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I.Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG 1.Der persönliche Schutzbereich

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50Träger des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG sind zunächst alle Deutschen i. S. v. Art. 116 Abs. 1 GG. Insofern ist der persönliche Schutzbereich des Grundrechts enger gezogen als der Kreis der Anspruchsberechtigten aus § 1 VersG, der „jedermann“ das Recht zuspricht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten bzw. an ihnen teilzunehmen. Regelungskonflikte entstehen aus diesem unterschiedlich weiten Zuschnitt nicht. Dass das Grundrecht Deutschen vorbehalten ist, zwingt den einfachen Gesetzgeber nicht dazu, zwischen Deutschen und Ausländern zu differenzieren.154 Er darf den Anspruch des § 1 VersG jedermann zugestehen. Dass das Grundrecht in personeller Hinsicht hinter dem einfachen Gesetzesrecht zurückbleibt, hat lediglich zur Folge, dass es Anspruchsberechtige aus § 1 VersG gibt, die sich nach einer behördlichen Versagung des Versammlungsrechts vor Gericht nicht auf Grundrechte berufen können – jedenfalls nicht auf Art. 8 Abs. 1 GG.

51Zumindest in der Sache können sich – über den Wortlaut des Grundrechts hinaus – nicht nur Deutsche, sondern alle EU-Bürger auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Art. 18 Abs. 1 AEUV verbietet jede Diskriminierung von EU-Bürgern aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Daher muss anderen EU-Bürgern im Ergebnis derselbe Grundrechtsschutz wie Deutschen zukommen. Konkret bedeutet das, dass Versammlungen von Ausländern mit EU-Staatsangehörigkeit nur in Fällen mit Auflagen versehen, aufgelöst, verboten oder anderweitig beschränkt werden, in denen dies auch bei Versammlungen von Deutschen der Fall wäre. Über dieses sachliche Ergebnis besteht Einigkeit. Umstritten ist lediglich seine dogmatische Herleitung. Eine eher europarechtlich geprägte Lösung interpretiert Art. 8 Abs. 1 GG (sowie die anderen Deutschengrundrechte) europarechtskonform und hält die „Deutschen und andere EU-Bürger“ für Grundrechtsträger.155 Dagegen spricht freilich der klare Wortlaut des GG.156 Vorzugswürdig erscheint der Weg, die Versammlungsfreiheit anderer Unionsbürger aus der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG herzuleiten und ihnen im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung dasselbe Maß an Schutz zu gewähren, das sich aus Art. 8 Abs. 1 GG ergeben würde.157 Versammlungen von EU-Bürgern in geschlossenen Räumen beispielsweise können – ebenso wie derartige Versammlungen von Deutschen – nur zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts eingeschränkt werden, also zum Schutz der Grundrechte Dritter oder sonstiger Rechtsgüter von Verfassungsrang.158

52Angehörige von Drittstaaten und Staatenlose hingegen können sich für Versammlungen nur auf die – unmodifizierte – allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen, die insofern in ihrer Auffangfunktion zum Tragen kommt. Eine entsprechende Versammlung in geschlossenen Räumen kann – um im Beispiel zu bleiben – auf der Grundlage jeder Vorschrift verboten werden, die zur verfassungsmäßigen Ordnung i. S. v. Art. 2 Abs. 1 GG gehört, insbesondere also verhältnismäßig ist. Dass sie sich auf kollidierendes Verfassungsrecht stützten lässt, ist nicht erforderlich.

53Auch Minderjährige, die an einer Versammlung teilnehmen (bzw. diese veranstalten oder leiten) wollen, sind Träger des Grundrechts der Versammlungsfreiheit.159 Ein Mindestalter setzt Art. 8 Abs. 1 GG nicht voraus: Wer sich mit anderen in der von Art. 8 Abs. 1 GG vorausgesetzten Weise160 und mit der für den sachlichen Schutz geforderten inneren Verbindung161 versammeln kann, ist Träger der Versammlungsfreiheit.162 Die in diesem Kontext gelegentlich erörterte Frage der sog. „Grundrechtsmündigkeit“ also würde – sofern man den vom GG nicht verwendeten Terminus überhaupt materiell-rechtlich verwenden will –163 nicht die persönliche, sondern in Wahrheit die sachliche Reichweite des Grundrechts betreffen.164 Zum Teil wird der Begriff auch rein prozessrechtlich im Sinne eines Synonyms zur Prozessfähigkeit verstanden.165 Das ist generell die Fähigkeit, selbst oder durch selbst bestellte Vertreter wirksame Prozesshandlungen vorzunehmen. Ob Minderjährige prozessfähig sein können, hängt von der Gerichtsbarkeit ab. Vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit setzt die Prozessfähigkeit gem. § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO grundsätzlich die (volle) Geschäftsfähigkeit voraus, die Minderjährigen nach §§ 104, 106 BGB gerade fehlt. Sie müssen daher – nach §§ 1626, 1629 Abs. 1 BGB prinzipiell durch die Eltern – vertreten werden.166 Anders würde sich die Situation vor einem Verfassungsgericht darstellen. Hier sind auch Minderjährige prozessfähig (= grundrechtsmündig, falls man den Begriff prozessual verwendet), sofern sie das Grundrecht wahrnehmen und ihr Anliegen in einer Weise vortragen können, dass das Verfassungsgericht darüber entscheiden kann.

54Der Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit beschränkt sich nicht auf natürliche Personen. Nach Art. 19 Abs. 3 GG können auch inländische167 juristische Personen Träger (u. a.) der Versammlungsfreiheit sein, soweit diese wesensmäßig auf sie anwendbar sind. An dieser wesensmäßigen Anwendbarkeit fehlt es, wenn der Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind.168 Sie liegt hingegen vor, sofern das Grundrecht nicht nur individuell, sondern auch korporativ ausgeübt werden kann.169 Das ist bei der Versammlungsfreiheit wenn auch nicht umfassend, so doch zumindest zum Teil der Fall: Zwar sind juristische Personen nicht in der Lage, sich mit anderen zu versammeln. Jedoch können sie Versammlungen veranstalten170 und leiten.171 Hinsichtlich dieser Modalitäten einschließlich der Vorbereitung können Personenmehrheiten und Vermögensmassen Grundrechtsträger sein. Anders verhält es sich – wie bei anderen Grundrechten auch –, soweit hinter den betreffenden Organisationen in Wahrheit der Staat steht. In diesem Fall sind sie nicht berechtigte Träger, sondern verpflichtete Adressaten der Grundrechte.172 Das trifft insbesondere auf juristische Personen des Öffentlichen Rechts zu, die grundsätzlich nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sind. Konkret mit Blick auf Versammlungen heißt das, dass Hoheitsträger die Versammlungsfreiheit von Demonstranten zu achten haben. Ein eventueller Aufruf zu Gegendemonstrationen durch Hoheitsträger lässt sich jedenfalls nicht aus einer eigenen Versammlungsfreiheit des Hoheitsträgers rechtfertigen, weil er sich auf dieses Grundrecht selbst nicht berufen kann.

55Der Begriff der juristischen Person in Art. 19 Abs. 3 GG ist weiter zu verstehen als im einfachen Recht. Er setzt keine volle Rechtsfähigkeit voraus. Zumindest die Teilrechtsfähigkeit (nach neuerer Terminologie: Rechtsfähigkeit ohne eigene Rechtspersönlichkeit)173 reicht aus.174 Letztlich genügen ein hinreichendes Maß an organisatorischer Verfestigung und die Anlage auf eine gewisse Dauer.175 Daran fehlt es der Versammlung als solcher. Sie ist keine Trägerin des Grundrechts,176 dessen Schutz auf die Veranstalter, Leiter und Teilnehmer beschränkt bleibt.

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