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1. TeilVerfassungsrechtliche Grundlagen A.Die Geschichte der Versammlungsfreiheit

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1Versammlungen lassen sich aus rechtlicher Perspektive in sehr unterschiedlicher Art und Weise einordnen und bewerten. Die beiden Extrempositionen sind einerseits die Betrachtung als Instrument bürgerschaftlichen Engagements zur Durchsetzung bestimmter Ziele, andererseits die Bewertung als Gefahr für Rechtsgüter wie Eigentum, Leib und Leben oder für bestehende politische Ordnungen. Während heute die erste Sichtweise mindestens prominent vertreten ist, wenn sie nicht klar dominiert, waren die ersten rechtlichen Regelungen des Themas Versammlungen jedenfalls im heutigen Deutschland noch durch den zweiten Standpunkt geprägt. Versammlungen waren nicht positiv gestattet, sondern allenfalls Gegenstand von Verboten.1

2In der Antike und im Mittelalter war ein spezifisches Versammlungsrecht als solches noch unbekannt.2 Als eigenständiges Recht entwickelte sich die Versammlungsfreiheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insbesondere in England und Nordamerika.3 Die Möglichkeit, mit anderen zusammenzukommen, um Meinungen zu bilden, auszutauschen und kundzutun, stand dort im Kontext konstitutionell-demokratischen Gedankenguts, im Übrigen aber auch mit der Freiheit der Meinungsäußerung.4 Ein aus heutiger Sicht vielleicht ein wenig überraschender Zusammenhang bestand mit dem Petitionsrecht,5 das ebenfalls den Zugang zu Herrschaftsträgern6 und die Möglichkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung garantieren sollte.7

3In Nordamerika kam es zu ersten schriftlichen Verbürgungen der Versammlungsfreiheit. Abgesehen von älteren Garantien in Verfassungen der Einzelstaaten ist die Versammlungsfreiheit seit 1791 im 1. Zusatzartikel der US-Bundesverfassung enthalten.8 In Frankreich war sie noch früher geregelt worden. Zwar führte die am 26.8.1789 verkündete Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, das Recht auf Versammlung noch nicht auf.9 Jedoch gewährte wenige Monate später das Gesetz v. 17.12.1789 in seinem Art. 62 das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln.10 Den Rang von Verfassungsrecht bekam die Versammlungsfreiheit erst in der Verfassung v. 3.9.1791.11

4Dass Versammlungen 1789 während der Französischen Revolution eine bedeutende Rolle beim Sturz des Regimes gespielt hatten, wird zu Recht als Grund für die restriktive staatliche Haltung in Deutschland gegenüber gemeinschaftlicher politischer Aktivität in der Folgezeit eingeordnet, die im Preußischen ALR 1794 ebenso Ausdruck12 fand wie z. B. in den Karlsbader Beschlüssen 1819 und der Demagogenverfolgung oder in den Reaktionen auf das Hambacher Fest 1832.13 Rückblickend betrachtet war diese Phase jedenfalls aus heutiger Sicht14 zwar ein deutlicher Rückschritt. Er vermochte die Entwicklung hin zu einem freiheitlichen Rechtsstaat aber nicht dauerhaft aufzuhalten. Das gilt generell, aber auch speziell für die Versammlungsfreiheit. Sie wurde zunächst in einzelnen Staaten verbürgt.15 1848 wurde die Versammlungsfreiheit in den „Katalog der Grundrechte des deutschen Volkes“ aufgenommen, den die Frankfurter Nationalversammlung als „Gesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volks“ v. 27.12.1848 für kurze Zeit16 zu geltendem Recht machte. Das Gesetz – und damit auch die Versammlungsfreiheit – fand Eingang in die Paulskirchenverfassung von 1849.17 Diese trat zwar nie in Kraft. Gleichwohl lässt sich angesichts ihrer generell anerkannten Prägewirkung im Allgemeinen18 und der Ähnlichkeit ihres § 16119 mit Art. 8 GG im Besonderen mit Blick auf die Versammlungsfreiheit durchaus schon von einer mittlerweile gut 170-jährigen Verfassungstradition sprechen.20 Zunächst dominierten freilich einmal mehr restriktive Regelungen, deren Augenmerk stärker auf der Beschränkung von Versammlungen denn auf ihrer Ermöglichung lag.21

5Unter Geltung der RV 1871 – die keine Grundrechte enthielt – setzte sich die Versammlungsfreiheit auf einfach-gesetzlicher Ebene durch.22 Inhalt geltenden Verfassungsrechts wurde die Versammlungsfreiheit mit dem Inkrafttreten der WRV. Im Vergleich mit Art. 8 GG (und mit § 161 RV 1849) fehlte in Art. 123 Abs. 1 WRV freilich die Einschränkung auf friedliches und waffenloses Verhalten; Art. 123 Abs. 2 WRV sah ausdrücklich die Möglichkeit vor, Versammlungen unter freiem Himmel durch Reichsgesetz anmeldepflichtig zu machen.23 Art. 123 WRV gehörte zu den Grundrechten, die durch § 1 der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“,24 die sog. „Reichstagsbrandverordnung“ außer Kraft gesetzt wurden. Während der NS-Zeit waren – ebenso wie später in der DDR – jedenfalls politische Versammlungen keine auf freier und rechtlich geschützter Entscheidung des Einzelnen beruhenden Angelegenheiten mehr, sondern staatlich initiierte und gelenkte Veranstaltungen. Umso bemerkenswerter war es, dass sich die Menschen in der DDR 1989 die ihnen vorenthaltene Versammlungsfreiheit25 selbst verschafften und durch ihre Massendemonstrationen den Sturz des SED-Regimes herbeiführten.26

6Nach dem Ende der NS-Diktatur wurde die Versammlungsfreiheit zunächst in mehreren vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen erneut verbürgt.27 Gegenstand der Beratungen zu diesem Grundrecht bei der Entstehung des GG waren dann insbesondere die personelle Reichweite, also die Frage, ob ein Deutschengrundrecht oder ein Menschenrecht geschaffen werden solle, sowie die genaue Fassung des Absatzes zu den Beschränkungsmöglichkeiten.28 Grundlegende Kontroversen zur Versammlungsfreiheit aber gab es nicht.29

7Der Text des Art. 8 GG und der Inhalt der dort verbürgten Versammlungsfreiheit sind seit Inkrafttreten des GG nicht verändert worden. Dass das BVerfG den Inhalt des Grundrechts in mehreren Leitentscheidungen genauer konturieren30 und insbesondere gegenüber staatlichen Beschränkungsversuchen verteidigen musste,31 ist keine Besonderheit der Versammlungsfreiheit. Geändert haben sich im Laufe der Zeit lediglich die jeweils „typischen“ Versammlungen, die das Versammlungsgeschehen in besonderer Weise prägten und prägen: Zentrale und zum Teil Epochen prägende politische Debatten wurden und werden typischerweise ebenso von einem regen Versammlungsgeschehen begleitet wie kontrovers beurteilte singuläre Ereignisse.32 Beispielhaft lassen sich die Kontroversen um die Wiederbewaffnung, um die Notstandsverfassung, um die Energiegewinnung durch Kernkraft oder Kohleverstromung, um die Absicherung für Arbeitslose, um die Kruzifix-Entscheidung des BVerfG, um internationale Konferenzen wie etwa den G20-Gipfel, um die Realisierung einzelner Infrastrukturprojekte oder jüngst um die Bewältigung der Corona-Epidemie nennen.33 Neben den größeren und insbesondere medial stark beachteten Versammlungen gibt es eine kaum bezifferbare Zahl von kleineren Demonstrationen.

8Die Bandbreite der Modalitäten dieser Versammlungen – der kleinen, wenig beachteten ebenso wie der großen, die auf erhebliche Resonanz stoßen – ist groß. Häufig finden Versammlungen einmalig statt und dauern allenfalls einige Stunden. In anderen Fällen (Stuttgart 21, Pegida) werden sie – in allenfalls leicht modifizierter Form – teils mehrere hundert Male und jahrelang wiederholt. Andere Versammlungen (wie die Zeltlager der Occupy-Bewegung) sind von vornherein auf längere Dauer angelegt. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Versammlungen ein alltägliches Mittel der Meinungsbildung und -kundgabe sind. Speziell in ihrer Erscheinungsform als politische Demonstration werden sie – das liegt in der Natur der Sache – gerade von denjenigen zur Artikulation ihrer Anliegen benutzt, die mit bestimmten Verhältnissen, Entscheidungen und Maßnahmen unzufrieden sind: Die Versammlungsfreiheit schützt auch und gerade andersdenkende Minderheiten.34 Sie steht aber in gleicher Weise denjenigen zu, die sich gegen Haltungen wenden wollen, die auf anderen Versammlungen – mögen sich dort auch Minderheiten treffen – zum Ausdruck gebracht werden. Insbesondere in Fällen, in denen auf Versammlungen (tatsächlich oder vermeintlich) rechte oder – was nicht immer unterschieden wird – rechtsextreme Positionen vertreten werden, kommt es regelmäßig zu Protestversammlungen bzw. Gegendemonstrationen.

9Die Versammlungsfreiheit wird also faktisch sowohl als Instrument (des Versuchs) der Einflussnahme auf den Staat als auch als Mittel des Diskurses innerhalb der Gesellschaft genutzt. Insofern hat sie eine doppelte Funktion: Da der Einzelne seine Freiheit, sich zu versammeln, notwendigerweise mit anderen gemeinsam in Anspruch nehmen muss, gehört die Versammlungsfreiheit wie die in Art. 5 GG verbürgten Grundrechte der Meinungs- und Informationsfreiheit, der Medienfreiheiten sowie der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, die in Art. 4 GG garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit, das in Art. 10 GG statuierte Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie das in Art. 17 GG verbürgte Petitionsrecht zu den sog. Kommunikationsgrundrechten,35 deren übergreifendes Schutzgut der geistige Austausch mit anderen als elementarer Bestandteil der menschlichen Persönlichkeitsentfaltung ist.36 Weil sich die Versammlungsfreiheit gerade im politischen Prozess praktisch auswirkt,37 in dem sie als „Demonstrationsfreiheit“ in Anspruch genommen wird, erfüllt sie zugleich eine wichtige Funktion für die Demokratie: Zusammen mit den anderen Kommunikationsgrundrechten ermöglicht sie die auch jenseits von Wahlen zulässige und für die kontinuierliche Rückkopplung der Staatsgewalt an den Volkswillen unentbehrliche Bildung und Artikulation der öffentlichen Meinung: Sie gestattet speziell (aber nicht nur) den Unzufriedenen, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen. Damit dient das Versammlungsgeschehen zugleich als eine Art Seismograph, durch den staatliche Entscheidungsträger auf die fehlende Akzeptanz ihrer Entscheidungen hingewiesen werden können.38 Dass dieser Mechanismus funktioniert, zeigen in jüngster Vergangenheit diverse Demonstration gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des SARS-CoV-2-Virus. Insofern spielt es keine Rolle, ob bzw. inwiefern die Position der Teilnehmer von einem rationalen Standpunkt aus nachvollziehbar ist, ob die Demonstranten in der Fachwelt mehr oder weniger unbestrittene Erkenntnisse ausblenden oder ob sie auf Überzeugungen und Theorien fußen, die anderen als abenteuerlich erscheinen. Eine große und womöglich wachsende Zahl von unzufriedenen Bürgern muss ein Warnsignal für politische Entscheidungsträger sein. In welcher Weise darauf reagiert wird, ob also z. B. Entscheidungen revidiert werden, ob die bereits getroffenen Entscheidungen (stärker) beworben und erklärt werden oder ob die Unzufriedenen als vermeintlich irrelevante Minderheit ignoriert werden, ist eine andere Frage, die nur politisch beantwortet werden kann.

10Grundlegend geändert haben sich die verfassungsrechtlichen Determinanten des Versammlungswesens im Jahre 2006 durch die Streichung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Regelungsbefugt sind seither die Länder. Insbesondere sind sie berechtigt, das VersG des Bundes durch eigene landesspezifische Regelungen zu ersetzen.39

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