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2.Der sachliche Schutzbereich
Оглавление56a) Der Gegenstand des Schutzes. Art. 8 Abs. 1 GG schützt das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dass dies „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ geschehen darf, ist keine Frage des Schutzbereichs, sondern betrifft die sog. Schranken-Schranken (Eingriffskautelen) des Grundrechts.177
57aa) Sich versammeln. Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, sich zu versammeln. Dafür müssen jedenfalls mehrere Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenkommen, die eine innere Verbindung aufweisen. Die Details sind freilich umstritten.
58Uneinigkeit besteht schon mit Blick auf die Frage, welche Teilnehmerzahl für eine Versammlung mindestens erforderlich ist, um den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG auszulösen. Konsens gibt es lediglich darüber, dass eine einzelne Person nicht ausreicht: Die Ein-Mann-Demonstration ist eine Form der Meinungskundgabe und als solche insbesondere von Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 GG geschützt. Sie fällt aber schon wegen des Wortlauts („sich … versammeln“) nicht unter Art. 8 Abs. 1 GG.178 Die überwiegende Meinung in der Literatur lässt zwei Personen genügen.179 Dass das BVerfG von Zusammenkünften „mehrerer Personen“ spricht,180 soll eher auf mindestens drei Personen hindeuten.181 Gegen beide Sichtweisen wird vorgebracht, das Beisammensein von zwei oder drei Menschen lasse sich kaum dem Typusbegriff der Versammlung zuordnen.182 Bei Forderungen nach konkret bezifferten höheren Teilnehmerzahlen müsste die Herleitung aus Art. 8 Abs. 1 GG unklar bleiben. Der Zweck des Art. 8 Abs. 1 GG, die gemeinschaftliche Entfaltung zu schützen, spricht entscheidend dagegen, mehr als insgesamt zwei Versammlungsteilnehmer zu verlangen. Dagegen lässt sich nicht anführen, dass Normen des einfachen Versammlungsrechts erkennbar erst auf größere Gruppen ausgelegt. Es wäre in der Tat „lebensfremd und nicht frei von komischen Aspekten“, für ein Zwiegespräch die Bestellung eines Versammlungsleiters zu fordern.183 Die Überlegung, diese Rechtsfolge vermeiden zu wollen, ist aber kein hinreichender Grund dafür, den beiden einzigen Teilnehmern einer Demonstration den Grundrechtsschutz gegen den Staat zu versagen, dessen sie womöglich in besonderer Weise bedürfen: Auch auf diese Weise würde der einfache Gesetzgeber mittelbar die Reichweite des Grundrechtsschutzes beeinflussen, was Art. 1 Abs. 3 GG nicht zulässt. Die Lösung muss in der Auslegung des einfachen Rechts liegen: Der dargestellte Einwand ist bereits ausgeräumt, wenn man dem Zwiegespräch den Charakter als öffentliche Versammlung abspricht, weil nur für diese ein Leiter bestellt werden muss. Im Übrigen muss der Begriff der Versammlung im GG einerseits und im einfachen Recht andererseits nicht deckungsgleich sein:184 Wenn einfach-rechtliche Vorschriften für eine Versammlung mindestens drei Teilnehmer verlangen,185 schließt das die Einstufung kleinerer Zusammenkünfte als Versammlungen i. S. v. Art. 8 GG nicht aus. Erst recht kann der Wunsch, im einfachen Versammlungsrecht vorgesehene Rechtsfolgen für kleinere Zusammenkünfte zu vermeiden, nicht zu einer Mindestgröße für Versammlungen im grundrechtlichen Sinne führen, die verfassungsrechtlich keine Grundlage hat. Alles in allem reichen also zwei Personen für eine Versammlung jedenfalls i. S. v. Art. 8 Abs. 1 GG aus.186
59Die Teilnehmer der Versammlung müssen eine innere Verbindung aufweisen. Damit unterscheidet sich die Versammlung von der bloßen Ansammlung, deren „Teilnehmer“ keine derartige Verbindung aufweisen und die nicht den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG auslöst:187 Personen, die sich nur ansammeln, sind an den anderen nicht interessiert. So verhält es sich beispielsweise bei Schaulustigen nach einem Verkehrsunfall:188 Der einzelne „Gaffer“ ist nicht an den anderen Neugierigen interessiert, sondern allein an den verunfallten Fahrzeugen und Personen.189 Daran wird sich bei einem Unfall typischerweise auch nichts ändern. Jedenfalls in anderen Fällen ist es aber vorstellbar, dass sich die zunächst nicht vorhandene innere Verbindung nachträglich einstellt, so dass die Ansammlung zur Versammlung wird und sich damit in den sachlichen Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG „hineinentwickelt“.
60Umstritten ist jedoch, worin genau die für eine Versammlung erforderliche innere Verbindung bestehen muss. Je mehr man insofern verlangt, desto enger definiert man den Begriff der Versammlung – und umgekehrt. Die Vertreter des sog. engen Versammlungsbegriffs fordern eine auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ausgerichtete Zusammenkunft;190 der gemeinsame Zweck muss danach die Meinungsbildung und -äußerung gerade in öffentlichen Angelegenheiten sein.191 Eine mittlere Position – die zum sog. erweiterten Versammlungsbegriff führt – verlangt als Zweck der Zusammenkunft ebenfalls die gemeinsame Meinungsäußerung oder -bildung. Deren Gegenstand sollen jedoch beliebige, also neben öffentlichen auch private Angelegenheiten sein dürfen.192 Dagegen fordern die Vertreter des sog. weiten Versammlungsbegriffs lediglich irgendeinen gemeinsamen Zweck.193
61Auf dieser weiten Linie lag auch die frühere Rechtsprechung des BVerfG, das in der Brokdorf-Entscheidung noch jeden kommunikativen Zweck hatte genügen lassen.194 In seiner jüngeren Rechtsprechung neigt das Gericht eher der engen Sichtweise zu: Es reiche gerade nicht, dass die Teilnehmer bei ihrer gemeinschaftlichen kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden seien. Vielmehr müsse die Zusammenkunft auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sein: Versammlungen i. S. d. Art. 8 Abs. 1 GG seien örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.195
62Diese restriktive Linie überzeugt nicht.196 Weder der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 GG197 noch seine Entstehungsgeschichte enthalten Anhaltspunkte für eine Beschränkung auf bestimmte Zwecke.198 Richtigerweise schützt die Versammlungsfreiheit als Kommunikationsgrundrecht den Einzelnen auch vor Isolation und Vereinzelung.199 Damit wird ihre Relevanz für die Mitwirkung am demokratischen Diskurs nicht in Abrede gestellt. Aber die politische Demonstration ist eben nur ein – wenn auch besonders wichtiger – Unterfall des von Verfassungs wegen deutlich weiter angelegten Begriffs der Versammlung.200 Dass damit sogar die gemeinsame Einnahme einer Mahlzeit durch zwei Personen unter Art. 8 Abs. 1 GG fallen kann, spricht nicht gegen die hier vertretene Lösung.201 Zwar dürfte es selten vorkommen, dass der Staat eine solche Zusammenkunft einzuschränken oder zu verhindern sucht. Gerade in Ausnahmesituationen, in denen das doch einmal der Fall sein sollte, bedarf der Betroffene aber des Schutzes vor Isolation.
63Als Versammlungen durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützt sein können auf Grund der vorstehend skizzierten Maßstäbe auch die Zuschauer z. B. eines Konzerts oder einer Sportveranstaltung.202 Voraussetzung ist freilich, dass sie einen gemeinsamen Zweck verfolgen, der über die bloße Betrachtung des Dargebotenen hinausgehen muss. Das Ziel, die eigene Mannschaft gemeinsam anzufeuern, reicht dafür richtigerweise aus. Den Zuschauern im Theater dürfte es typischerweise gerade darum gehen, jeweils für sich die Vorstellung zu verfolgen. Das wird regelmäßig auch für das Publikum eines Konzerts gelten, sofern es nicht in die besondere Zielsetzung eines Konzerts eingebunden ist. Richtigerweise wird daher sogar politisch relevanten Vorträgen die Versammlungsqualität abgesprochen, sofern die Rolle der Zuhörer auf die der passiven Rezipienten beschränkt ist.203
64Die Frage nach der Versammlungsqualität kommerzieller und auf Unterhaltung ausgerichteter Veranstaltungen ist vom hier vertretenen Standpunkt eines weiten Versammlungsbegriffs aus in einer größeren Zahl von Fällen zu bejahen als von der Position derer aus, die die Meinungsbildung und -äußerung für unentbehrlich halten. Von der Position des BVerfG aus war es etwa konsequent, u. a. der „Love Parade“ den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG zu versagen.204 Richtigerweise muss man insofern freilich darauf abstellen, ob es den Teilnehmern allein um das jeweils eigene Tanzvergnügen geht oder um das gemeinschaftliche Erlebnis gemeinsam mit anderen – wofür gerade im Fall der „Love Parade“ einiges spricht.205 Dass die Einstufung als Versammlung im Sinne des Verfassungsrechts nicht zur Vermeidung unerwünschter Konsequenzen – zumal solcher, die sich aus dem einfachen Gesetzesrecht ergeben – versagt werden darf,206 sollte sich ohnehin von selbst verstehen.
65Die innere Verbindung erfordert nach keinem der Versammlungsbegriffe eine uniforme oder auch nur ähnliche Einstellung der Teilnehmer zu den Zielen der Versammlung oder den behandelten Themen. Auf den Schutz des Grundrechts kann sich nicht nur berufen, wer die auf der Versammlung ggf. mehrheitlich vertretenen Positionen teilt. Auch wer teilnimmt, um die Mehrheitsposition zu kritisieren oder abzulehnen, bewegt sich im sachlichen Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, solange er ungeachtet seines Protests bereit ist, die Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen. Denjenigen hingegen, der eine Versammlung in der Absicht aufsucht, sie durch seine Einwirkung zu verhindern, schützt Art. 8 Abs. 1 GG nicht.207 Das BVerfG betont diese tatbestandliche Begrenzung auch und gerade für Fälle, in denen mehrere Personen gemeinsam mit dem Ziel antreten, eine Versammlung zu verhindern: „Der Umstand, daß mehrere Personen zusammenwirken, bringt diese nicht in den Genuß der Versammlungsfreiheit, wenn der Zweck ihres Zusammenwirkens nur in der Unterbindung einer Versammlung besteht.“208 Von praktischer Bedeutung kann das insbesondere für die rechtliche Bewertung von Gegendemonstrationen aus Anlass einer anderen Demonstration werden: Die Gegendemonstranten, die legitimerweise ihre Ablehnung der dort vertretenen Positionen zum Ausdruck bringen wollen, können sich auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Bei Gegendemonstranten, deren Ziel allein die Verhinderung der Anlassversammlung ist, ist das nicht der Fall – mit der Folge, dass gegen sie gerichtete Maßnahmen keiner Rechtfertigung am Maßstab des Art. 8 Abs. 1 GG bedürfen. Aufrufe dazu, bestimmte Versammlungen „zu verhindern“, „unmöglich zu machen“ o. ä. können also ein Indiz dafür sein, dass die Gegenveranstaltung gerade nicht unter Art. 8 Abs. 1 GG fällt. Das schließt zwar nicht aus, dass den Teilnehmern der Gegenveranstaltung aus anderen Gründen der Schutz der Versammlungsfreiheit zukommt, etwa weil es auch um die Artikulation von Kritik geht. Soweit die Teilnehmer aber dem Verhinderungsaufruf Folge zu leisten suchen, ist dieses Verhalten nicht geeignet, den Grundrechtsschutz zu begründen.
66Die erforderliche innere Verbindung fehlt sog. Mietdemonstranten, die gegen Entgelt an einer Demonstration teilnehmen. Zwar gerieren sie sich als Demonstranten, die ein bestimmtes (meist wohl: politisches) Anliegen verfolgen. Tatsächlich aber besteht diese innere Verbindung in Wahrheit gerade nicht. Sofern sie das vermeintliche Anliegen nicht doch teilen, demonstriert jeder einzelne von ihnen, um gerade seine eigene vertragliche Verpflichtung zu erfüllen. Den bezahlten Teilnehmern kommt – unabhängig davon, welchen Versammlungsbegriff man zugrundelegt –209 daher der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG nicht zu.210
67Eine Versammlung im Sinne des Grundrechts setzt die körperliche Anwesenheit mehrerer Personen zur gleichen Zeit am gleichen Ort voraus. Die sukzessive Anwesenheit jeweils nur einer einzelnen Person (z. B. bei einer Mahnwache, bei der sich die Beteiligten abwechseln), reicht dafür nicht aus. Auch eine „virtuelle Versammlung“ z. B. in sozialen Medien oder an anderer Stelle im Internet stellt keine Versammlung gem. Art. 8 Abs. 1 GG dar.211 Zwar ist die Persönlichkeitsentfaltung über den Austausch mit anderen auch hier möglich. Art. 8 Abs. 1 GG schützt diese jedoch gerade in ihrer durch die persönliche Präsenz der Beteiligten ermöglichten Form.212 Die körperliche Anwesenheit ist daher unverzichtbar.213
68Dass auf einer Versammlung geredet, diskutiert und ggf. auch gestritten wird, ist eine mögliche Form der Gestaltung. Für den grundrechtlichen Schutz als Versammlung kommt es darauf nicht an: Art. 8 Abs. 1 GG schützt „vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen.“214 Dass diese auf Außenwirkung gerichtet sein dürfen, liegt im Charakter des Kommunikationsgrundrechts begründet.215 Relevant ist das u. a. für Sitzblockaden: Ob sie den Schutz der Versammlungsfreiheit genießen, ist kein Problem des – zu bejahenden – Merkmals „sich […] versammeln“,216 sondern der Friedlichkeit.217 Auch die Schaffung und Nutzung von Infrastruktur wie z. B. von Zeltlagern etc. kann den Schutz des Grundrechts genießen.218
69Auch Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Arten von Versammlungen, die sich aus Regelungen der Verfassung oder des einfachen Rechts ergeben, spielen für den tatbestandlichen Schutz durch das Grundrecht keine Rolle.
70Das betrifft zunächst die Unterscheidung zwischen Versammlungen unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen. Für den Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG ist sie irrelevant. Die in Art. 8 Abs. 2 GG angelegte Differenzierung, die das VersG durch getrennte Regelungen für Versammlungen in geschlossenen Räumen (§§ 5 ff. VersG) einerseits und für Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge (§§ 14 ff. VersG) anderseits aufgreift, wirkt sich allein auf mögliche Einschränkungen aus: Art. 8 Abs. 2 GG stellt nur Versammlungen unter freiem Himmel unter Gesetzesvorbehalt.219 Der tatbestandliche Schutz des Grundrechts aber erstreckt sich auf beide Arten von Versammlungen.
71Auch dass das VersG zwischen Versammlungen und Aufzügen differenziert,220 ist mit Blick auf den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit inhaltlich irrelevant – und terminologisch sogar missverständlich: Ein Aufzug i. S. d. VersG ist eine sich fortbewegende Versammlung, also lediglich ein besonderer Fall einer Versammlung.221 Grundrechtlich werden seine Teilnehmer ebenso durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützt wie die Teilnehmer einer ortsfesten Versammlung. Daher ist auch die Demonstration als Unterfall der Versammlung in den Schutz der Versammlungsfreiheit einbezogen.222
72Entsprechendes gilt für die Differenzierung zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen Versammlungen, die sich daraus ergibt, dass das VersG überwiegend auf öffentliche Versammlungen anwendbar ist.223 Art. 8 Abs. 1 GG erfasst beide Formen.224
73Zu den Versammlungsmodalitäten, deren Festlegung das Grundrecht tatbestandlich schützt, gehören der Ort und die Zeit der Versammlung.225 Dass Dritte durch die Versammlung behindert oder belästigt werden, mag im Einzelfall Auflagen und im Extremfall sogar ein Verbot bzw. die Auflösung einer Versammlung rechtfertigen. Dabei handelt es sich jedoch stets um (rechtfertigungsbedürftige) Eingriffe. Dass die Versammlung die Interessen und ggf. auch die Rechte Unbeteiligter tangiert, lässt den tatbestandlichen Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG unberührt.226 Entsprechendes gilt für die Möglichkeit von Auflagen und Verboten an bestimmten Orten gem. § 15 Abs. 2 VersG, die ebenfalls rechtfertigungsbedürftige Eingriffe darstellen.
74Eine tatbestandliche Grenze zieht das BVerfG freilich für Orte, an denen kein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist. Die Durchführung von Versammlungen etwa in Verwaltungsgebäuden oder in eingefriedeten, der Allgemeinheit nicht geöffneten Anlagen sei durch Art. 8 Abs. 1 GG ebenso wenig geschützt wie etwa in einem öffentlichen Schwimmbad oder Krankenhaus. In einem Flughafen stellt die Versagung einer Versammlung, um die es im konkreten Fall ging, nach dieser Konzeption keinen Eingriff dar, wenn die Versammlung im Sicherheitsbereich erfolgen sollte, wohl aber, wenn sie für einen der Allgemeinheit zugänglichen Bereich in einer Abfertigungshalle vorgesehen war.227 Diese Sichtweise überzeugt jedoch nicht. Richtigerweise erstreckt sich der grundrechtliche Schutz der freien Wahl des Ortes auch auf derartige, der Allgemeinheit nicht oder nur zu bestimmten Zwecken zugängliche Bereiche. Ungeachtet dessen kann der Befund, dass die Versammlungsfreiheit kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten verschafft, dass sie insbesondere dem Bürger keinen Zutritt zu Orten verleiht, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird,228 im Ergebnis richtig sein. Die Versagung des Wunsches stellt einen Eingriff dar – dessen Rechtfertigung zumindest in etlichen Fällen gelingen wird. Das kommunikative Anliegen, das im Sicherheitsbereich eines Flughafens vorgebracht werden soll, wird sich jedenfalls in einer Vielzahl von Fällen in den der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Bereichen des Flughafens ähnlich wirksam vertreten lassen, so dass der anders lautende Ortswunsch im Rahmen der Abwägung mit den kollidierenden Funktions- und Sicherheitsinteressen zurücktreten muss.229 Dass ein Verbot im Lichte des Art. 8 Abs. 1 GG rechtmäßig ist, ergibt sich aber nicht schon aus der fehlenden Einschlägigkeit des Schutzbereichs: Das Grundrecht schützt auch den Wunsch, sich an nicht allgemein zugänglich Orten zu versammeln. Das gilt jedenfalls, soweit es um Orte geht, die staatlicher Verfügung unterliegen. Die Frage nach der Relevanz des Art. 8 Abs. 1 GG für den Wunsch nach einer Versammlung auf privatem Grund bedarf als Aspekt grundrechtlicher Drittwirkung separater Betrachtung.230
75In zeitlicher Hinsicht sieht Art. 8 Abs. 1 GG weder eine Mindest- noch eine Höchstdauer für Versammlungen vor. Die Dauer ist daher unerheblich.231 In Ermangelung einer bestimmten Untergrenze kann schon eine wenige Sekunden dauernde Zusammenkunft eine Versammlung darstellen.232 Umgekehrt gibt es auch keine zeitliche Obergrenze, von der an der Schutz der Versammlungsfreiheit enden würde. Permanent wiederholte Zusammenkünfte wie die „Pegida“-Demonstrationen in Dresden oder die Proteste gegen den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof verlieren diesen Schutz auch nach Jahren der wöchentlichen Durchführung nicht. Entsprechendes gilt für Dauerversammlungen in Form z. B. von Mahnwachen oder mehrwöchigen Zeltlagern, wie sie etwa die „Occupy“-Bewegung u. a. in Frankfurt am Main seit dem Herbst 2011 veranstaltet hatte. Zwar ist denkbar, dass das Gewicht, das einem identischen kommunikativen Anliegen im Rahmen der Abwägung mit Gegenrechten zukommt, nach einer größeren Zahl von Wiederholungen oder nach längerer Zeit geringer wird, so dass Einschränkungen oder gar Verbote leichter möglich werden. Grundrechtlich ist das aber erst eine Frage der Eingriffsrechtfertigung, nicht schon des Schutzbereichs: Die Entscheidung, ob, wie häufig, wie lange (noch) und an welchem Ort Versammlungen stattfinden sollen, bleibt dauerhaft von Art. 8 Abs. 1 GG geschützt. Jedoch kann die von Anfang an oder ab einem bestimmten Zeitpunkt intendierte Dauerhaftigkeit darauf hindeuten, dass die Zusammenkunft den Charakter einer Vereinigung annimmt, so dass gegen sie gerichtete Maßnahmen an Art. 9 Abs. 1 GG zu messen sind.233 Voraussetzung dafür ist freilich, dass u. a. die von der Vereinigungsfreiheit geforderte organisierte Willensbildung vorliegt,234 wofür die beabsichtigte Dauer allein nicht ausreicht.
76Zeitlich wirkt sich der Schutz der Versammlungsfreiheit nicht nur während der laufenden Versammlung aus. Das Grundrecht schützt neben der Teilnahme an einer Versammlung die Veranstaltung und Leitung einer solchen inkl. der Vorbereitung, Bewerbung, Organisation und ggf. der Nachbereitung. Mit Blick auf die Teilnehmer wird auch die An- und Abreise geschützt.235 Daher kann Art. 8 Abs. 1 GG je nach Lage der Dinge schon deutlich vor Versammlungsbeginn einschlägig sein und erst eine gewisse Zeit nach Versammlungsschluss enden. Sein Schutz erfasst jeweils versammlungsspezifische Verhaltensweisen.236 Eine aus anderem Anlass angeordnete Telefonüberwachung, deren Zielperson auch an der Versammlung teilzunehmen gedenkt, wird allein an Art. 10 GG zu messen sein. Wird hingegen gerade wegen einer bevorstehenden Versammlung der Anschluss ihres Veranstalters, von dem aus die Versammlung maßgeblich organisiert wird, gerade wegen dieser seiner Tätigkeit abgehört, ist zusätzlich Art. 8 Abs. 1 GG einschlägig. Nicht jede Verkehrskontrolle, in die einzelne Versammlungsteilnehmer geraten, greift in Art. 8 Abs. 1 GG ein, wohl aber die gezielt den Zustrom behindernde allgemeine Verkehrskontrolle auf der einzigen Zufahrtsstraße zu einer Großdemonstration.237
77Umstritten ist, ob (ein Mindestmaß an) Organisation für die Annahme einer Versammlung i. S. v. Art. 8 Abs. 1 GG zu fordern ist.238
78bb) Friedlich und ohne Waffen. Art. 8 Abs. 1 GG schützt nur das Recht, sich friedlich und waffenlos zu versammeln. Das Verhalten desjenigen, der sich unfriedlich oder mit einer Waffe versammelt, wird schon vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nicht erfasst;239 gegen ihn gerichtete staatliche Maßnahmen müssen nicht am Maßstab des Art. 8 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden. Mehr noch: Dass eine Versammlung friedlich und waffenlos ist, ist nicht nur für ihren Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG konstitutiv. Der damit einhergehende Ausschluss unfriedlicher und bewaffneter Versammlungen stellt eine negative Schutzbereichsaussage dar, deren Wirkung sich auch auf andere Grundrechte erstreckt. Die Unfriedlichkeit oder die fehlende Waffenlosigkeit einer Versammlung schließt diese nicht nur vom Schutz der Versammlungsfreiheit aus, sondern vom Grundrechtsschutz insgesamt.240 Bedeutsam ist das insbesondere für das Verhältnis zur allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, die unfriedliche bzw. bewaffnete Versammlungen trotz ihrer prinzipiellen Funktion als subsidiäres Auffanggrundrecht im Bereich der Freiheitsgrundrechte richtigerweise nicht schützt.241