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4.Die Rechtfertigung von Eingriffen

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109Dass eine staatlich verantwortete Maßnahme in den Schutzbereich eingreift, ist – allgemeinen Regeln der Grundrechtsdogmatik folgend – kein Indiz und erst recht kein Beleg für ihre Rechtswidrigkeit. Dass staatliche Maßnahmen in der politischen Diskussion gelegentlich unter Hinweis gerade auf ihre Eingriffsqualität kritisiert werden, ändert daran nichts. Der Staat greift täglich millionenfach in Grundrechte ein. Auch die Versammlungsfreiheit bleibt davon nicht verschont. Gleichwohl können die betreffenden Maßnahmen rechtmäßig sein. Dafür muss der Staat in der Lage sein, sie zu rechtfertigen: Der jeweilige Eingriff muss sich auf eine Schranke des Grundrechts stützen können. Und er muss die Eingriffskautelen, die sog. Schranken-Schranken, beachten.

110a) Die Schranken der Versammlungsfreiheit. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann die Versammlungsfreiheit für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Dabei handelt es sich um einen einfachen Gesetzesvorbehalt.312 Die Inanspruchnahme dieser Beschränkungsmöglichkeit ist nicht an spezielle Voraussetzungen geknüpft. Lediglich – aber immerhin – die für jeden Grundrechtseingriff geltenden Kautelen, die sog. Schranken-Schranken, sind einzuhalten. Da Art. 8 Abs. 2 GG ausdrücklich nur für Versammlungen unter freiem Himmel gilt,313 betrifft die Schranke nur einen Teil des Schutzbereichs, der sowohl Versammlungen unter freiem Himmel als auch solche in geschlossenen Räumen – das ist der Gegenbegriff – erfasst. Versammlungen unter freiem Himmel können durch (formelles, also parlamentsbeschlossenes)314 Gesetz oder auf Grund eines solchen Gesetzes beschränkt werden.

111Das maßgebliche Kriterium für die Abgrenzung zwischen Versammlungen unter freiem Himmel einerseits und solchen in geschlossenen Räumen andererseits ist – vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichend – nicht, ob eine Überdachung fehlt oder vorhanden ist. Versammlungen unter freiem Himmel zeichnen sich typischerweise durch das Fehlen einer seitlichen Umgrenzung aus, die bei Versammlungen in geschlossenen Räumen vorhanden ist.315 Spezifische Gefahren, die erleichterte Einschränkungsmöglichkeiten erfordern, entstehen nicht daraus, dass die Teilnehmer bei Regen nass werden könnten, sondern aus der Möglichkeit, die Versammlung mehr oder weniger beliebig aufsuchen oder verlassen zu können. Darauf reagiert Art. 8 Abs. 2 GG.316 Sogar bei einer Versammlung, die in einem Gebäude mit allgemeinem Publikumsverkehr stattfindet und von diesem nicht räumlich getrennt ist, handelt es sich daher verfassungsrechtlich um eine Versammlung unter freiem Himmel, die dem Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG unterliegt.317 Von dieser verfassungsrechtlich angelegten Differenzierung zwischen Versammlungen unter freiem Himmel sowie in geschlossenen Räumen ist die Abgrenzung zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Versammlungen zu unterscheiden,318 die sich daraus ergibt, dass das VersG überwiegend auf öffentliche Versammlungen anwendbar ist.319

112Die an einer räumlich-baulichen Zugangsbegrenzung orientierte Differenzierung aus Art. 8 Abs. 2 GG wird im VersG durch die Struktur der Abschnitte II und III aufgegriffen: Abschnitt II (§§ 5 ff. VersG) gilt für Versammlungen in geschlossenen Räumen, während Abschnitt III (§§ 14 ff.) Versammlungen unter freiem Himmel betrifft. Grundrechtsbeschränkende Regelungen finden sich in beiden Abschnitten. Auf die Schranke des Art. 8 Abs. 2 GG lassen sich jedoch nur die eingreifenden bzw. zu Eingriffen berechtigenden Normen des Abschnitts II stützen.

113Damit ist freilich nicht gesagt, dass beschränkende gesetzliche Regelungen gegenüber Versammlungen in geschlossenen Räumen, wie sie sich etwa im Abschnitt III des VersG finden, verfassungswidrig wären. Zwar dürfen – das wird immer wieder betont, auch wenn es sich an sich um eine Selbstverständlichkeit handeln sollte – weder die Schrankenvorbehalte anderer Grundrechte auf Art. 8 Abs. 1 GG übertragen werden, noch unterliegt Art. 8 GG einem Gemeinwohlvorbehalt.320 Versammlungen in geschlossenen Räumen sind vorbehaltlos gewährleistet. Eine vorbehaltlose Gewährleistung aber ist nach den auch hier anwendbaren Regeln der allgemeinen Grundrechtsdogmatik nicht gleichbedeutend mit einer schrankenlosen Gewährleistung. Das Recht, sich (friedlich und waffenlos) in geschlossenen Räumen zu versammeln, ist vielmehr auf der Grundlage verfassungsimmanenter Schranken einschränkbar. Das können Grundrechte Dritter sowie sonstige Güter von Verfassungsrang sein.321 § 13 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 VersG, der die Auflösung einer Versammlung (in geschlossenen Räumen) ermöglicht, wenn unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Teilnehmer besteht, kann sich daher auf die Schranke des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) stützen.322 Wo eine solche Schranke fehlt, verletzt ein gleichwohl vorgenommener Eingriff das Grundrecht. So verhält es sich etwa bei der von § 7 Abs. 1 VersG statuierten Pflicht, dass jede öffentliche Versammlung (in geschlossenen Räumen) einen Leiter haben muss. Verfassungsrecht, auf das sich die Vorschrift stützen könnte, gibt es nicht.323 Daher ist sie verfassungswidrig,324 ohne dass es insofern auf Fragen der Verhältnismäßigkeit auch nur ankäme. Die Hinweise der Gegenauffassung, der Zwang zur Bestellung eines Leiters konkretisiere „die aus der Friedlichkeitsverantwortung resultierende Kooperationspflicht“ bzw. die Behörde müsse „aus sicherheitsrechtlichen Gründen auf einen für den Ablauf verantwortlichen Leiter zurückgreifen“ können,325 belegen zwar, dass die Regelung sinnvoll erscheint. Die fehlende Schranke im kollidierenden Verfassungsrecht lässt sich damit jedoch nicht surrogieren.

114Die Frage, ob kollidierendes Verfassungsrecht auch als Schranke herangezogen werden kann, soweit es um Versammlungen unter freiem Himmel geht, ist zu verneinen, wenn man Gesetzesvorbehalte wie Art. 8 Abs. 2 GG für eine abschließende Regelung der Beschränkungsmöglichkeiten hält.326 Die vorzugswürdige Gegenauffassung operiert mit einem Erst-recht-Schluss: Wenn sogar vorbehaltlose Grundrechte auf der Grundlage verfassungsimmanenter Schranken eingeschränkt werden dürften, müsse das erst recht für Grundrechte unter Gesetzesvorbehalt gelten.327 Freilich ist auch dann zu beachten, dass sich die vermeintliche Grundrechtsschranke tatsächlich aus der Verfassung ergeben muss. Selbst nach dieser Auffassung aber bedarf eine verfassungsimmanente Schranke noch einer gesetzlichen Konkretisierung: Die Rechtfertigung eines Eingriffs setzt voraus, dass der Vorbehalt des Gesetzes beachtet wurde.328 Dem Begriff der „öffentlichen Ordnung“, den das OVG Münster herangezogen hatte, um das gerade wegen der dort vertretenen Auffassungen erlassene Verbot einer rechtsextremistischen, durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägten Versammlung zu bestätigen,329 fehlte sowohl der Verfassungsrang als auch die einfach-gesetzliche Konkretisierung.330 Zwar erlaubt § 15 VersG Beschränkungen von Versammlungen zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung. Das ist grundsätzlich jedoch allein mit Blick auf Gefahren zulässig, die aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung folgen, nicht aus dem Inhalt der vertretenen Auffassungen.331 Anders verhält es sich, wenn die betreffenden Äußerungen selbst strafbar sind, so dass sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründen. Relevant werden kann insofern u. a. § 130 StGB (Volksverhetzung). § 130 Abs. 4 StGB hält das BVerfG für vereinbar mit Art. 5 Abs. 1, 2 GG, obwohl die Vorschrift kein „allgemeines Gesetz“ nach Art. 5 Abs. 2 GG darstellt.332 Eine Rolle kann das auf der Versammlung vertretene Gedankengut zudem u. a. bei der Anwendung von § 15 Abs. 2 S. 1 VersG (bzw. entsprechender Ländergesetze) spielen.333 Jedenfalls relativiert das Erfordernis einer einfach-gesetzlichen Konkretisierung verfassungsimmanenter Schranken die Bedeutung der dogmatischen Frage, ob Art. 8 Abs. 2 GG die Beschränkbarkeit von Versammlungen unter freiem Himmel abschließend regelt oder ob insofern auf kollidierendes Verfassungsrecht zurückgegriffen werden darf: Da der Eingriff letztlich ohnehin durch ein einfaches Gesetz vorgenommen werden bzw. auf einem solchen beruhen muss, steht als Schranke regelmäßig Art. 8 Abs. 2 GG zur Verfügung.

115Auf den gesamten Schutzbereich – also auf Versammlungen unter freiem Himmel sowie auf Versammlungen in geschlossenen Räumen – bezieht sich die zusätzliche Grundrechtsschranke des Art. 17a Abs. 1 GG. Nach der Vorschrift können Gesetze über Wehrdienst und Ersatzdienst bestimmen, dass für die Angehörigen der Streitkräfte und des Ersatzdienstes während der Zeit des jeweiligen Dienstes u. a. das Grundrecht der Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden kann. Die Norm tritt ergänzend neben die ohnehin bestehenden Schranken, ohne diese zu verdrängen.334 Schon aus diesem Grund ist sie jedenfalls mit Blick auf Versammlungen unter freiem Himmel von geringer praktischer Bedeutung, da Art. 8 Abs. 2 GG dem Staat regelmäßig hinreichende Möglichkeiten der Einschränkung von Versammlungen zur Verfügung stellt.335 Hinzu kommt, dass Art. 17a Abs. 1 GG nur Angehörige der Streitkräfte und des Ersatzdienstes betrifft, deren Zahl seit der Abschaffung des verpflichtenden Grundwehrdienstes336 deutlich geringer geworden ist. Art. 17a GG betrifft aber auch Soldaten, die sich freiwillig verpflichtet haben. Insofern verbleiben mögliche Anwendungsfälle. Beispielsweise verbietet § 15 Abs. 3 SG Soldaten, in Uniform an politischen Veranstaltungen teilzunehmen. Das betrifft auch politische Versammlungen. Sofern man darin entgegen dem BVerfG337 einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG sieht, kann Art. 17a Abs. 1 GG jedenfalls mit Blick auf Versammlungen in geschlossenen Räumen, für die Art. 8 Abs. 2 GG nicht einschlägig ist, als Schranke herangezogen werden.338

116b) Die Schranken-Schranken. Von den Schranken des Art. 8 Abs. 1 GG darf nicht in beliebiger Weise oder in beliebigem Umfang Gebrauch gemacht werden. Selbst Eingriffe, die auf die Schranken des Grundrechts gestützt werden können, sind – bei der Versammlungsfreiheit ebenso wie bei den anderen Freiheitsgrundrechten – nur rechtmäßig, wenn sie die Eingriffskautelen (sog. Schranken-Schranken) einhalten. Im Fall des Art. 8 Abs. 1 GG ist insofern neben den allgemeinen, nicht versammlungsspezifischen Schranken-Schranken die Garantie der Anmelde- und Erlaubnisfreiheit zu beachten.

117aa) Die allgemeinen Schranken-Schranken. Zunächst muss das Gesetz, durch das bzw. auf Grund dessen in die Versammlungsfreiheit eingegriffen wird, formell verfassungsgemäß sein. Das ist die Konsequenz der vom BVerfG zunächst zur Auslegung des Begriffs „verfassungsmäßige Ordnung“ als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) entwickelten und später auf die anderen Freiheitsgrundrechte ausgedehnten sog. „Elfes-Konstruktion“.339 Konkret bedeutet sie, dass eingreifende Gesetze unter Beachtung des vom GG bzw. (im Fall eines Landesgesetzes) von der Landesverfassung vorgesehen Verfahrens und unter Beachtung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung erlassen werden müssen. Dass neue Regelungen des Versammlungsrechts heute nur noch von den Ländern erlassen werden dürfen,340 schließt Regelungen des Bundes auf der Grundlage ihm nach wie vor zustehender Kompetenztitel nicht aus. Ein aktuelles Beispiel sind Einschränkungen der Versammlungsfreiheit ermöglichende Regelungen des IfSG, für das der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG konkurrierend zuständig ist.

118Zudem darf das Gesetz kein nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG unzulässiges Einzelfallgesetz sein: Die Vorschrift verlangt für Fälle, in denen nach dem GG ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, dass dieses Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gilt. Richtiger (aber umstr.)341 Auffassung nach ist die Vorschrift nur anwendbar, soweit Grundrechte auf Grund ausdrücklicher Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen.342 Im hier interessierenden Kontext bedeutet das, dass Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG nur solche Eingriffsregelungen erfasst, die ihre Grundlage in der Schranke des Art. 8 Abs. 2 GG haben, nicht aber solche, die sich auf kollidierendes Verfassungsrecht stützen.343 Größere praktische Bedeutung hat das Verbot des Einzelfallgesetzes nicht: Die Vorschrift wird als Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes verstanden. Dem Gesetzgeber ist es verboten, aus einer Reihe gleichgelagerter Sachverhalte einen herauszugreifen und zum Gegenstand einer Sonderregelung zu machen. Ist der Sachverhalt hingegen so beschaffen, dass es nur einen Fall dieser Art gibt und die Regelung dieses singulären Sachverhalts von sachlichen Gründen getragen wird, schließt Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG die Regelung eines Einzelfalls nicht aus.344 Das VersG des Bundes und die Versammlungsgesetze der Länder geraten damit schon deshalb nicht in Konflikt, weil sie wegen der abstrakten Formulierungen der einzelnen Tatbestände nicht erkennen lassen, auf wie viele und auf welche Fälle sie Anwendung finden.345 Die Festlegung einer Bannmeile um ein bestimmtes Parlamentsgebäude begegnet wegen der Singularität des Sachverhalts – und somit trotz der Singularität der Regelung – keinen Schwierigkeiten.

119Auch das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, nach dem ein Gesetz, das in ein Grundrecht eingreift oder zum Eingriff berechtigt, das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen muss, ist überwiegender und richtiger Auffassung zufolge nur auf Fälle anwendbar, die auf Grund einer ausdrücklichen Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen.346 Es gilt also, wenn bzw. soweit ein Gesetz auf Art. 8 Abs. 2 GG gestützt wird, nicht hingegen, soweit sich Gesetze auf verfassungsimmanente Schranken stützen.347 Daher ist es unkritisch, dass der Abschnitt II des VersG, der Versammlungen in geschlossenen Räumen betrifft (§§ 5 ff. VersG), kein Zitat enthält, das Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG genügen würde. Auf Art. 8 Abs. 2 GG sind allein die Beschränkungsmöglichkeiten im Abschnitt III des VersG zu Versammlungen unter freiem Himmel (§§ 14 ff. VersG) gestützt, in dem das Zitiergebot durch § 20 VersG erfüllt wird.

120Aus dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip (s. insbes. Art. 20 Abs. 1, 2, 3 GG) wird der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes abgeleitet, aus dem sich der sog. Parlamentsvorbehalt ergibt.348 Er besagt, dass insbesondere die für die Grundrechtsausübung wesentlichen Fragen durch den formellen Gesetzgeber entschieden werden müssen und nicht auf die Verwaltung delegiert werden dürfen. Die Versammlungsgesetze des Bundes und – soweit vorhanden – der Länder begegnen insofern keinen Bedenken. Kontrovers diskutiert wird die Frage hingegen mit Blick auf das IfSG.349

121Rechtsstaatlich radiziert ist auch das Bestimmtheitsgebot: Art. 20 Abs. 3 GG verlangt, dass gesetzliche Regelungen in Tatbestand und Rechtsfolge so klar gefasst sind, dass der Normadressat sein Verhalten an den Anforderungen der Rechtsordnung ausrichten kann.350 Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn Eingriffe (etwa in § 15 VersG) von unbestimmten Rechtsbegriffen wie „Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ abhängig gemacht werden und zudem auf der Rechtsfolgenseite Ermessen angeordnet wird,351 war einer der Gegenstände der Brokdorf-Entscheidung. Das BVerfG hat die Frage bejaht. Es verlangt jedoch eine verfassungskonforme Auslegung, nach der Verbote und Auflösungen nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit352 und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgt.353

122Der zentrale inhaltliche Maßstab für die Zulässigkeit von Eingriffen in die Versammlungsfreiheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, also das sog. Übermaßverbot. An diesem Grundsatz ist neben der eingreifenden bzw. zum Eingriff ermächtigenden Regelung deren Auslegung und Anwendung zu messen: In den Worten des BVerfG müssen versammlungsbeschränkende Gesetze „stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat“ ausgelegt werden; staatliche Organe haben sich „bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist […]. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist hierbei strikt zu beachten.“354 Dazu muss der Eingriff zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein.

123Als legitimer Zweck kommt der Schutz individueller Rechtsgüter ebenso wie die Verfolgung hinreichend gewichtiger Gemeinwohlziele in Betracht.355 Darunter fällt die Abwehr versammlungstypischer Gefahren wie z. B. der Behinderung der Sicherheit des Straßenverkehrs oder der Begehung von Tätlichkeiten aus der Versammlung heraus, aber auch die Verfolgung atypischer Ziele wie der Verhinderung der Übertragung von Krankheiten. Anders als „echte“ private Grundeigentümer dürfen grundrechtsgebundene Inhaber des Hausrechts dieses nicht nach Gutdünken zur Verhinderung von Versammlungen auf ihrem Gelände einsetzen, sondern nur aus hinreichend gewichtigen Gründen. Insofern kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Im Terminalgebäude eines Flughafens sind auf Grund der hier besonders großen Bedeutung störungsfreier Abläufe und der Gefahren für elementare Rechtsgüter ggf. weiter gehende Einschränkungen möglich als an weniger sensiblen Orten.356

124Geeignet ist ein Mittel schon dann, wenn die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass der angestrebte Erfolg eintritt.357 Die Wahl des wirkungsstärksten Mittels ist ebenso wenig gefordert358 wie eine vollständige Zielerreichung.359

125Um erforderlich zu sein, muss die vom Staat getroffene Maßnahme das mildeste aller Mittel sein, die zur Erreichung des verfolgten Zwecks mindestens gleich effektiv sind. Insofern gilt mit Blick auf die Versammlungsfreiheit – wie für die anderen Freiheitsgrundrechte auch –, dass sich zu praktisch jeder Maßnahme ein milderes Mittel finden lässt, das aber regelmäßig (oder zumindest häufig) den verfolgten Zweck nicht ebenso wirksam fördert. Wird eine Gegendemonstration beispielsweise von der Auflage abhängig gemacht, dass ein bestimmter Mindestabstand zu der Versammlung eingehalten wird, gegen die sie sich richtet, wäre ein geringerer Abstand milder, weil Ablehnung und Protest intensiver artikuliert werden könnten. Sobald der Abstand aber so gering angesetzt würde, dass die Anlassversammlung nicht mehr in der vorgesehenen Art und Weise durchgeführt werden könnte, weil z. B. Redner nicht mehr zu verstehen wären oder weil sie Steinwürfen oder Feuerwerksbeschuss aus der Gegendemonstration ausgesetzt wäre, ist das mildere Mittel nicht mehr gleich wirksam. Das präventive Verbot einer Versammlung stellt eine ultima ratio dar. Es darf erst als letztes Mittel eingesetzt werden. Vorrang genießt – als weniger intensiv in die Versammlungsfreiheit eingreifendes und daher milderes Mittel – nicht nur die Möglichkeit einer nachträglichen Auflösung.360 Auch alle anderen Mittel, die die Versammlung überhaupt ermöglichen, sind vorrangig einzusetzen, sofern sie – das gilt generell – die öffentliche Sicherheit und Ordnung ebenso effektiv schützen. Dazu zählt auch die Kooperation mit den (friedlichen) Demonstranten. Erst wenn eine solche Kooperation der Behörden mit den Demonstranten scheitert oder aus Gründen, die die Teilnehmer zu vertreten haben, unmöglich ist, kommt ein Verbot in Betracht.361

126Um verhältnismäßig im engeren Sinne (= angemessen) zu sein, dürfen die Beeinträchtigungen der Versammlung bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe stehen;362 sie müssen den einzelnen Betroffenen (deshalb) zumutbar sein.363 In diese Gesamtabwägung ist insbesondere das mit der Versammlung verfolgte Anliegen einzustellen, aber auch die Rechtsgüter, zu deren Schutz Beschränkungen angeordnet werden. Diese Abwägung führt z. B. dazu, dass die unvermeidlichen Störungen für Dritte, die von einer Versammlung auf öffentlichen Verkehrsflächen zwangsläufig ausgehen, von diesen grundsätzlich hinzunehmen sind und keine Beschränkungen der Versammlung rechtfertigen. Das gilt auch, wenn Versammlungen (wie etwa die Demonstrationen von „Pegida“ oder der Protest gegen „Stuttgart 21“) immer wieder aus demselben oder ähnlichem Anlass stattfinden.364 Zwar kann die Tatsache, dass aus einem bestimmten Anlass sehr oft in Folge am selben Ort Versammlungen stattgefunden haben, das Gewicht z. B. einer einmaligen behördlichen Verlegung an einen anderen Ort mildern.365 Allein die Tatsache, dass die wiederholten Versammlungen Anwohnern oder Geschäftsleuten lästig fallen, reicht für eine generelle Verlegung oder ein Verbot aber nicht aus. Praktische Konkordanz mit den Grundrechten der Anwohner etc. lässt sich auch in versammlungsfreiheitschonenderer Weise herstellen.366 Das gilt freilich nur, solange die Belastung der Anwohner die unvermeidliche Nebenfolge einer Versammlung ist. Eine andere Beurteilung ist in Situationen angezeigt, in denen die Behinderung Dritter das eigentliche Anliegen der Versammlungsteilnehmer ist. Art. 8 GG schützt (nur) „die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise oder sonstwie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen“.367 Unabhängig davon, ob man die Passage (wie sie vom BVerfG gemeint gewesen sein dürfte) als Hinweis auf eine Grenze des tatbestandlichen Schutzes versteht368 oder ob man sie erst auf der Schrankenebene berücksichtigt, sind Verbote und Auflagen in derartigen Fällen verfassungsrechtlich möglich – ggf. auch nicht erst im Wiederholungsfall.369 Im Übrigen hängt die Zulässigkeit gerade von Vorgaben für den Versammlungsort auch vom kommunikativen Anliegen ab: Für diejenigen, die gegen den Bau etwa eines Bahnhofs demonstrieren möchten, wirkt die Versagung eines Versammlungsorts vor der Baustelle auch nach etlichen vorangegangenen Versammlungen an gleicher Stelle besonders schwer.

127Sofern man mit der hier vertretenen Auffassung (und anders als das BVerfG)370 in den Schutz der Versammlungsfreiheit auch den Wunsch nach Versammlungen an Orten einbezieht, die der Öffentlichkeit nicht oder nur zu anderen Zwecken zugänglich sind, sind Auflagen und Verbote dort typischerweise deutlich leichter zu begründen als an allgemein zugänglichen Orten, weil die geschützten Rechte großes Gewicht haben werden. Die Demonstration auf der Fahrbahn einer Autobahn, auf Eisenbahnschienen oder gar auf der Landebahn eines Flughafens kann regelmäßig verlegt oder verboten werden. Je nach Lage der Dinge kann es aber sogar in derartigen Fällen Situationen geben, in denen der Versammlungsfreiheit ausnahmsweise der Vorrang gebührt. Notwendige – wenn auch nicht hinreichende – Bedingung ist dafür aber ein kommunikatives Anliegen, das eine Versammlung gerade an diesem Ort erfordert wie z. B. der Protest gerade gegen den betreffenden Verkehrsträger.371

128Selbst an öffentlich zugänglichen Orten können Auflagen oder sogar Verbote zulässig sein, wenn durch den Ort und die Art der Versammlung unzumutbar in die Privatsphäre Dritter eingegriffen wird. Das und gilt für Versammlungen vor den Privathäusern z. B. von Politikern,372 aber auch von (ehemaligen) Straftätern.373

129Die allgemeinen Maßstäbe für die Beurteilung der Zumutbarkeit staatlicher Maßnahmen gelten auch in Zeiten einer Pandemie. Als Besonderheit kommt hier freilich hinzu, dass mit Blick auf die Eindämmung übertragbarer Krankheiten, wie sie z. B. durch das SARS-CoV-2 verursacht werden können, schon das Zusammenkommen von Menschen an sich konkrete Gefahren für die Gesundheit und das Leben der Teilnehmer sowie Dritter heraufbeschwören kann, ohne dass es dazu eines besonderen Verhaltens bedarf. Der Schutz dieser von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfassten und (besonders) gewichtigen Rechtsgüter374 ließ schon in Vor-Corona-Zeiten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit zu.375 Zur Abwehr der durch dieses Virus verursachten Gefahren gilt das erst recht. Umgekehrt ist zu berücksichtigen, dass das Leben – und erst recht die Gesundheit – keinen absoluten Schutz genießen.376 Das Ziel, Gefahren für diese Rechtsgüter abzuwehren, rechtfertigt Eingriffe in die Versammlungsfreiheit daher nicht in beliebigem Umfang. Die Grenze der Zumutbarkeit für die Versammlungswilligen darf auch aus diesen Gründen nicht überschritten werden. Jedoch verläuft sie möglicherweise an anderer Stelle als sonst. Insofern spielt u. a. das kommunikative Anliegen eine Rolle: Für die Teilnehmer einer Versammlung, die andere, letztlich auch nach Monaten noch aktuelle Themen betreffen soll, ist eine (längere) zeitliche Verschiebung eher zumutbar als für die Teilnehmer einer Versammlung, die aktuelle Themen betrifft. Das gilt nicht nur, aber insbesondere, wenn die Sinnhaftigkeit und/oder Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 in Abrede gestellt werden soll. Auf die Seriosität des Anliegens kommt es dabei im Rahmen der Überlegungen zur Zumutbarkeit einmal mehr nicht an: Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schützt Verschwörungstheoretiker, „Querdenker“ und Impfgegner ebenso wie z. B. Gewerbetreibende und andere, die lediglich auf die sie treffenden Belastungen aufmerksam machen wollen.

130Eine Art äußerste Grenze für Grundrechtseingriffe stellt die Wesensgehaltsgarantie dar. Nach Art. 19 Abs. 2 GG darf ein Grundrecht in keinem Fall in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Damit wird ein bestimmter Kerngehalt jedes Grundrechts unentziehbar verbürgt. Was das genau bedeutet, ist sehr umstritten: Ist der Wesensgehalt absolut oder relativ zu bestimmen? Bezieht er sich auf objektive oder auf subjektive Positionen?377 Dass Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG Eingriffe in das Recht auf Leben zulässt, ist ein starkes Argument dafür, Art. 19 Abs. 2 GG so zu verstehen, dass die Bedeutung des Grundrechts für die Allgemeinheit – nicht aber zwingend für jeden einzelnen Träger – gewahrt werden muss. Damit Art. 19 Abs. 2 GG ein eigenständiger Anwendungsbereich neben dem Verhältnismäßigkeitsprinzip bleibt,378 sollte der Wesensgehalt des jeweiligen Grundrechts zudem absolut und nicht im Wege der Abwägung mit den Zielsetzungen vorgenommen werden, die der Staat mit seinem Eingriff verfolgt. Das BVerfG hat die Formulierung verwendet, der Wesensgehalt könne betroffen sein, wenn jeglicher Störungsabwehranspruch, den die Rechtsordnung zum Schutze eines Grundrechts einräumt, materiellrechtlich beseitigt wird oder wenn verfahrensrechtlich verwehrt wird, ihn wirkungsvoll geltend zu machen.379

131Danach war die praktische Relevanz von Art. 19 Abs. 2 GG bisher überschaubar. Der Vorschrift wurde regelmäßig eine allenfalls sehr geringe Bedeutung attestiert.380 Diese allgemeine Einschätzung war – auch mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 GG – richtig. Dass die Wesensgehaltsgarantie gerade hier unerwartete Aktualität erlangt hat, liegt an den umfangreichen Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, die seit dem Frühjahr 2020 zur Bekämpfung der Corona-Pandemie namentlich durch Allgemeinverfügungen oder Rechtsverordnungen der Landesregierungen auf der Grundlage von § 32 S. 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG beschlossen wurden. Ihre z. T. bemerkenswerte Reichweite wirft die Frage, ob die Versammlungsfreiheit in ihrem Wesensgehalt angetastet wurde bzw. wird, zumindest auf. Freilich gilt es insofern zu differenzieren: Anmelde- oder Erlaubnispflichten sind nach hier vertretener Auffassung ohnehin immer unzulässig.381 Einzelne – auch weitreichende – Beschränkungen wie z. B. strenge Auflagen, begrenzte Teilnehmerzahlen etc., die die prinzipielle Möglichkeit von Versammlungen unberührt lassen, müssen im Einzelfall verhältnismäßig sein, berühren aber nicht den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit. Sofern Versammlungen hingegen vollständig verboten werden,382 tastet dies den Wesensgehalt der Versammlungsfreiheit zumindest dann an, wenn das Verbot für längere Zeit gilt. Ein striktes Verbot für mehrere Wochen dürfte mindestens in die Nähe einer nach Art. 19 Abs. 2 GG unzulässigen Antastung des Wesensgehalts kommen.383

132bb) Ohne Anmeldung oder Erlaubnis. Art. 8 Abs. 1 GG verbürgt das Recht, sich „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ zu versammeln. Die Bedeutung dieses Passus hängt entscheidend von seiner umstrittenen systematischen Einordnung ab. Das BVerfG führt in der Brokdorf-Entscheidung aus, Art. 8 GG garantiere in seinem Abs. 1 grundsätzlich die Freiheit, sich „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ zu versammeln. Diese Freiheit sei (aber) nach Abs. 2 für Versammlungen unter freiem Himmel auf gesetzlicher Grundlage beschränkbar. Solche Beschränkungen dürften aber die Gewährleistung des Abs. 1 nicht für bestimmte Typen von Versammlungen außer Geltung setzen.384 Die Anmelde- bzw. Erlaubnisfreiheit ist nach dieser Konzeption Teil des Grundrechtstatbestandes. Sie steht jedoch – wie die anderen Gewährleistungen – unter dem Vorbehalt von Beschränkungen auf der Grundlage ­vorhandener Schranken und unter Beachtung der Schranken-Schranken: Versammlungen unter freiem Himmel könnten auf Grund von Art. 8 Abs. 2 GG und im Rahmen der insbesondere vom Verhältnismäßigkeitsprinzip gezogenen Grenzen von einer Anmeldung – also der vorherigen Bekanntgabe an die zuständige Behörde – oder sogar einer Erlaubnis – der vorherigen behördlichen Zustimmung – abhängig gemacht werden.385 Das mag als pragmatischer Ansatz erscheinen. Gleichwohl ist er abzulehnen, weil er der gesonderten Erwähnung des Rechts, sich gerade ohne Anmeldung oder Erlaubnis zu versammeln, in Art. 8 Abs. 1 GG nicht Rechnung trägt. Eine gesetzliche Anmelde- oder Erlaubnispflicht wäre nämlich auch dann ein rechtfertigungsbedürftiger und nur im Rahmen der Schranken und Schranken-Schranken rechtfertigungsfähiger Eingriff in die Versammlungsfreiheit, wenn die Passage „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ nicht im Verfassungstext stünde. Ihre Erwähnung hätte nach der Konzeption des BVerfG lediglich deklaratorischen Charakter.386 Da entsprechende Zusätze bei anderen Grundrechten fehlen, erscheint das wenig plausibel. Der separaten Erwähnung der Anmelde- und Erlaubnisfreiheit lässt sich nur dadurch angemessen Rechnung tragen, dass man sie als Schranken-Schranke versteht:387 Die Einführung von (echten) Anmelde- oder Erlaubnispflichten ist nicht zulässig. Das gilt absolut. Auf das Gewicht der Gründe, die aus Sicht des Gesetzgebers für eine solche Pflicht sprechen, kommt es nicht an.388

133Von praktischer Bedeutung sind diese Überlegungen insbesondere für die Beurteilung von § 14 Abs. 1 VersG. Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies nach der Vorschrift 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde anzumelden. Nicht angemeldete Versammlungen bzw. Aufzüge können nach § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst werden. Das BVerfG hält die Anmeldepflicht ausdrücklich für verfassungsgemäß, verlangt aber eine verfassungskonforme Auslegung,389 mit der auf die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips Rücksicht genommen werden soll:390 Für Spontanversammlungen, die sich aus aktuellem Anlass ohne Vorlaufzeit entwickeln und bei denen eine Anmeldung daher nicht möglich ist, soll § 14 Abs. 1 VersG nicht gelten.391 Bei Eilversammlungen, die zwar geplant werden und einen Veranstalter haben, aber ohne Gefährdung ihres Zwecks nicht unter Einhaltung der Frist des § 14 Abs. 1 VersG angemeldet werden können, soll eine unverzügliche Anmeldung ausreichen.392 Zudem soll eine Verletzung der Anmeldepflicht allein für ein Verbot oder eine Auflösung der Versammlung nicht genügen: Diese Maßnahmen setzen nach der Konzeption des BVerfG vielmehr Gefahren für andere, der Versammlungsfreiheit gleichwertige Rechtsgüter voraus. Jedoch können derartige Gefahren gerade aus der fehlenden Anmeldung und dem aus ihr folgenden Informationsrückstand der Behörden entstehen:393 Wenn die Polizei beispielsweise mangels vorheriger Information nicht genug Beamte vor Ort hat, um die Versammlung zu schützen oder Gefahren für Verkehrsteilnehmer abzuwehren, geht das potenziell zu Lasten der Versammlung. Schließlich hält das BVerfG sogar die Strafbarkeit der Durchführung einer Versammlung ohne Anmeldung (§ 26 Nr. 2 VersG) für verfassungsgemäß, sofern die vorstehend skizzierten Korrekturen bei der Auslegung der Anmeldepflicht beachtet werden.394

134Versteht man „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ richtigerweise als Schranken-Schranke und nicht als tatbestandliche Verbürgung,395 kann die Lösung des BVerfG dogmatisch und zum Teil auch im Ergebnis nicht überzeugen. Wenn bzw. weil Art. 8 Abs. 1 GG keine echte Anmeldepflicht zulässt, vermag § 14 Abs. 1 VersG eine solche Pflicht nicht wirksam zu statuieren. Will man die Vorschrift nicht für verfassungswidrig erklären,396 bleibt nur, sie als bloße Obliegenheit zu verstehen: Die fehlende bzw. verspätete Anmeldung erhöht das Risiko einer aus anderen Gründen erfolgenden Auflösung.397 Sie berechtigt als solche aber nicht zu Maßnahmen gegen die Versammlung oder zu anderen Sanktionen. Das betrifft insbesondere die von § 26 Nr. 2 VersG angeordnete Strafbarkeit der Durchführung einer Versammlung trotz fehlender Anmeldung: Die Regelung ist ebenso verfassungswidrig wie darauf gestützte Verurteilungen.398 Jedenfalls mit Blick auf diesen letzten Aspekt – Verfassungswidrigkeit des § 26 Nr. 2 VersG – kommt man nach der hier vertretene Konzeption, „ohne Anmeldung und Erlaubnis“ als Schranken-Schranke zu verstehen, also auch zu praktisch anderen Ergebnissen. Hinsichtlich der Möglichkeit, Versammlungen zu verbieten oder aufzulösen, kommen beide Konzeptionen hingegen zu im Wesentlichen übereinstimmenden Resultaten.399

135Entsprechende Überlegungen gelten für die Versammlungsgesetze auf Landesebene. Soweit diese ebenfalls eine Anmeldepflicht statuieren, ist dies nach der Rechtsprechung des BVerfG – wohl aber nach der hier vertretenen Auffassung – nicht zu beanstanden. Dass die Regelungen der Länder die Sondersituation von Eilversammlungen durch die Anordnung verkürzter Anmeldefristen berücksichtigen,400 trägt zu einem höheren Maß an Bestimmtheit der Vorschriften bzw. der Verstöße gegen sie sanktionierenden Normen bei.401 Und soweit sie Spontanversammlungen von der Anmeldepflicht ausnehmen,402 bestehen auch vom hier vertretenen Standpunkt aus keine Bedenken.

136Eine vorher wohl kaum für möglich gehaltene Aktualität hat die Frage nach der Zulässigkeit nicht nur einer Anmelde-, sondern sogar einer Erlaubnispflicht im Rahmen der Maßnahmen zur Bekämpfung der sog. Corona-Pandemie erhalten. Um die Ausbreitung des Virus (SARS-CoV-2) zu verhindern, wurden Versammlungen jedenfalls im Frühjahr 2020 vielfach Verboten mit Erlaubnisvorbehalt unterworfen:403 Sie waren prinzipiell verboten, konnten aber ausnahmsweise behördlich gestattet werden.404 Die Frage, ob Art. 8 GG derartige Regelungen zulässt, hat das BVerfG explizit offengelassen.405 Nach hier vertretener Auffassung ist sie zu verneinen. Verbote mit Erlaubnisvorbehalt sind wegen der Garantie, sich gerade ohne Anmeldung oder Erlaubnis versammeln zu dürfen, stets verfassungswidrig – unabhängig davon, aus welch schwerwiegenden Gründen sie angeordnet werden. Das mag man unter Pandemiebedingungen für eine verfehlte Entscheidung halten. Der Weg zu ihrer Korrektur aber führt allein über eine Verfassungsänderung nach Art. 79 GG. Im Übrigen zeigen die weniger rigiden Restriktionen des Versammlungsgeschehens, die seit dem Sommer 2020 regelmäßig beschlossen werden,406 dass es derart weitreichender Einschränkungen offenbar selbst unter den Sonderbedingungen einer weltweiten Virusbedrohung nicht bedarf. Den Zielen des Infektionsschutzes lässt sich mit Maßnahmen im Einzelfall, also mit Auflagen, Verboten oder Auflösungen, hinreichend Rechnung tragen.

Handbuch Versammlungsrecht

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