Читать книгу Handbuch Versammlungsrecht - Группа авторов - Страница 26
5.Konkurrenzfragen
Оглавление137Die Frage nach der Abgrenzung des Art. 8 Abs. 1 GG zu anderen Grundrechten stellt sich mit Blick auf mehrere Verbürgungen.
138Die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG tritt als subsidiäres Auffanggrundrecht hinter Art. 8 Abs. 1 GG zurück. Das gilt zunächst, soweit die Versammlungsfreiheit in persönlicher und sachlicher Hinsicht selbst Schutz gewährt. Wer sich zu einer bloßen Ansammlung gesellt, kann sich ebenso auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen407 wie die Teilnehmer einer friedlichen und waffenlosen Versammlung von (Nicht-EU-)Ausländern.408 Unfriedliche oder bewaffnete Versammlungen hingegen werden aus dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG zwar explizit ausgenommen, werden aber gleichwohl nicht von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.409 Wenn z. T. angenommen wird, Art. 2 Abs. 1 GG ermögliche auch in diesen Fällen, die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze wie z. B. des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durchzusetzen,410 vermag dies nicht zu überzeugen: Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme ist der zentrale inhaltliche Prüfstein für ihre Verfassungsmäßigkeit. Faktisch würde der (richtigerweise abgelehnte) Schutz durch die allgemeine Handlungsfreiheit so gerade wieder herbeigeführt. Damit ist nicht gesagt, dass der Staat gegenüber unfriedlichen Versammlungen in unverhältnismäßiger Art und Weise vorgehen dürfte: Als Bestandteil des objektiven Verfassungsrechts bindet das Gebot der Verhältnismäßigkeit den Staat. Seine Verletzung ist verfassungswidrig, aber kein Grundrechtsverstoß.411
139Gegenüber dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, das durch Aufnahmen von Personen in Bild und Ton tangiert wird, wird Art. 8 Abs. 1 GG häufig als lex specialis betrachtet, soweit es um Versammlungsteilnehmer geht.412 Dabei fehlt jedoch regelmäßig die Herleitung einer (das Allgemeine Persönlichkeitsrecht verdrängenden) Spezialität.413 Vorzugswürdig erscheint daher die Annahme von Idealkonkurrenz, also der parallelen Anwendbarkeit beider Grundrechte. Selbst wenn man dem nicht beitreten mag, muss das (vermeintliche) Spezialitätsverhältnis jedenfalls dort enden, wo die Versammlungsfreiheit nicht mehr einschlägig ist. Das wird man für eine weitere Verwendung der Aufnahmen jenseits versammlungsspezifischer Zwecke annehmen müssen, die folglich am Allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu messen ist.
140Auch für das Verhältnis der Versammlungsfreiheit zum Grundrecht auf körperliche Bewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG wird angenommen, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG werde durch Art. 8 Abs. 1 GG als lex specialis verdrängt.414 Einkesselungen oder vergleichbare Maßnahmen wären danach letztlich allein an Art. 8 Abs. 1 GG zu messen. Wie diese Verdrängung des Art. 2 Abs. 2 GG bewirkt wird, woraus also die vermeintliche Spezialität des Art. 8 Abs. 1 GG resultiert, bleibt offen. Die Annahme von Idealkonkurrenz erscheint mindestens ebenso plausibel.
141Für den Schutz religiöser Versammlungen wird die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG häufig als die speziellere Norm gegenüber Art. 8 Abs. 1 GG angesehen.415 Das führt wegen der vorbehaltlosen Gewährleistung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG zu einem stärkeren Schutz religiöser gegenüber anderen Versammlungen. Zum Teil wird diese Spezialität nur mit Blick auf Maßnahmen angenommen, die sich spezifisch gegen religiöse Inhalte richten. Gegenüber Maßnahmen, mit denen auf Gefahren (irgendeiner) Versammlung reagiert wird, soll nur der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG bestehen.416 Nach dieser Konzeption genießen religiöse Versammlungen keinen verstärkten Schutz, wenn sie aus nicht religionsbezogenen Gründen – also z. B. zur Verhinderung der Verbreitung von Krankheiten –417 eingeschränkt werden. Richtigerweise wird man jedoch Idealkonkurrenz zwischen der Glaubens- und der Versammlungsfreiheit annehmen können.418 Eingriffe sind daher wegen der vorbehaltlosen Verbürgung des Art. 4 Abs. 1, 2 GG nur zum Schutz kollidierender Güter von Verfassungsrang möglich. Zudem kann das besondere Gewicht von religiösen Versammlungen auch gegenüber Einschränkungen aus nicht religionsspezifischen Gründen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit in Ansatz gebracht werden. Ein Gottesdienstverbot z. B. greift auch dann gravierend in die Religionsausübung ein, wenn es allein der Eindämmung einer Pandemie dient und sich nicht gegen Glaubensinhalte richtet. Im Ergebnis können religiöse Versammlungen daher auch gegenüber solchen Maßnahmen stärkeren Schutz genießen als nicht religiöse Versammlungen. Die praktische Bedeutung dieser Überlegung wird freilich dadurch gemindert, dass die §§ 14–16 VersG nach § 17 VersG u. a. für Gottesdienste unter freiem Himmel und andere religiöse Versammlungen wie z. B. Prozessionen nicht gelten.419
142Von besonderer Bedeutung ist die Abgrenzung zur Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 Hs. 1 GG. Bei Versammlungen, die staatlichen Einschränkungen ausgesetzt sind, wird es sich zumindest in den allermeisten Fällen um solche handeln, die der Meinungskundgabe dienen. Sofern man die kollektive Meinungsäußerung als Voraussetzung für den Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG ansieht,420 ist das sogar zwingend.
143Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, die gerade das örtliche Zusammenkommen mit anderen schützt, ist betroffen, wenn eine Versammlung (präventiv) verboten bzw. (nach ihrem Beginn) aufgelöst wird oder wenn die Art und Weise ihrer Durchführung durch staatliche Maßnahmen beschränkt wird. Dagegen ist der Schutzbereich der Meinungsfreiheit betroffen, soweit eine staatliche Maßnahme Inhalt und Form einer Meinungsäußerung beschränkt.421 Für die Bestimmung des Verhältnisses der beiden Grundrechte gilt im Ausgangspunkt, dass sie nebeneinander anwendbar sind.422 Ein und dieselbe staatliche Maßnahme kann also an beiden Grundrechten zu messen sein. Jedoch richtet sich die Zulässigkeit von Einschränkungen letztlich danach, ob sie sich gegen bestimmte Meinungsäußerungen oder gegen versammlungsspezifische Verhaltensweisen richten: Im ersten Fall ist der primäre Prüfungsmaßstab die Meinungs-, im zweiten Fall die Versammlungsfreiheit.423 Das BVerfG verknüpft die beiden Grundrechte freilich auf der Schrankenebene:424 Nach seiner Konzeption kann der Inhalt von Meinungsäußerungen, die auf Grund von Art. 5 GG nicht unterbunden werden dürfen, auch nicht zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Versammlungsfreiheit herangezogen werden.425 Dagegen ist jedenfalls im praktischen Ergebnis nichts einzuwenden. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob es dieser Grundrechtsverschränkung bedarf: Die betreffende staatliche Maßnahme ist ja schon wegen des Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 GG verfassungswidrig. Daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn sie nicht zugleich gegen Art. 8 Abs. 1 GG verstoßen würde.