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II.Die alleinige Zuständigkeit der Länder seit 2006
Оглавление40Eine grundlegende Änderung erfuhr die hier interessierende kompetenzielle Situation im Rahmen der sog. Föderalismusrefom I im Jahre 2006. Einer ihrer zentralen Gegenstände war eine Änderung der Gesetzgebungskompetenzen. U.a. sollten solche Materien, die eine bundesgesetzliche Regelung nicht zwingend erfordern, auf die Länder verlagert und so die Landesgesetzgeber gestärkt werden. Dazu zählte auch das Versammlungsrecht.113 Daher wurde es als Teilbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG ersatzlos gestrichen.114 In Ermangelung einer grundgesetzlichen Regelungszuständigkeit des Bundes fällt das Versammlungsrecht seither nach Art. 30, 70 Abs. 1 GG prinzipiell in die alleinige Kompetenz der Länder.
41Den zuvor auf den Titel „Versammlungsrecht“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F. gestützten Regelungen des Bundes wurde so ihre ursprüngliche Kompetenzgrundlage entzogen. Weggefallen sind sie hierdurch jedoch nicht: Nach Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG gilt Recht, das – wie es bei den hier interessierenden Regelungen insbes. des VersG der Fall war – als Bundesrecht erlassen worden ist, aber wegen der Änderung des Art. 74 Abs. 1 GG nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, als Bundesrecht fort. Es kann jedoch gem. Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG durch Landesrecht ersetzt werden.
42Soweit das VersG des Bundes auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F. gestützt war,115 wird es nunmehr von Art. 125a Abs. 1 GG erfasst. Es ist zunächst als Bundesrecht erlassen worden. Seit der Föderalismusreform I wäre das in Ermangelung eines Kompetenztitels nicht mehr möglich. Daher galt es zunächst gem. Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG fort – und zwar im gesamten Bundesgebiet, also in allen Ländern. Mittlerweile haben jedoch etliche Länder durch den Erlass eigener Versammlungsgesetze von der durch Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG eingeräumten Möglichkeit der Ersetzung Gebrauch gemacht.116 Dazu waren sie (und sind die übrigen Länder) ohne bundesgesetzliche „Freigabe“ berechtigt,117 wie der Umkehrschluss aus Art. 125a Abs. 2 S. 2 GG belegt.118 Eine nach Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG zulässige Ersetzung ist freilich mehr als eine – unzulässige – Änderung des Bundesrechts durch den Landesgesetzgeber. Sie verlangt, „dass der Landesgesetzgeber die Materie, gegebenenfalls auch einen abgrenzbaren Teilbereich, in eigener Verantwortung regelt.“119 Dass die Landesregelung inhaltlich von der Bundesregelung abweicht, ist nicht gefordert: Der Landesgesetzgeber ist „nicht gehindert, ein weitgehend mit dem bisherigen Bundesrecht gleich lautendes Landesrecht zu erlassen.“120
43Rechtsfolge einer wirksamen Ersetzung nach Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG ist, dass das ersetzte Bundesrecht im jeweiligen Land nicht mehr gilt. In den übrigen Ländern gilt es hingegen fort, und zwar – wie Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG explizit anordnet – als Bundesrecht.121 Auf diese Weise entsteht partikulares, also nur noch für einzelne Länder geltendes Bundesrecht.122 Das ist derzeit auch das Schicksal des VersG: In den Ländern, die von ihrer Ersetzungsbefugnis noch keinen Gebrauch gemacht haben, gilt es nach wie vor fort – aber eben auch nur noch in diesen. In den Ländern, die von ihrer Ersetzungsbefugnis Gebrauch gemacht haben, lebt das VersG als Bundesgesetz auch bei einer späteren Aufhebung des Landesversammlungsgesetzes durch den Landesgesetzgeber nicht wieder auf. Jedoch stünde es jedem Landesgesetzgeber – wie bereits ausgeführt – frei, ein eigenes oder ein mit dem VersG übereinstimmendes Landes-Versammlungsgesetz zu erlassen, das dann freilich den Rang von Landesrecht hätte.
44Anders sähe die Rechtslage aus, wenn sich das (vermeintlich) ersetzende Landesgesetz als verfassungswidrig und damit als nichtig erweisen sollte.123 Da ein nichtiges Gesetz keine Rechtswirkungen auslöst, kann ein solches Landesversammlungsgesetz das VersG des Bundes nicht ersetzen. Daher würde dieses im Rang eines Bundesgesetzes fortgelten. Entsprechendes gilt, wenn ein Landesgesetzgeber das VersG des Bundes durch einen eigenen Normbefehl aufheben und zusätzlich ein eigenes Versammlungsgesetz erlassen will. Zwar ist er im Rahmen seiner Ersetzungsbefugnis an sich auch zur bloßen Aufhebung des Bundesgesetzes berechtigt.124 Das gilt jedoch nicht, sofern er hierdurch gegen Gesetzgebungspflichten verstößt.125 Letzteres aber wäre der Fall, wenn das Landes-Versammlungsgesetz nichtig sein sollte: Die bloße Aufhebung des VersG ohne den Erlass gültiger eigener Landesregeln zum Versammlungsrecht hat bzw. hätte zur Folge, dass der Landesgesetzgeber u. a.126 seine aus Art. 8 Abs. 1 GG resultierenden Schutzpflichten zugunsten von Versammlungsveranstaltern und -teilnehmern nicht erfüllen würde.127 Insofern schlägt in derartigen Konstellationen die Nichtigkeit des eigenen Versammlungsgesetzes auf das Aufhebungsgesetz durch; es bleibt bei der Geltung des VersG auch im betreffenden Land.
45Zu (bloßen) Änderungen eines nach Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG fortgeltenden Bundesgesetzes sind die Länder hingegen nicht befugt. Die h. M. hält jedoch den Bund für berechtigt, das fortgeltende Bundesrecht zu modifizieren und an geänderte Verhältnisse anzupassen.128 Diese Sichtweise erscheint zumindest nicht zwingend: Zwar trifft es zu, dass die Passage „kann […] ersetzt werden“ in Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG in bewusster Abkehr von der zunächst vorgeschlagenen Formulierung „kann durch Landesrecht aufgehoben und ergänzt werden“ gewählt wurde.129 Wenn aber aus dem offenbar bewussten Fehlen einer Änderungskompetenz der Länder der Schluss gezogen wird, dann müsse diese Änderungskompetenz eben beim Bund liegen,130 ist das mindestens zweifelhaft: Den Ländern stünde es ja frei, von ihrer Ersetzungskompetenz Gebrauch zu machen. Sofern es nur geringfügigen Anpassungsbedarf geben sollte, können sie dies auch unter weitgehender Übernahme des bisherigen Bundesrechts tun. Auch die Tatsache, dass das BVerfG dem Bund in Fällen des Art. 125a Abs. 2 GG eine Änderungskompetenz für fortgeltendes Bundesrecht einräumt, um eine „Versteinerung“ der Rechtslage zu verhindern,131 zwingt nicht zu einer Übertragung auf Art. 125a Abs. 1 GG: Zwar kann das fortgeltende Bundesrecht in beiden Fällen nach dem jeweiligen S. 2 „durch Landesrecht ersetzt“ werden. Im Fall des Art. 125a Abs. 2 GG aber ist diese Ersetzungsbefugnis von einer Freigabe durch ein Bundesgesetz abhängig, derer es im Fall des Art. 125a Abs. 1 GG gerade nicht bedarf. Jedenfalls dort besteht die Gefahr der Petrifizierung also ohnehin nicht. Nur am Rande sei bemerkt, dass sie seit der Einfügung von Art. 93 Abs. 2 GG im Jahr 2006 auch in Fällen des Art. 125a Abs. 2 GG in Wahrheit nicht mehr besteht, was gegen eine Änderungskompetenz des Bundes sogar dort spricht:132 Die Länder können ein Freigabegesetz nach Art. 125a Abs. 2 S. 2 GG, das der Bund nicht freiwillig erlässt, seither durch eine Entscheidung des BVerfG surrogieren lassen.133 Jedenfalls im Bereich des Art. 125a Abs. 1 GG aber wird man richtigerweise keine beim Bund verbleibende Änderungskompetenz annehmen können.134
46Die Gesetzgebungspraxis teilt diese Bedenken offenbar nicht. Der Bund hat das VersG nach Streichung des Kompetenztitels in Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG noch zweimal geändert.135 Bei der ersten Änderung136 hat er sich ausweislich der Entwurfsbegründung gezielt auf die ihm vermeintlich verbleibende Änderungskompetenz gestützt.137
47Gänzlich anders zu beurteilen sind die Straf- und Ordnungswidrigkeitenvorschriften in §§ 21 ff. VersG. Richtigerweise war ihre kompetenzielle Grundlage schon immer das „Strafrecht“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG; auf den Titel „Versammlungsrecht“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F. waren sie nicht gestützt.138 Daher spielt für ihr kompetenzielles Schicksal auch der Wegfall dieses Titels im Rahmen der Föderalismusreform I keine Rolle: Die Regelungszuständigkeit des Bundesgesetzgebers bestand und besteht; er darf die bestehenden Regelungen ändern oder durch gänzlich neue Regelungen ersetzen. Allgemeinen Regeln folgend ist er unter Ausnutzung seiner Strafrechtskompetenz sogar berechtigt, Verstöße gegen Landesrecht zu pönalisieren,139 solange er die Kompetenz der Länder zur sachlichen Ausgestaltung nicht beeinträchtigt.140
48Für das aktuelle BefBezG141 aus dem Jahr 2008 gilt das nur in sehr eingeschränktem Maße, nämlich hinsichtlich der Bußgeldvorschrift des § 4 BefBezG. Insofern verdient die Begründung des Gesetzentwurfs Zustimmung, soweit sie ausführt, die Gesetzgebungskompetenz des Bundes folge aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (Strafrecht).142 Anders verhält es sich mit der Einschätzung, die Gesetzgebungskompetenz folge (im Übrigen) aus der Natur der Sache.143 Eine derartige ungeschriebene Bundeskompetenz ist anerkannt für Sachverhalte, die begriffsnotwendig nur durch den Bundesgesetzgeber geregelt werden können, weil sie der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückt sind.144 Dass die Regelung durch den Bundesgesetzgeber zweckmäßig erscheint, reicht hingegen nicht aus.145 Bejaht wird eine Bundeskompetenz kraft Natur der Sache beispielsweise für die Festlegung des Sitzes der Bundesregierung146 oder für die Festlegung des Nationalfeiertages.147 Das sind Fälle, in denen – würde man eine Regelungskompetenz der Länder annehmen – 16 Länder eigene Regelungen erlassen könnten, obwohl der Sachverhalt im Ergebnis nur einer Regelung zugänglich ist. Hinsichtlich der Festlegung einer Bannmeile für oberste Bundesorgane sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Nachdem der hierzu in der Tat berechtigte Bund den Sitz seiner Organe festgelegt hat, spricht nichts dagegen, dass das Land, auf das die Wahl für ein bestimmtes Bundesorgan gefallen ist, die Bannmeile bzw. den befriedeten Bezirk um den Sitz dieses Organs herum regelt: Berlin wäre (bzw. genauer: ist) demnach für die entsprechenden Regelungen zum Schutz des Bundestags und des Bundesrats zuständig, Baden-Württemberg für die Regelungen zum Schutz des BVerfG.148 Zwar mag es zweckmäßig sein, dass eine solche Regelung durch den Bund erlassen wird. Das aber reicht ja gerade nicht aus. Und inwiefern eine Regelung durch den Bund begriffsnotwendig sein sollte, erschließt sich nicht. Für die Annahme einer Landeskompetenz spricht zudem, dass die Bannkreisregelungen bis zur Föderalismusreform I im Jahre 2006 dem dann gestrichenen Kompetenztitel „Versammlungsrecht“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F. zugeordnet wurden, also der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz.149 Hätte der Bund keine einschlägigen Regelungen erlassen, wären gem. Art. 72 Abs. 1 GG die Länder regelungsbefugt geblieben. Dann aber kann eine Bundesregelung durch den Wegfall der konkurrierenden Kompetenz nicht plötzlich begriffsnotwendig geworden sein.150 Auch der Gedanke, dass Bundestag, Bundesrat und BVerfG eines spezifischen Schutzes durch Bannkreisregelungen bedürfen, spricht – sofern er überhaupt richtig sein sollte –151 nicht gegen die hier vertretene Position. Zwar obliegt es generell der politischen Einschätzung des jeweiligen Landesgesetzgebers, ob er von den ihm zukommenden Kompetenzen Gebrauch macht. In der hier in Rede stehenden Konstellation aber können die Landesgesetzgeber aus dem Grundsatz der Bundestreue (also der Pflicht zum bundesfreundlichen Verhalten) heraus152 zum Erlass einschlägiger Regelungen verpflichtet sein, soweit diese erforderlich sind, um die Funktionsfähigkeit der betreffenden Organe zu gewährleisten.