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2.Die Abgrenzung zwischen Versammlung und Ansammlung im Einzelnen

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210a) Grundsatz. Die rechtliche Beurteilung muss sich danach richten, ob die Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach der öffentlichen Meinungsbildung ­dienen soll oder ob andere Zwecke wie Spaß, Tanz oder Unterhaltung im ­Vordergrund stehen. Bleiben Zweifel, so bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung behandelt wird.567

211b) Prüfung. Die Prüfung, ob eine „gemischte“ Veranstaltung eine Versammlung ist, muss im Einzelnen dreischrittig in der folgenden Weise erfolgen568:

212Zunächst sind alle diejenigen Modalitäten der geplanten Veranstaltung zu erfassen, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung zielen. Zu vernachlässigen sind solche Anliegen und die ihrer Umsetzung dienenden Elemente, bei denen erkennbar ist, dass mit ihnen nicht ernsthaft die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung bezweckt wird, die mithin nur vorgeschoben sind, um den Schutz der Versammlungsfreiheit beanspruchen zu können. Bei der Ausklammerung von an sich auf die Meinungsbildung gerichteten Elementen unter Hinweis auf die mangelnde Ernsthaftigkeit des Anliegens ist mit Blick auf die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit Zurückhaltung zu üben und ein strenger Maßstab anzulegen. In die Betrachtung einzubeziehen sind nur Elemente der geplanten Veranstaltung, die sich aus Sicht eines durchschnittlichen Betrachters als auf die Teilhabe an der Meinungsbildung gerichtet darstellen. Abzustellen ist in erster Linie auf einen Außenstehenden, der sich zum Zeitpunkt der Veranstaltung an ihrem Ort befindet. Auf diesen Betrachter kommt es deshalb in erster Linie an, weil eine Versammlung vorrangig durch ihre Präsenz an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auf die öffentliche Meinung einwirken will. Es können aber auch Umstände von Bedeutung sein, die nicht von einem Außenstehenden „vor Ort“ wahrgenommen werden können. So liegt es etwa, wenn im Rahmen von den Veranstaltern zurechenbaren öffentlichen Äußerungen im Vorfeld der Veranstaltung zum Ausdruck gebracht wird, dass mit der Veranstaltung auf die öffentliche Meinungsbildung eingewirkt werden soll, diesen Äußerungen die Ernsthaftigkeit nicht abgesprochen werden kann und sie von einem durchschnittlichen Betrachter wahrgenommen werden können. Solche Äußerungen sind jedenfalls dann von Relevanz, wenn bei der geplanten Veranstaltung selbst Elemente der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung für einen Außenstehenden erkennbar sind. In diesem Fall erweisen sich die Äußerungen im Vorfeld als gewichtiges Indiz dafür, dass die geplante Veranstaltung mit Ernsthaftigkeit auch auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist.569 Abgesehen davon muss eine Versammlung sich nicht zwingend an „unbeteiligte“ Außenstehende richten, um auf die öffentliche Meinungsbildung gerichtet zu sein; es genügt auch die Meinungsbildung der vor Ort befindlichen Teilnehmer570. Im Anschluss an die Erfassung der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte sind diese ihrer Bedeutung entsprechend zu würdigen und in ihrer Gesamtheit zu gewichten.

213Daran schließt sich der zweite Schritt der Gesamtschau an, bei dem die nicht auf die Meinungsbildung zielenden Modalitäten der Veranstaltung, wie etwa Tanz, Musik und Unterhaltung, zu würdigen und insgesamt zu gewichten sind.

214Schließlich sind – in einem dritten Schritt – die auf den ersten beiden Stufen festgestellten Gewichte der die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung betreffenden Elemente einerseits und der von diesen zu unterscheidenden Elemente andererseits zueinander in Beziehung zu setzen und aus der Sicht eines durchschnittlichen Betrachters zu vergleichen. Überwiegt das Gewicht der zuerst genannten Elemente, ist die Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung. Im umgekehrten Fall genießt die Veranstaltung nicht den Schutz des Versammlungsrechts. Ist ein Übergewicht des einen oder des anderen Bereichs nicht zweifelsfrei festzustellen, ist die Veranstaltung wie eine Versammlung zu behandeln.

215c) Abgrenzungsfälle. Nicht unter den Versammlungsbegriff fallen Volksfeste und Vergnügungsveranstaltungen ebenso wie Veranstaltungen, die der bloßen Zurschaustellung eines Lebensgefühls dienen oder die als eine auf Spaß und Unterhaltung ausgerichtete öffentliche Massenparty gedacht sind. Musik- und Tanzereignisse verlieren ihren Charakter als bloße Ansammlung nicht schon dadurch, dass mit ihnen Kundgabezwecke verbunden werden. In den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen Versammlungen zwar auch dann, wenn sie ihre kommunikativen Zwecke unter Einsatz von Musik und Tanz verwirklichen.571 Dies ist zu bejahen, wenn diese Mittel zur kommunikativen Entfaltung mit dem Ziel eingesetzt werden, auf die öffentliche Meinungsbildung einzuwirken. Eine Musik- und Tanzveranstaltung wird jedoch nicht allein dadurch insgesamt zu einer Versammlung, dass bei ihrer Gelegenheit auch Meinungskundgaben erfolgen. Wenn das Schwergewicht der Veranstaltung auf dem Gebiet der Unterhaltung liegt und die Meinungskundgabe nur beiläufiger Nebenakt ist, ist Versammlungsrecht nicht anwendbar.572

216Als Versammlungen einzustufen sind hingegen Konzerte mit ausdrücklicher politischer Botschaft (z. B. „Rock gegen Rechts“; „Rock für Dortmund – Laut gegen Sozialabbau, Masseneinwanderung und Perspektivlosigkeit“573) und sonstige Konzertveranstaltungen o. Ä.574, sofern das einigende Band existiert.575 Gleiches gilt regelmäßig auch für Skinhead-Konzerte. Ein Konzert rechtsextremistischer Skinheadbands dient typischerweise nicht nur dem Musikkonsum und der Unterhaltung, sondern auch der Rekrutierung neuer Anhänger und deren ideologischer Festigung. Lässt sich im Einzelfall nicht zweifelsfrei feststellen, dass die nicht auf die Meinungsbildung zielenden Modalitäten der Veranstaltung überwiegen, ist ein solches Konzert wie eine Versammlung zu behandeln.576

217Sportveranstaltungen sind als solche in der Regel keine Versammlung. Ebensowenig ist das „Public Viewing“ von Sportereignissen als Versammlung einzustufen. Auch das gemeinsame Feiern eines Sieges, zu Fuß oder in Form eines Autocorsos, stellt keine Versammlung dar.577 Sofern allerdings Sportfans sich zusammentun, um innerhalb oder außerhalb des Stadions gemeinsam ein bestimmtes Anliegen zu vertreten (sei es die Unterstützung „ihrer“ Mannschaft, sei es Kritik an der Vereinspolitik o. Ä.), ist dies als Versammlung zu werten.578

218Als Versammlung einzuordnen sein kann auch das Phänomen „Flash Mob.579 Dabei verabreden sich (auch einander) Unbekannte über das Internet, um zu einer ganz bestimmten Zeit gemeinsam zu agieren. Selbst wenn das gemeinsame Verhalten „Spaß“ sein mag, so ist doch ein kommunikatives Element vorhanden. Hier wird man ähnlich wie bei Musikveranstaltungen unterscheiden müssen, ob mit dem Flash Mob eine auf die öffentliche Meinungsbildung zielende Botschaft transportiert werden soll. Das ist etwa bei einer bloßen Schneeballschlacht nicht der Fall (also bloße Ansammlung), soll mit einer (äußerlich davon nicht zu unterscheidenden!) Schneeballschlacht hingegen auf den Klimawandel (weniger Schnee …) und die Notwendigkeit dem entgegensteuernder politischer Maßnahmen hingewiesen werden, stellt das Ganze eine Versammlung dar.

219Zu differenzieren ist bei geselligen Zusammenkünften von Mitgliedern und Anhängern politischer Organisationen. Ein geselliges Beisammensein mit kulturellen Darbietungen unterfällt als solches nicht dem von der h. M. angewendeten engen Versammlungsbegriff. Ein ohne politische Reden stattfindendes Sommerfest einer Partei oder Gewerkschaft im Kreise der Mitglieder wird nicht als Versammlung einzustufen sein. Im Falle eines engen Bezuges z. B. eines „Kameradschaftsabends“ zu einem laufenden oder vorangegangen Parteitag kann jedoch zu erwarten sein, dass auch über Personen und Inhalte des Parteitages diskutiert, der Parteitag gewissermaßen „nachbereitet“ wird. Dies stellt eine Meinungsbildung bzw. -äußerung in Gruppenform dar. Damit ist eine politische Komponente gegeben, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, eine solche Veranstaltung dem Versammlungsbegriff – mit dem daraus folgenden Schutz – zu unterwerfen.580 Gleiches muss gelten für gesellige Zusammenkünfte, die zu einer anderen politischen Aktivität (z. B. einer Demonstration) oder einem politischen (oder politisch bedeutsamen historischen) Ereignis in engem Zusammenhang stehen.

220Die Aufstellung eines Informationsstandes als solche genießt nicht den Schutz der Versammlungsfreiheit.581 Dies gilt auch für den durch Verteilung politischer Schriften ausgeübten Betrieb eines Informationsstandes, mit dem den Vorübergehenden ein einseitiges Informationsangebot gemacht werden soll. Solche Informationsstände zielen auf individuelle Kommunikation mit zufällig des Weges kommenden Einzelpersonen ab, nicht auf Kommunikation mittels einer eigens zu diesem Zweck veranlassten Gruppenbildung. Den sich an Informationsständen bildenden Personenansammlungen fehlt die innere Bindung, die das Wesen einer Versammlung ausmacht und dazu führt, dass die Versammelten sich als überpersonales Ganzes verstehen. Die jeweils vor und hinter dem Informationsstand ungebunden anwesende Personenmehrheit stellt lediglich eine Ansammlung dar.

221Dass auf einer Veranstaltung auch Informationen angeboten werden, schließt jedoch die Annahme einer Versammlung nicht zwingend aus. Eine Versammlung liegt vor, wenn das Informationsangebot der Vermittlung des politischen Mottos der Veranstaltung dient und darauf zielt, Außenstehende einzubeziehen, damit diese in einen Prozess der kollektiven Meinungsbildung und -äußerung im Interesse der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung eintreten.582 Das Informationsangebot erweist sich dann als Bestandteil einer aus anderen Gründen zu bejahenden Versammlung. Eine Versammlung kann bereits in den an einem Informationsstand präsenten Initiatoren bestehen, wenn diese nicht nur ein einseitiges Informationsangebot im Zusammenhang mit dem Veranstaltungsthema unterbreiten, sondern ihrer Haltung zu einem bestimmten politischen Thema Ausdruck verleihen wollen, was als kollektive Meinungsäußerung im Interesse der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung anzusehen ist.583 Erst recht liegt eine Versammlung vor, wenn die Informationen Mittel zum Zweck sein sollen, bei den Außenstehenden den angestrebten Vorgang der Meinungsbildung und -äußerung in Gruppenform einzuleiten oder zu fördern. Die Informationsvermittlung ist dann Bestandteil einer Veranstaltung, die der kollektiven Meinungsbildung und -äußerung dient, wie sie einer Versammlung zu eigen ist. Anders als dies bei einem bloßen Informationsstand der Fall ist, ist die Veranstaltung dann auf die Einbeziehung Außenstehender angelegt. Es soll auch auf den Meinungsbildungsprozess der am Ort der Veranstaltung sich befindenden Personen Einfluss genommen werden. Die anwesenden Personen sind in solchen Fällen untereinander und mit den Initiatoren durch einen gemeinsamen kommunikativen Zweck, nämlich die gemeinschaftliche Beteiligung an dem genannten Prozess, innerlich verbunden.584 Das gilt unabhängig davon, ob die Diskutierenden die Haltung der Initiatoren zu dem von diesen angesprochenen politischen Thema teilen. Im Gegensatz zu dem gemeinsamen kommunikativen Zweck ist die Übereinstimmung der Meinungen nämlich für eine Versammlung nicht konstituierend.585 Letztlich kommt es also für die Einstufung der um einen Informationsstand gruppierten Menschen als Versammlung darauf an, ob lediglich Informationen verteilt und mitgenommen werden (dann bloße Ansammlung) oder ob vor Ort eine Meinungskundgabe oder ein Meinungsaustausch stattfindet (dann Versammlung).

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