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VII. Kritische Betrachtung der Auslegung anhand des objektiven Empfängerhorizonts
ОглавлениеDas Problem liegt jedoch nicht in den Tatbeständen der Willenserklärung, die durch Rechtsfortbildung entstanden sind. Vielmehr ist es die Auslegung anhand des objektiven Empfängerhorizonts bzw. der Verkehrssitte, die kritisch betrachtet werden muss. Es ist die Kombination aus wertender, weil „verobjektivierter“62 und vermeintlich empirischer Betrachtung, die Fehler erzeugt. Der objektive Empfängerhorizont ist kein empirisches, sondern ein hypothetisches Konstrukt: Es handelt sich dabei um einen objektiven Beobachter, der gleichsam hinter dem Erklärungsempfänger steht, der alle relevanten Umstände kennt, die für den Empfänger erkennbar waren und den typischen Verständnishorizont derjenigen Verkehrskreise innehat, denen der Empfänger angehört.63
Um sich mit rein empirischen Methoden dem objektiven Empfängerhorizont zu nähern, müsste eine entsprechend große Vergleichsgruppe gebildet werden, die dem Verkehrskreis des Empfängers der Erklärung entspricht. Dieser müsste der Sachverhalt und Gesamtkontext der auslegungsbedürftigen Erklärung so dargelegt werden, dass sie denselben Kenntnisstand wie der Empfänger hat. Dann müsste sie befragt werden, wie die Erklärung zu verstehen sei. Auf suggestive Fragen oder Auslegungsvorschläge müsste dabei verzichtet werden, um das Ergebnis der Befragung nicht zu beeinflussen. Die Ergebnisse der Befragung müssten sodann anhand der Häufigkeit der Nennungen sortiert werden. Die Antwort mit der größten Anzahl würde dann dem Empfängerhorizont entsprechen. Diese Vorgehensweise würde auch dem Verkehrsschutz gerecht. Die Vergleichsgruppe repräsentiert gerade den allgemeinen Rechtsverkehr, der in das Gesagte vertrauen darf. Wenn diese Vergleichsgruppe ein einheitliches oder überwiegendes Verständnis des Gesagten hat, dann muss sich der Verkehrsschutz daran orientieren.
Mit dieser Herangehensweise wäre die Aktualität gerichtlicher Entscheidung stets gewährleistet, da immer auf die aktuelle Vergleichsgruppe des Empfängers der Auslegung abgestellt würde. Zudem wäre damit ein Vertrauen in die gerichtlichen Entscheidungen wenigstens zum Teil wiederhergestellt, ohne dass es zu einer Art Volksgerichtsbarkeit durch die Hintertür führen würde. Es soll nicht die richterliche Entscheidung durch empirischen Mehrheitsentscheid abgelöst werden, sondern allein die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen nach § 113 und 157 BGB auf eine empirische Datenbasis gestellt werden. Das Recht täte gut daran, die eigene „Erklärbarkeit“ in den Vordergrund zu rücken, bevor sich mit der „Erklärbarkeit“ von „Künstlicher Intelligenz“64 auseinandergesetzt wird.