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2.Versammlungsgesetze und StPO
Оглавление195Zum Verhältnis zwischen StPO und Versammlungsgesetz(en) geht die ganz überwiegende und – soweit ersichtlich – auch in der Rechtsprechung516 nicht in Zweifel gezogene Literatur-Auffassung dahin, dass während einer Versammlung grundsätzlich Maßnahmen nach der StPO getroffen werden können517, mit anderen Worten eine „StPO-Festigkeit“ der Versammlung nicht besteht518. Grundsätzliche Zweifel hieran wären unangebracht. Denn das Verhältnis zwischen den Versammlungsgesetzen als Teil des besonderen Gefahrenabwehrrechts und der StPO kann nicht prinzipiell anders sein als das zwischen allgemeinen Gefahrenabwehrgesetzen und der StPO; die spezialgesetzliche Regelung wirft nur Probleme zwischen ihr selbst und der allgemeinen Regelung auf, nicht aber neue Fragen für das Verhältnis zu einem anderen Rechtsgebiet. Prävention und Repression stehen als unterschiedliche Aufgaben nebeneinander. Soweit ausschließlich Maßnahmen auf einer der beiden Grundlagen (StPO oder Versammlungsgesetz) in Betracht kommen, besteht normalerweise kein Anlass, sich überhaupt mit dem jeweils anderen Rechtsgebiet zu beschäftigen.519
196Anderes gilt indes bei doppelfunktionalen Maßnahmen, d. h. Eingriffen, die sich sowohl auf die StPO als auch auf das Gefahrenabwehrrecht (speziell das Versammlungsgesetz) stützen ließen. Es gibt insoweit weder einen allgemeinen Vorrang der StPO gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht noch umgekehrt.520 Hier besteht die Gefahr einer Umgehung der versammlungsrechtlichen Normen durch Maßnahmen, die vordergründig nach der StPO begründet werden, tatsächlich aber präventiven Charakter haben. In diesem Zusammenhang hat etwa das VG Köln entschieden, dass die Einleitung von strafprozessualen Maßnahmen gegen sämtliche Teilnehmer einer Versammlung im Ergebnis einer Auflösung der Versammlung gleichkomme (und dementsprechend an den für eine Auflösung geltenden Voraussetzungen zu messen wäre?), ohne indes eine wirksame Auflösungsverfügung darzustellen521. Eine Umgehung versammlungsrechtlicher Normen dadurch, dass in Wirklichkeit präventive Maßnahmen auf die StPO gestützt werden, wäre insofern besonders problematisch, als die versammlungsgesetzlichen Normen auf Versammlungen zugeschnitten sind und grundsätzlich bereits die Bedeutung der Versammlungsfreiheit beachten, wogegen die Vorschriften der StPO allgemeiner Natur sind und auf die Versammlungsfreiheit keine besondere Rücksicht nehmen. In vielen typischen Konstellationen kommt hinzu, dass die Bestimmungen der Versammlungsgesetze (eben wegen der Bedeutung der Versammlungsfreiheit) strengere Anforderungen an einen Eingriff stellen, als es das allgemeine Gefahrenabwehrrecht meist tut (insbesondere „unmittelbare“ Gefahr statt lediglich einer konkreten Gefahr) und damit die Eingriffsschwelle zugleich auch im Vergleich zur StPO-Maßnahme höher liegt. Es würde aber zu weit gehen, hieraus zu schlussfolgern, Maßnahmen gegen Versammlungsteilnehmer müssten stets auf das Versammlungsgesetz gestützt oder an dessen Voraussetzungen gemessen werden, wenn sowohl eine präventive als auch eine repressive Zielrichtung in Betracht kommt. Denn die u. U. höhere Eingriffsschwelle und die bewusstere Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit macht das Versammlungsgesetz nicht zu einem strafprozessualen Spezialgesetz. Zudem ist nach allgemeinen Grundsätzen bei doppelfunktionalen Maßnahmen eine Dominanzentscheidung zu treffen, d. h. je nach dem Schwerpunkt der Maßnahme diese entweder als Strafverfolgungs- oder als Gefahrenabwehrmaßnahme einzustufen und nach den jeweiligen Vorschriften zu beurteilen522. Wohl aber werden dreierlei Grundsätze zu beachten sein: Erstens darf das Versammlungsgesetz nicht bewusst umgangen werden. Zweitens ist nach dem Grundsatz „im Zweifel für die Versammlungsfreiheit“ jede Maßnahme mit nicht eindeutig strafprozessualer Zielsetzung am Versammlungsgesetz zu messen; damit wird das beim Zusammentreffen von Gefahrenabwehrrecht und StPO zugunsten letzterer bestehende Prädominanz-Verhältnis523 angesichts der Spezifik des Versammlungsrechts umgekehrt. Und drittens ist bei strafprozessualen Maßnahmen die Versammlungsfreiheit in der Verhältnismäßigkeits-Prüfung zu beachten.524
197Ein anders gelagertes Problem im Verhältnis Versammlungsgesetz/StPO ist das Vorliegen einer Gemengelage, in der aufgrund des Legalitätsprinzips bestimmte Maßnahmen nach der StPO erfolgen müssten, unter präventiven Aspekten jedoch ein anderes Handeln (oder u. U. sogar ein Nicht-Handeln) angezeigt erscheint. Zeigen beispielsweise auf einer Demonstration einzelne Teilnehmer auf Fahnen oder Transparenten strafbare Symbole (etwa solche der verbotenen kurdischen PKK oder Hakenkreuze), so müssten – eigentlich – strafprozessuale Maßnahmen ergriffen werden525. Ein strafprozessuales polizeiliches Einschreiten in einer solchen Situation (und sei es nur das Eindringen von Polizeikräften in die Demonstration zwecks Identitätsfeststellung) kann aber dazu führen, dass es zu erheblichen Ausschreitungen kommt – was unter präventiven Aspekten vermieden werden soll. Bei einer Pflichtenkollision dieser Art gilt (wie sonst auch, wenn nicht das Versammlungsgesetz, sondern das allgemeine Gefahrenabwehrrecht einschlägig ist) der Grundsatz „Gefahrenabwehr vor Strafverfolgung“. Damit geht der staatliche Strafanspruch indes nicht de jure, sondern allenfalls faktisch unter; nur das „Wie“ der Strafverfolgung steht zur Disposition, so dass nach Beendigung der Gefahrenlage (d. h. meist nach Ende der Versammlung) die Strafverfolgung wegen der während der Versammlung geschehenen Straftat betrieben werden muss. Ein derartiges Vorgehen wird zugleich auch der Bedeutung der Versammlungsfreiheit und dem Gebot der Differenzierung gerecht: Diejenigen Teilnehmer, die ohne Rechtsverstöße an der Versammlung teilnehmen, können sich voll entfalten; auch den sich strafbar machenden Teilnehmern wird das Sich-Versammeln als solches nicht verwehrt, doch müssen sie damit rechnen, im Nachhinein strafrechtlich belangt zu werden, auch wenn dies faktisch selten zum Tragen kommen mag (was vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips unbefriedigend sein kann).526