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IV.Versammlungsgesetze und andere Gesetze 1.Verhältnis zwischen Versammlungsgesetzen und allgemeinem Polizeirecht
Оглавление183a) Die Versammlungsgesetze als Gefahrenabwehrgesetze. Die Versammlungsgesetze werden gemeinhin als besonderes Gefahrenabwehrrecht eingestuft472. Ihre präventive Funktion wirkt in zwei Richtungen: Einerseits geht es um die Abwehr von Gefahren, die der staatlichen Gemeinschaft von seiten der Versammlungen drohen. Andererseits sind die Versammlungsgesetze aber auch Versammlungsschutzgesetze, die die störungsfreie Abhaltung von Versammlungen gewährleisten sollen473. Die erstgenannte Funktion wird in der Literatur bis heute meist einseitig betont. Die demgegenüber bei der Entstehung des Versammlungsgesetzes des Bundes zum Teil sogar stärker herausgestellte Funktion als Versammlungsschutzgesetz474 hat inzwischen durch die häufige Problematik Demonstration/Gegendemonstration475 wieder an Aktualität gewonnen476; auch die neuere Gesetzgebung betont diesen Gedanken, was v. a. im Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin bzw. VersFG Schleswig-Holstein sowohl in der Gesetzesbezeichnung als auch in der Voranstellung der die staatliche Schutzaufgabe normierenden Vorschrift (§ 3 VersFG SH, § 3 VersFG BE) zum Ausdruck kommt477.
184Auch wenn es sich bei den Versammlungsgesetzen in erster Linie um Gefahrenabwehrgesetze handelt, enthalten sie daneben sachlich als Zivilrecht einzustufende Vorschriften (zum Verhältnis der Versammlungsbeteiligten untereinander)478 sowie Straf- und Bußgeldnormen479.
185b) Versammlungsgesetze, allgemeines Polizeirecht und „Minusmaßnahmen“. Das Recht der Gefahrenabwehr ist in Deutschland vor allem in den jeweiligen allgemeinen Polizei- und Ordnungsbehördengesetzen der Länder geregelt. Für viele Gebiete mit spezifischen Gefahrensituationen existieren allerdings Spezialgesetze (z. B. Waffenrecht, Ausländerrecht, Gewerberecht); man spricht insoweit von besonderem Polizei- und Ordnungsrecht.480 In diese Kategorie gehört auch das Versammlungsrecht. Insofern gilt für das Verhältnis zwischen Versammlungsgesetz und allgemeinem Polizeigesetz wie auch sonst zwischen besonderem Polizeirecht und allgemeinem Polizeigesetz der Grundsatz der Spezialität: Soweit das Versammlungsgesetz Regelungen trifft, sind diese anwendbar und nicht die Normen des allgemeinen Polizeigesetzes; das gilt für friedliche und unfriedliche Versammlungen gleichermaßen481. Der in diesem Zusammenhang geläufige Begriff der „Polizeifestigkeit der Versammlung“482 trägt mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei.483 Damit ist nicht etwa gemeint, dass Versammlungen vor dem Zugriff der Polizei bewahrt werden; vielmehr handelt es sich um eine Rückgriffssperre der versammlungsrechtlichen Regelung gegenüber dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht.484 Diese Rückgriffssperre beruht auf dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Vorrangs der spezielleren Norm gegenüber der allgemeineren.485 Das allgemeine Polizeigesetz kann aber ergänzend einschlägig sein, wo das Versammlungsgesetz keine Vorgaben macht. Die Versammlungsgesetze enthalten keine abschließenden Regelungen für die Abwehr aller Gefahren, die im Zusammenhang mit Versammlungen auftreten können; vielmehr ist das Versammlungswesen im VersG (und den Versammlungsgesetzen der Länder) nicht umfassend und vollständig, sondern nur teilweise und lückenhaft geregelt, so dass in Ermangelung einer speziellen Regelung auf das der allgemeinen Gefahrenabwehr dienende Polizeirecht des Landes zurückgegriffen werden muss.486 Es ist insofern zumindest missverständlich, wenn daraus, dass ein Verhalten in den Schutzbereich von Art. 8 GG fällt, der Schluss gezogen wird, ein Einschreiten auf Grundlage des allgemeinen Polizeirechts sei nicht möglich.487
186Für Fälle, in denen sich zwar versammlungstypische Probleme stellen, die Instrumente des Versammlungsrechts (Verbot, Beschränkung, Ausschluss von Teilnehmern) jedoch inadäquat erscheinen, werden „Minusmaßnahmen“ diskutiert.488 Das BVerwG kombiniert für solche „Minusmaßnahmen“ die Eingriffsgrundlage des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts mit der versammlungsrechtlichen Ermächtigungsnorm für Verbot/Auflösung und Beschränkungen489.
187Die vom Bundesverwaltungsgericht gefundene Lösung wird in der Literatur kontrovers diskutiert; verschiedene Autoren wollen sie ergänzen, lehnen sie ab490 oder beschreiten gänzlich andere Wege. So stimmt Schäffer dem BVerwG im Grundsatz zu, hält aber das die Normen des allgemeinen Polizeirechts in zwei Konstellationen für ohne Verbindung mit dem Versammlungsgesetz anwendbar: bei Maßnahmen während der Versammlung, die nicht in erster Linie in Art. 8 GG eingreifen, sowie generell im Vorfeld der Versammlung.491 Kötter/Nolte betrachten während der Versammlung nur Auflösung und beschränkende Verfügungen („Auflagen) als zulässig; sonstige (Minus-) Maßnahmen können ihrer Ansicht nach weder auf versammlungsgesetzlicher Grundlage noch nach allgemeinem Polizeirecht gestützt auf eine Kombination aus beiden ergehen.492
188Rechtsklarheit durch eine gesetzliche Regelung gibt es in Schleswig-Holstein und Berlin: Gemäß § 9 VersFG SH bzw. § 10 VersFG BE können Maßnahmen gegen einzelne Versammlungsteilnehmer nach dem allgemeinen Polizeigesetz getroffen werden, allerdings mit der Maßgabe, dass die unmittelbare Gefahr als Eingriffsschwelle gilt.493
189Zutreffend dürfte es sein, bei „Minusmaßnahmen“ die Normen des allgemeinen Polizeirechts neben dem Versammlungsgesetz für anwendbar zu halten494, indes mit der Beschränkung, dass die Rechtsfolgen nicht über das durch das Versammlungsgesetz bestimmte Maß hinausgehen dürfen.495 Zudem ist wegen des hohen Rangs der Versammlungsfreiheit als Eingriffsschwelle die unmittelbare Gefahr nötig, wie der Gesetzgeber in Schleswig-Holstein richtig erkannt hat.
190c) Konstellationen der Anwendung des allgemeinen Polizeirechts bei Versammlungen. – aa) Nicht-öffentliche Versammlungen. Die Versammlungsgesetze (Ausnahmen: NVersG496 und VersFG SH) erfassen nur öffentliche, nicht hingegen nicht-öffentliche Versammlungen.497 Daher kommt bei nicht-öffentlichen Versammlungen das allgemeine Polizeirecht zur Anwendung498, allerdings mit der Maßgabe, dass die für öffentliche Versammlungen normierte Eingriffsschwelle (unmittelbare Gefahr) beachtet werden muss.499 Nach anderer Ansicht sind für Beschränkungen und Verbote nicht-öffentlicher Versammlungen die Versammlungsgesetze entsprechend anwendbar.500
191bb) Nicht versammlungsspezifische Gefahren. Auf das allgemeine Polizeirecht kann insoweit zurückgegriffen werden, als es um die Verhütung von Gefahren geht, die allein aus der Anwesenheit einer Vielzahl von Menschen an einem dafür ungeeigneten Ort entstehen, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts handelt.501 In Betracht kommt insbesondere ein Vorgehen aus feuer-, gesundheits- oder veterinärpolizeilichen Gründen.502 Entgegen dem VGH Mannheim503 ist nicht Voraussetzung, dass eine Gefahr für Leib oder Leben der Teilnehmer oder anderer Personen abgewehrt werden muss. Richtig dürfte es vielmehr sein, solche Eingriffe nur bei unmittelbarer Gefahr (nicht unbedingt für Leib oder Leben) für zulässig zu halten, um hier dem hohen Rang der Versammlungsfreiheit gerecht zu werden. Denn bei der verfassungsrechtlich gebotenen Erhöhung der Eingriffsschwelle im Vergleich zur polizeirechtlich sonst üblichen konkreten Gefahr wird man sich an der typischen versammlungsgesetzlichen Eingriffsschwelle orientieren müssen und nicht ohne jeden dogmatischen Anhaltspunkt auf die Gefahr für Leib oder Leben abstellen können. Sofern mit solchen Maßnahmen (mittelbar) Einschränkungen des Versammlungsrechts verbunden sind, dürfen sie allenfalls eine zwangsläufige Nebenfolge, nie jedoch (auch nur teilweise) ihr eigentlicher Zweck sein.504
192cc) Vorfeldmaßnahmen. Der zeitliche Geltungsbereich der Versammlungsgesetze setzt – vorbehaltlich einer abweichenden ausdrücklichen Regelung – im Interesse einer klaren Zäsur den Beginn der Versammlung505 voraus.506 Das VersG enthält keine Ermächtigung zu polizeilichen Maßnahmen, die im Vorfeld einer Versammlung ergriffen werden, sodass die Spezialität des Versammlungsgesetzes insoweit Maßnahmen der Gefahrenabwehr auf der Grundlage des Polizeirechts grundsätzlich nicht entgegensteht.507 Vorfeldmaßnahmen können also i. d. R. auf das allgemeine Gefahrenabwehrgesetz gestützt werden.508 Soweit derartige Maßnahmen die Versammlungsfreiheit einschränken, sind allerdings erhöhte Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen.509
193Vor allem Trurnit hat Bedenken gegen auf das allgemeine Polizeirecht gestützte Vorfeldmaßnahmen geäußert: Wo weder das Versammlungsgesetz auf das Landespolizeigesetz verweise noch das Landespolizeigesetz Art. 8 GG zitiere, verstießen derartige Maßnahmen gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG.510 Art. 91 BayPAG, § 10 NPOG, § 8 RhPfPOG und § 11 SOGLSA erlauben ausdrücklich Eingriffe in die Versammlungsfreiheit, womit sich das Problem in den entsprechenden Ländern ebensowenig stellt wie in Schleswig-Holstein und Berlin, wo § 9 VersFG SH bzw. § 10 VersFG BE ausdrücklich das allgemeine Polizeigesetz ergänzend für anwendbar erklärt. Demgegenüber haben es andere Bundesländer – auch bei Novellierungen ihrer Polizeigesetze wie etwa in NRW oder Hessen – nicht für nötig gehalten, die Versammlungsfreiheit zu zitieren. Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG wird freilich von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in vielerlei Hinsicht einschränkend ausgelegt. U.a. hat das BVerfG für die Anwendbarkeit des Zitiergebots einen „gezielten und gewollten Eingriff“ vorausgesetzt.511 Mit dieser Überlegung lässt sich durchaus die Notwendigkeit einer Zitierung von Art. 8 GG im allgemeinen Polizeirecht verneinen, denn weder die Polizeigesetze an sich noch einzelne Normen zielen auf Einschränkungen der Versammlungsfreiheit; Einschränkungen der Versammlungsfreiheit können sich lediglich in – vergleichsweise doch eher seltenen – Einzelfällen ergeben. Wenn man dies anders sieht, ist immer noch nicht etwa die Nicht-Anwendbarkeit von Vorschriften des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts auf Maßnahmen im Vorfeld von Versammlungen die zwingende Rechtsfolge. Vielmehr muss bedacht werden, dass sich das Zitiergebot an den Gesetzgeber richtet. Für den Rechtsanwender hat das BVerfG dagegen bei Gelegenheit aus Gründen der Rechtssicherheit die folgende Erleichterung bereitgestellt: „Allerdings bleibt die Nichtbeachtung des Zitiergebots für die Wirksamkeit des angegriffenen Gesetzes ohne Konsequenzen.“512 Daher steht im Ergebnis das Zitiergebot einer auf polizeigesetzliche Normen gestützten Verfügung nicht im Weg.513
194dd) Polizeipflichtigkeit und Zwangsmittelanwendung. Wohl unstreitig ist, dass auch bei Versammlungen für die Bestimmung des richtigen Adressaten (Polizeipflichtigkeit)514 und für die Zwangsmittelanwendung die Vorschriften des allgemeinen Polizeirechts Anwendung finden.515