn der Schnee auf die Erde fällt; wie sich aber Dünste in Tropfen verwandeln oder auflösen können, hier giebt die Mathematic keinen Aufschluss sondern dies muss aus allgemeinen Erfahrungs Gesetzen der Chymie erklärt werden und es gehört zur Chymie immer Philosophie, denn es ist Sache des Philosophen: die allgemeinen Gesetze der Wirkung der Materie durch Erfahrung zu finden und alles systematisch daraus herzuleiten.“31
1 Siehe z.B. Müller, U., Mortimer, Ch.E., Chemie – Das Basiswissen der Chemie, Stuttgart 201512, 19.
2 Lewis, S.L., Maslin, M.A., Defining the Anthropocene, in: Nature 519, 2015, 171–180.
3 James Bryant Conant zugeschrieben.
4 Schummer, J., Philosophy of Chemistry, in: Allhoff F. (Hg.) Philosophies of the Sciences: A Guide, Oxford 2010, 177.
5 Brakel, J. van, Philosophy of Science and Philosophy of Chemistry, in: HYLE – International Journal for Philosophy of Chemistry 20, 2014, 11–57.
6 Atkins, P., The Creation, San Francisco 1981, Preface.
7 Ellis, J., Beyond the standard model with the LHC, in: Nature 448, 2007, 297–301.
8 Kuhn, Th.S., The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962.
9 Kuhn, Th.S. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M.19792.
10 Bednorz, J.G./ Müller, K.A., Possible high Tc superconductivity in the Ba-La-Cu-O system, in: Z. Phys. B. 64, 1986, 189–193.
11 Bardeen, J./ Cooper, L.N./ Schrieffer, J.R., Theory of Superconductivity, in: Phys. Rev. 108, 1957, 1175–1204.
12 Fossheim, K./ Sudboe, A., Superconductivity: Physics and Applications, New York 2005.
13 Chu, P.C.W. et al., Superconductivity at 93-K in a new mixed-phase Y-BA-CU-O compound system at ambient pressure, in: Phys. Rev. Lett. 58, 1987, 908–910.
14 Roberts, R.M., Serendipity: Accidental Discoveries in Science, Weinheim 1989.
15 Roth, K., Quadratisch, praktisch, natürlich?, in: Chemie in unserer Zeit 49, 2015, 336–344.
16 Zeitschrift „test“, 2013, Heft 12, 20.
17 Urteilsbegründung des Landgerichts, Az. 9 O 25477/13, (http://openjur.de/u/678983.html, abgerufen am 28.12.2016).
18 http://docs.dpaq.de/5695–201311_garantiererkl_rung_symrise.pdf, abgerufen am 28.12.2016.
19 Dasent, W.E., Nonexistent Compounds: Compounds of Low Stability, New York 1965.
20 Popper, K.R., Die Logik der Forschung, Tübingen 199410.
21 Nakamura, Sh., Nobel Lecture: Background story of the invention of efficient blue InGaN light emitting diodes, in: Rev. Mod. Phys. 87, 2015, 1139–1150.
22 Nakamura, Sh./ Harada, Y./ Seno, M., Novel metalorganic chemical vapor deposition system for GaN growth, in: Applied Physics Letters 58, 1991, 2021–2023.
23 Bogaard, P.A., The Limitations of Physics as a Chemical Reducing Agent, in: Proceedings of the Philosophy of Science Association 2, 1978, 345–356.
24 Hettema, H., Austere quantum mechanics as a reductive basis for chemistry, in: Foundations of Chemistry 15, 2013, 311–326.
25 Hettema, H., QTAIM as a research programme: a reply to Shahbazian, in: Foundations of Chemistry 15, 2013, 338.
26 Proust, J.-L., Sur les mines de cobalt, nickel et autres. Journal de Physique 63, 1806, 566–568.
27 Thackray, A.W., The Origin of Dalton’s Chemical Atomic Theory: Daltonian Doubts Resolved, in: Isis 57, 1966, 35–55.
28 American Chemical Society, The Chemical Revolution of Antoine-Laurent Lavoisier. International Historic Chemical Landmark, http://www.acs.org/content/acs/en/education/whatischemistry/landmarks/lavoisier.html (abgerufen am 28.12.2016).
29 Brakel, J. van, Philosophy of Chemistry, Leuven 2000.
30 Ruthenberg, K./ Harre, R., Philosophy of chemistry as intercultural philosophy: Jaap van Brakel, in: Foundations of Chemistry 14, 2012, 193–203.
31 Kant, I., Danziger Physik 29.1,1 (Akademie-Ausgabe) 97.30–35 und 98.01-07.