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79Für die Einordnung eines Verhaltens als friedlich oder unfriedlich ist zunächst auf den einzelnen Teilnehmer abzustellen. Verhält er sich unfriedlich, bewegt er sich außerhalb des Schutzbereichs des Art. 8 GG.242 Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob bzw. unter welchen Umständen die Unfriedlichkeit einzelner Teilnehmer oder gar Dritter (anderen) Teilnehmern den Schutz der Versammlungsfreiheit zu entziehen vermag. Diese Differenzierung darf nicht übersehen werden, auch wenn die Frage der Friedlichkeit aus sprachlichen Gründen häufig von vornherein mit Blick auf die Versammlung (und nicht auf die Versammlungsteilnehmer) diskutiert wird.

80Dass Art. 8 Abs. 1 GG „friedlich“ neben „ohne Waffen“ stellt, spricht dafür, dass Unfriedlichkeit Handlungen von einiger Gefährlichkeit voraussetzt. Bloße Behinderungen Dritter – die sich jedenfalls bei größeren Versammlungen kaum werden vermeiden lassen – führen selbst dann nicht zur Unfriedlichkeit, wenn sie gewollt und nicht nur in Kauf genommen sind.243 Umgekehrt ist die Grenze zur Unfriedlichkeit jedenfalls bei Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen überschritten.244 Das BVerfG verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Bedeutung der Versammlungsfreiheit als Mittel der geistigen Auseinandersetzung und auf das auch und gerade im Interesse schwächerer Minderheiten bestehende staatliche Gewaltmonopol.245 Auch seine Einschätzung, von den Demonstranten könne friedliches Verhalten umso mehr erwartet werden, als sie dadurch nur gewinnen könnten, während sie bei gewalttätigen Konfrontationen am Ende stets der Staatsgewalt unterliegen würden,246 verdient Zustimmung – sofern man von einer Staatsgewalt ausgeht, die in hinreichender Stärke präsent, adäquat ausgestattet und bei Bedarf zum Einsatz ihrer Mittel bereit ist.

81Zwischen den beiden Polen der bloßen Behinderung einerseits und der gewalttätigen Einwirkung andererseits lassen sich zumindest Orientierungsposten für die – letztlich in einem gewissen Maße einzelfallabhängige – Abgrenzung zwischen friedlichem und unfriedlichem Verhalten auf einer Versammlung ausmachen. Sicher sagen lässt sich, dass nicht jede Verletzung geltenden Rechts zur Unfriedlichkeit führt.247 Andernfalls würde der Begriff „friedlich“ die Funktion des einfachen Gesetzesvorbehalts in Art. 8 Abs. 2 übernehmen, der so obsolet würde. Das wäre schon in der Struktur des Art. 8 GG kein plausibles Ergebnis. Hinzu kommt, dass die Annahme der Unfriedlichkeit den Schutz des Grundrechts insgesamt entfallen lassen würde. Damit würde auch eine Abwägung der einschränkenden Regelungen mit der Versammlungsfreiheit entbehrlich: Würde jeder Rechtsverstoß zur Unfriedlichkeit führen, wäre die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ausgehebelt.248 Die Versammlungsfreiheit wäre so nur nach Maßgabe des einfachen Rechts geschützt. Dem steht schon die Grundrechtsbindung des einfachen Gesetzgebers nach Art. 1 Abs. 3 GG entgegen.

82Selbst Straftaten auf der Versammlung bzw. aus ihr heraus müssen diese nicht in jedem Fall unfriedlich machen.249 Das gilt sogar dann, wenn die jeweilige Tat den strafrechtlichen Begriff der Gewalt erfüllt.250 Sitzblockaden können daher – sofern sich die Teilnehmer auf passive Resistenz beschränken – auch dann friedlich i. S. v. Art. 8 Abs. 1 GG sein, wenn sie unter dem Aspekt der Gewalt eine nach § 240 StGB strafbare Nötigung darstellen sollten. Das schließt die Bestrafung der Blockierer nicht aus – die aber als Eingriff in die Versammlungsfreiheit vor dieser rechtfertigungsbedürftig ist.251 Das BVerfG verweist in diesem Kontext darauf, mit der Einordnung von (ggf. strafbaren) Sitzblockaden als (friedliche) „Versammlungen im Sinne von Art. 8 GG“ stehe „in Einklang“, dass §§ 5 Nr. 3, 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG nur Versammlungen mit gewalttätigem oder aufrührerischem Verlauf als unfriedlich behandele.252 Das ist zwar insofern nicht ganz präzise, als die zitierten Normen des VersG lediglich das Verbot bzw. die Auflösung einer Versammlung ermöglichen, ohne dem beschriebenen Verhalten jedoch explizit das Etikett „unfriedlich“ anzuheften. Es deutet aber darauf hin, welches Maß an Gewalt gegen Personen oder Sachen erforderlich ist, damit der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG wegen fehlender Friedlichkeit entfällt.253

83An der Friedlichkeit fehlt es nicht erst dann, wenn derartige Gewalttaten begangen werden, sondern bereits, wenn sie unmittelbar bevorstehen.254 Wegen der rigiden Konsequenz, dass mit der Friedlichkeit auch der Grundrechtsschutz endet, sind insofern freilich strenge Maßstäbe anzulegen.255

84Ein in diesem Sinne unfriedliches Verhalten nimmt im Ausgangspunkt nur denjenigen den Schutz des Art. 8 GG, von denen es ausgeht, nicht hingegen Dritten. Der insofern eindeutigste Fall ist der, dass nicht zur Versammlung gehörende Dritte – Gegendemonstranten, Störer – unfriedlich sind.256 Ihr Verhalten steht – auch wenn es die übrigen Merkmale des Versammlungsbegriffs erfüllen sollte – nicht unter dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG. Für die Veranstalter und Teilnehmer einer friedlichen Anlassveranstaltung, gegen die sich die unfriedlichen Akteure wenden, besteht dieser Schutz hingegen auch bei gewalttätigen Störungen uneingeschränkt fort. Maßnahmen zum Schutz von Sicherheit und Ordnung sind daher grundsätzlich gegen die unfriedlichen Dritten zu richten; ihnen gegenüber greifen sie weder in Art. 8 Abs. 1 GG noch in Art. 2 Abs. 1 GG ein. Wenn wegen der Unfriedlichkeit Dritter Maßnahmen gegen friedliche Versammlung vorgenommen werden – was freilich nur unter den Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands zulässig ist –,257 greifen sie in Art. 8 Abs. 1 GG ein.

85Verhalten sich einzelne Teilnehmer einer Versammlung unfriedlich, nimmt das den friedlichen Teilnehmern nicht automatisch den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG. In den Worten des BVerfG muss der Schutz des Grundrechts auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen.258 Andernfalls könnten Gegner der dort vertretenen Positionen eine Versammlung zu einer unfriedlichen machen und so den Teilnehmern den Schutz des Grundrechts entziehen.259 Diese nach individuellem Verhalten differenzierende Beurteilung lässt sich jedoch nicht unbegrenzt durchhalten. Es gibt Fälle, in denen das unfriedliche Verhalten einzelner die Versammlung insgesamt „infiziert“,260 also auf das – bei isolierter Betrachtung friedliche – Verhalten anderer durchschlägt, weil es den Charakter der Versammlung prägt.261 Eine solche Zurechnung ist regelmäßig veranlasst, wenn sich der Veranstalter, der Leiter oder eine Mehrheit der Teilnehmer unfriedlich verhalten bzw. sich mit Gewalttätern solidarisieren.262

86Voraussetzung für den Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG ist weiter, dass man sich „ohne Waffen versammelt. Das wird zum Teil als (bloße) Konkretisierung der Friedlichkeit angesehen,263 weil Unfriedlichkeit bereits an der Mitführung von Waffen erkennbar sei.264 Nach dieser Sichtweise würde bereits das bloße Mitführen von Waffen zur Unfriedlichkeit führen.265 Richtigerweise ist es jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen, sich friedlich, aber bewaffnet zu versammeln.266 Wenn Polizisten in Uniform z. B. gegen ihrer Auffassung nach defizitäre Arbeitsbedingungen demonstrieren, machen ggf. mitgeführte Dienstwaffen dieses Verhalten nicht automatisch unfriedlich. Gleichwohl bewegt sich die Demonstration außerhalb des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit:267 Unabhängig von seinem Verhältnis zu „friedlich“ markiert das Merkmal „ohne Waffen“ die Reichweite des Grundrechtsschutzes. Wer sich bewaffnet versammelt, muss – nach hier vertretener Auffassung – nicht automatisch unfriedlich sein. Dennoch kann er sich nicht auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Das gilt nicht nur für Teilnehmer, sondern auch für Veranstalter, Leiter und Ordner: Die Versammlungsfreiheit beinhaltet kein Recht, die Versammlung selbst bewaffnet zu schützen. Das betrifft auch den Schutz gegen tatsächlich oder vermeintlich befürchtete rechtswidrige Übergriffe von Gegendemonstranten oder gar der Polizei. Erst recht gibt es kein Recht auf Bewaffnung zum Schutz vor rechtmäßigen polizeilichen Maßnahmen.268

87Ohne Waffen versammelt sich, wer keine Waffen mitführt. Waffen in diesem Sinne sind jedenfalls technische Waffen i. S. der Definition des § 1 Abs. 2 WaffenG (Schusswaffen, Hieb- und Stoßwaffen etc.).269 Auf eventuelle Verwendungsabsichten kommt es insofern nicht an. Die Polizisten aus dem soeben verwendeten Beispiel, die ihre Dienstwaffen mitführen, würden sich daher bewaffnet versammeln.270 Nach wohl überwiegender Meinung zählen zu den Waffen darüber hinaus auch gefährliche Gegenstände, die objektiv für Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen geeignet sind und die in der Absicht entsprechender Verwendung mitgeführt werden. Beispiele sind Baseballschläger sowie Eisenketten oder -stangen.271 Die Gegenauffassung verneint die Waffenqualität dieser Gegenstände. Sie argumentiert, die erforderliche Prognoseentscheidung, die mit Blick auf die Verwendungsabsicht angestellt werden müsse, sei dieselbe, die der Entscheidung über eine unmittelbar bevorstehende Unfriedlichkeit zugrunde gelegt werden müsse.272 Im praktischen Ergebnis bewegt sich derjenige, der Gegenstände der genannten Art mitführt, also jedenfalls außerhalb des Schutzes durch Art. 8 Abs. 1 GG.

88Nicht zu den Waffen zählen Gegenstände, die objektiv nicht geeignet sind, andere Menschen zu verletzen (oder Sachen zu beschädigen). Wenn zu solchen Gegenständen jedoch Eier und faule Früchte gezählt werden,273 weil sie Betroffene nicht verletzen, sondern allenfalls der Lächerlichkeit preisgeben könnten,274 so dürfte das zu weit gehen. Maßstab für die Verletzungseignung darf nicht der mit Schutzkleidung inkl. Helm und Schild ausgestattete Polizist sein.275 Im gesicherten Bereich der Ungefährlichkeit bewegen sich etwa Papierflugzeuge.276 Bei faulen Früchten mögen einzelne Weintrauben objektiv ungefährlich sein, Äpfel eher nicht – um von Kürbissen, Wassermelonen o. ä. gar nicht erst zu sprechen.

89Auch Gegenstände zum persönlichen Schutz wie Helme, Schutzschilde oder Masken sind trotz ihrer Bezeichnung als Schutzwaffen durch § 17a VersG keine Waffen i. S. v. Art. 8 Abs. 1 GG.277 Sie unter Verstoß gegen § 17a VersG mitzuführen, lässt den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG unberührt. Das Mitführungsverbot sowie zu seiner Durchsetzung getroffene Maßnahmen sind im Lichte der Versammlungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig.278 Jedoch kann die Mitführung von Schutzwaffen ein Indiz für (drohende) Unfriedlichkeit sein und so dazu beitragen,279 dass der Grundrechtsschutz doch entfällt.280

90Auch wenn Art. 8 Abs. 1 GG das Mitführen von Waffen auf Versammlungen durch die Versagung des Grundrechtsschutzes in gewisser Weise ächtet, enthält die Vorschrift selbst doch kein „Verbot von Waffen“ auf Versammlungen.281 Ein solches Verbot findet sich auf Bundesebene jedoch in § 2 Abs. 3 VersG. Die tatbestandliche Begrenzung des grundrechtlichen Schutzes hat lediglich zur Folge, dass dieses Verbot nicht in Art. 8 Abs. 1 GG eingreift.

91b) Die Gewährleistungen der Versammlungsfreiheit. – aa) Das staatsgerichtete Abwehrrecht. Art. 8 Abs. 1 GG ist in erster Linie ein staatsgerichtetes Abwehrrecht.282 Die Vorschrift schützt vor staatlich verantworteten Beeinträchtigungen der Freiheit. Den Grundrechtsträgern steht ein Unterlassungsanspruch gegen Eingriffe zu, die der Staat nicht im Lichte des Grundrechts zu rechtfertigen vermag.283 Auch mit Blick auf Versammlungen gilt die freiheitsgrundrechtliche Normallage im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern: Der Bürger muss sich für seine Entscheidung, sich zu versammeln, genauso wenig rechtfertigen wie für den Versammlungsort, den Versammlungszeitpunkt, die Versammlungsfrequenz, andere Versammlungsmodalitäten oder die auf der Versammlung vertretenen Positionen. Die Rechtfertigungslast liegt vielmehr beim Staat: Dieser muss Einschränkungen des von den Grundrechtsträgern gewünschten Verhaltens rechtfertigen. Damit das gelingen kann, muss er sich der Formen und Verfahren bedienen, die Art. 8 GG verlangt. Vor allem aber muss er inhaltliche Gründe für seine Einschränkungen vorweisen können, die vor der Versammlungsfreiheit Bestand haben.

92bb) Die grundrechtliche Schutzpflicht. Von den übrigen Wirkungsdimensionen des Grundrechts, die meist unter dem Titel der objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte diskutiert und behandelt werden,284 stellt die Schutzpflicht die praktisch wichtigste dar. Die Lehre von den Schutzpflichten besagt generell, dass die Freiheitsrechte dem Staat nicht nur Eingriffe in die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter grundsätzlich verbieten, sondern dass sie ihn zugleich verpflichten, sich schützend vor diese Rechtsgüter zu stellen und sie vor Gefahren u. a. durch (private) Dritter zu bewahren.285 Dieser Pflicht des Staates korrespondiert ein Anspruch des einzelnen Grundrechtsträgers, der sich freilich in aller Regel nicht auf ganz bestimmte staatliche Maßnahmen richtet, sondern nur auf ein Mindestmaß an staatlichem Schutz.286 Adressat der grundrechtlichen Schutzpflichten sind alle drei Staatsgewalten: Der Gesetzgeber muss Regelungen erlassen, die die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter vor Gefahren abschirmen; Verwaltung und Rechtsprechung müssen im Rahmen der Gesetzesanwendung und unter Ausnutzung der ihnen ggf. eröffneten Spielräume ihrerseits die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter gegenüber Gefahren durch Dritte schützen.

93Dieser allgemeine Befund gilt auch für Art. 8 Abs. 1 GG. Das Grundrecht verpflichtet den Staat dazu, die Rechtsordnung versammlungsfreundlich einzurichten und die einschlägigen Vorschriften entsprechend anzuwenden. Die staatlichen Organe müssen Versammlungen unterstützen, die sich im Rahmen der Gesetze bewegen, und haben sie vor Störungen durch Dritte zu schützen.287 Das wirkt sich in unterschiedlichen Bereichen aus.

94Von besonderer Bedeutung ist die Pflicht zum Schutz von Versammlungen vor Störungen durch Dritte. Wer sich innerhalb der tatbestandlichen Grenzen des Art. 8 Abs. 1 GG versammeln will, dem muss der Staat dies – vorbehaltlich eigener Möglichkeiten des Einschreitens z. B. bei strafbaren Äußerungen – ermöglichen. Das gilt auch in den Fällen, in denen das Anliegen der Versammlungsteilnehmer den Unmut anderer auslöst und zu Protesten sogar einer übergroßen Mehrheit führt. Entsprechendes lässt sich für alle anderen Facetten des Grundrechts sagen: Welche Positionen wann, wo und durch wen im Rahmen von Versammlungen vertreten werden dürfen, ist keine Frage, die einer Mehrheitsentscheidung (oder einer Entscheidung des in Wahrheit auf Neutralität verpflichteten Staates)288 zugänglich wäre oder die von anders gesinnten Bevölkerungsgruppen wie z. B. den Bewohnern eines bestimmten Stadtteils verbindlich beantwortet werden dürfte.289 Zwar können sich die Teilnehmer einer Gegendemonstration, wenn sie sich friedlich verhalten, ebenfalls auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Das gibt ihnen aber nur das Recht, sich selbst zu versammeln. Das Recht, eine andere Versammlung ganz oder teilweise zu verhindern, kennt das GG hingegen ebenso wenig wie das Recht, am eigenen Wohnort von der Zurschaustellung bestimmter Auffassungen unbehelligt zu bleiben. Das gilt auch mit Blick auf die Ränder des politischen Spektrums: Wenn sich Linksextremisten in einer sog. „No-Go-Area“ versammeln wollen, die von Rechtsextremisten dominiert wird,290 genießen sie – solange sie sich friedlich verhalten – den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG, so dass ihnen die Durchführung ihrer Versammlung ermöglicht werden muss. Umgekehrt gilt nichts anderes: Solange sie sich friedlich verhalten, dürfen Rechtsextremisten an Orten demonstrieren, die Linksextremisten als ihr Terrain reklamieren, und müssen vor Übergriffen, Blockaden etc. geschützt werden. Das gilt auch an so symbolträchtigen Orten wie z. B. der „Roten Flora“ in Hamburg. Auch rechtsgerichtete und/oder die in dem Gebäude herrschenden Zustände kritisierende Demonstranten haben ein Recht darauf, sich im Rahmen der freien Wahl des Versammlungsortes für eine Demonstration unmittelbar vor dem Gebäude zu entscheiden. Eine behördliche Verlegung einer unmittelbar vor der „Roten Flora“ geplanten Versammlung von Personen aus dem rechten Spektrum an einen ca. 1 km entfernten Ort wegen der sonst zu befürchtenden Übergriffe durch die Bewohner kann nur unter den Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands – ein Schutz der Versammlung ist trotz des Einsatzes aller verfügbaren Polizeikräfte nicht möglich – rechtmäßig sein. Weil im Eilverfahren nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die Voraussetzungen des Notstands vorlagen, hat das BVerfG einen gegen die Verlegung gerichteten Eilantrag abgelehnt.291 Soweit der Vorgang belegt, „dass in Hamburg (nicht wesentlich anders als in anderen Großstädten) mancherorts selbst mit massiver Polizeipräsenz das geltende Recht nicht durchgesetzt werden kann“, ist das sicherlich bedauerlich,292 aber eben nicht nur das: Es ist ein Zustand, den der Staat von Verfassungs wegen nicht hinnehmen darf.

Das Recht auf Schutz reicht freilich schon tatbestandlich nicht unbegrenzt weit. Art. 8 Abs. 1 GG gewährt keinen Anspruch auf Freiheit von jedem Protest: Die Teilnehmer der Anlassversammlung können nicht verlangen, dass Gegendemonstranten in einem Maße auf Distanz gehalten werden, dass sie nicht einmal mehr zu hören sind. Wenn aber auf der Anlassversammlung Reden gehalten werden sollen, dann gebietet die grundrechtliche Schutzpflicht, die Gegendemonstranten soweit auf Abstand zu halten, dass die Reden für die Teilnehmer der Anlassversammlung verständlich bleiben. Die Festlegung eines zu weiten Abstandes würde die Teilnehmer der anderen Veranstaltung – die sich, Friedlichkeit vorausgesetzt, ja ihrerseits ebenfalls auf Art. 8 Abs. 1 GG berufen können – in diesem Grundrecht verletzen. Die Erfüllung der Schutzpflicht ist (wie es regelmäßig der Fall ist) also mit Eingriffen in Grundrechte Dritter verbunden, bei denen es sich ebenfalls um die Versammlungsfreiheit handeln kann. Diese Eingriffe müssen wiederum verhältnismäßig sein.

95Adressaten der Schutzpflicht sind aber nicht allein die zuständigen Behörden, die im Einzelfall für den Schutz vor Störern zu sorgen haben, sondern auch – und in erster Linie – die Gesetzgeber. Es obliegt den (heute: Landes-)Parlamenten Regelungen zu erlassen, die die Versammlungsbehörden in die Lage versetzen, Versammlungen vor Störungen durch Dritte zu schützen. Dem kommen die Gesetzgeber durch Regelungen wie § 15 VersG ebenso nach wie z. B. durch die Strafvorschrift des § 21 VersG.

96cc) Die Wirkungen gegenüber Privaten. Art. 8 GG bindet – allgemeinen Regeln der Grundrechtsdogmatik folgend – Legislative, Exekutive und Judikative gem. Art. 1 Abs. 3 GG als unmittelbar geltendes Recht. Diese Bindung des Staates ist umfassend. Sie erstreckt sich auf jedes Handeln staatlicher Organe oder Organisationen293 ebenso wie auf öffentliche Unternehmen in Privatrechtsform, die vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, sowie auf gemischtwirtschaftliche – also z. T. dem Staat, z. T. Privaten gehörende – Unternehmen, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden.294

97Anders verhält es sich bei „echten“ Privaten. Sie sind nicht an Grundrechte gebunden: Eine „unmittelbare Drittwirkung“ von Grundrechten wird – zumindest traditionell – allgemein abgelehnt.295 Ein Bürger kann gegenüber einem anderen Bürger schon deshalb keine grundrechtlichen Ansprüche haben, weil deren vermeintlicher Adressat seinerseits ebenfalls Grundrechtsträger ist. Das bedeutet freilich nicht, dass Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten vollkommen bedeutungslos wären. Vielmehr ist anerkannt, dass Grundrechte auch in das Privatrecht hineinwirken. Sie sind bei der Auslegung und Anwendung von privatrechtlichen Vorschriften – insbesondere von Generalklauseln – zu berücksichtigen.296 Das wird meist als mittelbare Drittwirkung bezeichnet.

98Für die Versammlungsfreiheit werden diese Überlegungen relevant, wenn die Versammlung auf einem Privatgrundstück stattfinden soll. Vor staatlichen Zugriffen genießt sie auch dort den Schutz des Art. 8 GG. Jedoch richtet sich dieses Grundrecht (jedenfalls nach der tradierten Sichtweise)297 nicht gegen den Eigentümer des Grundstücks: Seine Entscheidung, die Versammlung nicht auf seinem Grundstück zuzulassen, ist nicht unmittelbar an Art. 8 GG zu messen. Das Grundrecht kann – soweit die betreffenden zivilrechtlichen Vorschriften dafür Raum lassen – lediglich mittelbar relevant werden, wenn er von seinen Eigentümerrechten Gebrauch macht.298

99Im Vergleich mit einer (hypothetischen) unmittelbaren Drittwirkung muss das freilich nicht zu einer schwächeren Bindung des privaten Eigentümers führen. In der Fraport-Entscheidung führt das BVerfG aus, es sei nicht ausgeschlossen, dass Private „etwa im Wege der mittelbaren Drittwirkung“ unbeschadet ihrer eigenen Grundrechte ähnlich oder auch genauso weit durch die Grundrechte in Pflicht genommen würden, insbesondere wenn sie in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- oder Garantenstellung hineinwüchsen wie traditionell der Staat. Und weiter: Die unmittelbare Grundrechtsbindung öffentlich beherrschter Unternehmen unterscheide sich zwar grundsätzlich „von der in der Regel nur mittelbaren Grundrechtsbindung, der auch Private und Privatunternehmen – insbesondere nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung und auf der Grundlage von staatlichen Schutzpflichten – unterworfen sind.“ Während diese auf einer prinzipiellen Rechenschaftspflicht gegenüber dem Bürger beruhe, diene jene dem Ausgleich bürgerlicher Freiheitssphären untereinander und sei damit von vornherein relativ. Das bedeute „jedoch nicht, dass die Wirkung der Grundrechte und damit die – sei es mittelbare, sei es unmittelbare – Inpflichtnahme Privater in jedem Fall weniger weit reicht.“ Je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung könne die mittelbare Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates vielmehr nahe- oder auch gleichkommen. Für den Schutz der Kommunikation komme das insbesondere dann in Betracht, „wenn private Unternehmen die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die – wie die Sicherstellung der Post- und Telekommunikationsdienstleistungen – früher dem Staat als Aufgabe der Daseinsvorsorge zugewiesen waren.“299

100In der Fraport-Entscheidung selbst kam es darauf zwar nicht an, weil die Flughafenbetreiberin als von der öffentlichen Hand beherrschtes Unternehmen unmittelbar an die Versammlungsfreiheit gebunden war: Das Gericht erklärt ausdrücklich, es bedürfe im konkreten Fall keiner Entscheidung, wieweit die vorstehend skizzierte Konstruktion (Grundrechtsbindung Privater, die die Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation bereitstellen) „in Bezug auf die Versammlungsfreiheit oder die Freiheit der Meinungsäußerung auch für materiell private Unternehmen“ gelte, „die einen öffentlichen Verkehr eröffnen und damit Orte der allgemeinen Kommunikation schaffen“.300

101Gleichwohl erläutert es in seinen Ausführungen zum Schutzbereich, in welchen Konstellationen die Grundrechtsbindung Privater ebenso intensiv sein kann wie die des Staates: Die Versammlungsfreiheit erstrecke sich auch auf „Stätten außerhalb des öffentlichen Straßenraums, an denen in ähnlicher Weise ein öffentlicher Verkehr eröffnet ist und Orte der allgemeinen Kommunikation entstehen. Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder sonstige Begegnungsstätten ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können.“ Das gelte „unabhängig davon, ob die Flächen sich in eigenen Anlagen befinden oder in Verbindung mit Infrastruktureinrichtungen stehen, überdacht oder im Freien angesiedelt sind.“ Orte allgemeinen kommunikativen Verkehrs, die neben dem öffentlichen Straßenraum für die Durchführung von Versammlungen in Anspruch genommen werden könnten, seien „zunächst nur solche, die der Öffentlichkeit allgemein geöffnet und zugänglich sind. Ausgeschlossen sind demgegenüber zum einen Orte, zu denen der Zugang individuell kontrolliert und nur für einzelne, begrenzte Zwecke gestattet wird.“ Zum anderen beantworte sich „die Frage, ob ein solcher außerhalb öffentlicher Straßen, Wege und Plätze liegender Ort als ein öffentlicher Kommunikationsraum zu beurteilen ist, nach dem Leitbild des öffentlichen Forums“. Dieses sei „dadurch charakterisiert, dass auf ihm eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht. Abzugrenzen ist dies von Stätten, die der Allgemeinheit ihren äußeren Umständen nach nur zu ganz bestimmten Zwecken zur Verfügung stehen und entsprechend ausgestaltet sind. Wenn Orte in tatsächlicher Hinsicht ausschließlich oder ganz überwiegend nur einer bestimmten Funktion dienen, kann in ihnen – außerhalb privater Nutzungsrechte – die Durchführung von Versammlungen nach Art. 8 Abs. 1 GG nicht begehrt werden. Anders ist dies indes dort, wo die Verbindung von Ladengeschäften, Dienstleistungsanbietern, Restaurationsbetrieben und Erholungsflächen einen Raum des Flanierens schafft und so Orte des Verweilens und der Begegnung entstehen. Werden Räume in dieser Weise für ein Nebeneinander verschiedener, auch kommunikativer Nutzungen geöffnet und zum öffentlichen Forum, kann aus ihnen gemäß Art. 8 Abs. 1 GG auch die politische Auseinandersetzung in Form von kollektiven Meinungskundgaben durch Versammlungen nicht herausgehalten werden. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet den Bürgern für die Verkehrsflächen solcher Orte das Recht, das Publikum mit politischen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Konflikten oder sonstigen Themen zu konfrontieren. Solche Möglichkeiten, Aufmerksamkeit zu erzielen, sind als Grundlage der demokratischen Willensbildung mit der Versammlungsfreiheit gewollt und bilden ein konstituierendes Element der demokratischen Staatsordnung.“301

102Die auch Private treffende Bindung wird, das sei klarstellend hervorgehoben, zumindest derzeit noch über die tradierte Figur der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte hergeleitet. Die Fraport-Entscheidung deutet freilich darauf hin, dass das womöglich nicht dauerhaft so bleiben muss. Dass Private „etwa“ im Wege der mittelbaren Drittwirkung grundrechtlich verpflichtet werden, dass sie einer „in der Regel nur mittelbaren Grundrechtsbindung“ unterliegen und dass das BVerfG „die – sei es mittelbare, sei es unmittelbare – Inpflichtnahme Privater“ nennt, weist auf die Möglichkeit einer unmittelbaren Drittwirkung bzw. Grundrechtsbindung zumindest für exzeptionell gelagerte Fälle hin. Bislang ist es freilich bei der Andeutung geblieben. In der späteren Entscheidung zum sog. „Bierdosen-Flashmob“302 nimmt das BVerfG eine nur mittelbaren Grundrechtsbindung des Grundstückseigentümers an die Versammlungsfreiheit an. Zugleich bekräftigt es, dass diese ebenso weit reichen kann wie eine unmittelbare Grundrechtsbindung. Auch die – freilich nicht auf die Versammlungs­freiheit bezogenen – Entscheidungen zu sog. Stadionverboten303 sowie zum Hausverbot in einem Hotel304 gehen von einer (nur) mittelbaren Grundrechtsbindung Privater aus.

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