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5. Die Hochschulen in der europäischen Rechtsentwicklung
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Seit geraumer Zeit sind die deutschen Hochschulen von einer international-rechtlichen und europarechtlichen Rechtsentwicklung[97] ergriffen worden, die noch längst nicht zum Abschluss gekommen ist und deren Endziel niemand genau vorhersagen kann. Nicht, dass den Hochschulen die Grenzüberschreitung (im doppelten Wortsinne) vorher fremd und neu gewesen wäre. Die Universitäten können wie kaum eine andere Einrichtung in Deutschland auf eine über 600 Jahre zurückreichende Tradition der Internationalität verweisen: Wissenschaft war und ist international. Den Kodifikationsbemühungen des Europarats und der europäischen Gemeinschaften, die nun die Hochschulen in mannigfaltiger Weise beeinflussen, geht es weniger um die Internationalisierung oder Europäisierung der Wissenschaft, als um die der Hochschulorganisation im weitesten Sinne.
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Dem Europarat, dem heute 47 Staaten angehören, ist es schon in den 50er Jahren gelungen, sog. Äquivalenzkonventionen auf den Weg zu bringen, die als völkerrechtliche Verträge die Vertragsstaaten verpflichten, die grenzüberschreitende Mobilität von Studierenden und Wissenschaftlern auf bestimmten Gebieten zu fördern oder wenigstens nicht zu behindern.[98] Es handelt sich um die „Europäische Konvention über die Gleichwertigkeit der Reifezeugnisse“ vom 11.12.1953,[99] das „Europäische Übereinkommen über die Gleichwertigkeit der Studienzeit an den Universitäten“ vom 15.12.1956,[100] das „Europäische Übereinkommen über die akademische Anerkennung von akademischen Graden und Hochschulzeugnissen“ vom 14.12.1959[101] und das „Europäische Übereinkommen über die allgemeine Gleichwertigkeit der Studienzeiten an den Universitäten“ vom 6.11.1990.[102] Sämtliche Konventionen sind für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten. Sie werden begleitet von einer Reihe bilateraler Äquivalenzkonventionen, welche die Bundesrepublik beispielsweise mit Frankreich,[103] Österreich[104] und Ungarn[105] abgeschlossen hat.
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Auf der Ebene der Europäischen Union sind verschiedene Entwicklungen zu unterscheiden, die mit jeweils unterschiedlicher rechtlicher Bindungswirkung zu unterschiedlich weit reichenden Integrationsfortschritten geführt haben. Als erstes wären die zahlreichen Aktionsprogramme der EU zu nennen. Begonnen hat diese Entwicklung mit der allgemein als grundlegend empfundenen Entschließung des Rates vom 9.2.1976 zu einem Aktionsprogramm im Bildungsbereich,[106] das sich auf den Dahrendorf-Bericht über „das Bildungswesen in der Europäischen Gemeinschaft“[107] stützte und in der Folgezeit immer weiter erweitert wurde. Zielsetzung des Aktionsprogramms war, die Bildungssysteme so durchlässig zu machen, dass eine möglichst uneingeschränkte Freizügigkeit von Lehrenden und Lernenden möglich ist. Weitere Ziele bestanden darin, den Hochschulen zu institutionalisierten Formen der Zusammenarbeit zu verhelfen, Chancengleichheit für den Zugang zu allen Bildungsformen herzustellen und anderes mehr. Wirkungsvolle Folgemaßnahmen waren die Mobilitätsprogramme ERASMUS (European Action Scheme for the Mobility of University Students) I und II,[108] COMETT (Community Programme in Education and Training for Technology) I und II[109] und LINGUA zur Förderung der fremdsprachlichen Ausbildung in der Europäischen Gemeinschaft,[110] die später teilweise im TEMPUS-, SOKRATES- und LEONARDO-Programm aufgegangen sind.[111]
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Ein zweiter Entwicklungsstrang ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gekennzeichnet. Der EuGH hat in einer Reihe bahnbrechender Entscheidungen dazu beigetragen, dass die textliche Zurückhaltung des EU-Primärrechts gegenüber dem Bildungssektor später (mit dem Vertrag von Maastricht) aufgegeben wurde. Erstmals mit dem Urteil im Fall Casagrande[112] hat der EuGH entscheiden, dass die Gemeinschaftsorgane in der Ausübung ihrer Kompetenzen nicht dadurch beschränkt seien, dass sich einzelne Rechtsakte auf die Bildungspolitik der Mitgliedstaaten auswirken. Mit seinem Urteil zum ERASMUS-Programm[113] bestätigte der EuGH die Befugnis der Gemeinschaft, auf der Grundlage des Art. 128 EWGV („allgemeine Grundsätze in Bezug auf die Berufsausbildung“) Aktionsprogramme zur gemeinsamen Bildungspolitik durchzuführen. Besondere Bedeutung erlangte die Gravier-Entscheidung aus dem Jahr 1985.[114] In der Entscheidung ging es um die – im Ergebnis verneinte – Frage, ob eine französische Kunststudentin anders als die belgischen Studenten in Belgien eine Studiengebühr zu entrichten habe. Der EuGH legte hier erstmals den Begriff der „Berufsausbildung“ in Art. 128 EWGV in dem Sinne aus, dass alle Stufen der Schul- und Hochschulausbildung darunter fielen. Außerdem erstreckte er das Diskriminierungsverbot des Art. 7 EWGV erstmals auch auf Schüler und Studenten.[115]
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Die dritte Entwicklungslinie ergibt sich aus der primärrechtlichen Verankerung des Bildungswesens durch den Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992. Im Vertrag von Maastricht wurde erstmals ein „Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung“ (Art. 3 Abs. 1 lit. q EGV) in den Tätigkeitskatalog der EG aufgenommen und mit den Artikeln 149 und 150 EGV zwei Kompetenztitel für Betätigungen der Gemeinschaft auf den Feldern der allgemeinen und beruflichen Bildung geschaffen.[116] Mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags zum 1.12.2009 ist der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) in den „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ umbenannt worden und hat eine neue Artikelabfolge erhalten.
Die Zuständigkeit der Union für Maßnahmen im Bereich der „allgemeinen und beruflichen Bildung“ ergibt sich jetzt aus Art. 6 lit. e) AEUV. Die Kompetenztitel aus den Artikeln 149 und 150 des EGV sind nunmehr in den fast inhaltsgleichen Artikeln 165 und 166 AEUV enthalten. Der Begrifflichkeit der Gravier-Entscheidung würde es entsprechen, die Hochschulbildung unter die berufliche Bildung und damit unter Art. 150 EGV bzw. 166 AEUV zu subsumieren.[117] Damit würde aber verkannt, dass der Maastricht-Vertrag mit den neuen Vertragsbestimmungen gerade eine Zäsur setzen und eine neue Begrifflichkeit etablieren wollte. Richtigerweise wird man das Hochschulwesen daher nur unter Art. 149 EGV (Art. 165 AEUV) subsumieren können.[118] Die Vertragsbestimmung räumt den Gemeinschaftsorganen nur begrenzte, deswegen aber nicht wirkungslose Handlungsoptionen zu. Es können Fördermaßnahmen getroffen und Empfehlungen erlassen werden; eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten schließt Art. 149 Abs. 4 1. Spiegelstrich EGV ausdrücklich aus. Die schon erwähnten Aktionsprogramme der Gemeinschaft, außerdem aber beispielsweise ein Förderprogramm zur akademischen Anerkennung von Diplomen und Studienzeiten, das die Etablierung eines Netzes von Informationszentren für Äquivalenzfragen (NARIC) und ein Modellprojekt für ein European Credit Transfer System (ECTS) vorsieht, finden ihre kompetenzielle Grundlage in Art. 149 EGV bzw. Art. 165 AEUV.
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Forschungspolitik ist für die Gemeinschaft in erster Linie anwendungsorientierte, industriell verwertbare, wirtschaftlich nützliche Politik. Nach Art. 163 Abs. 1 EGV alte Fassung geht es um das „Ziel, die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der Industrie der Gemeinschaft zu stärken …“, nach Art. 157 Abs. 1 S. 2 4. Spiegelstrich EGV um „die Förderung einer besseren Nutzung des industriellen Potentials der Politik in den Bereichen Innovation, Forschung und technologische Entwicklung.“[119] Ergänzt wurde diese Zielsetzung in der korrespondierenden Neufassung des Art. 179 Abs. 1 AEUV dahingehend, „dass ein europäischer Raum der Forschung geschaffen wird, in dem Freizügigkeit für Forscher herrscht und wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologien frei ausgetauscht werden (…)“. Hinzuweisen ist auch auf eine neu eingeführte Passage in Art. 179 Abs. 2 AEUV, wonach die Union die Zusammenarbeitsbestrebungen von Forschungszentren und Hochschulen unterstützt und fördert, damit „die Forscher ungehindert über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten.“
Dem Förderungsziel sind die jeweils auf mehrere Jahre angelegten Rahmenprogramme verpflichtet, die der Rat auflegt (Art. 182 AEUV), und innerhalb derer dann von der Kommission spezifische Förderprogramme entwickelt und vorgehalten werden. Aus diesen spezifischen Programmen können auch Hochschulen profitieren. Sie werden in den Art. 179ff. AEUV mehrfach adressiert. Allerdings sind vor der konkreten finanziellen Förderung erhebliche (zu hohe) bürokratische Hürden zu überwinden.[120]
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Einen wichtigen Schritt auf der Gemeinschaftsebene markiert die Europäische Grundrechtecharta aus dem Jahr 2000.[121] Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union kodifiziert erstmals Grund- und Menschenrechte im Rahmen der Europäischen Union. Rechtswirksamkeit erlangte die vom ersten europäischen Konvent unter Roman Herzog erarbeitete Charta am 1.12.2009 mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Die Grundrechtecharta ist nach dem anfänglichen Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages in der gegenwärtigen Fassung nicht mehr textlicher Bestandteil des Lissabon-Vertrags. Allerdings enthält der durch den Lissabon-Vertrag geänderte EU-Vertrag in Art. 6 einen Verweis auf die Charta der Grundrechte. Dort heißt es: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.2000 in der am 12.12.2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig. (…)“ Zu den in der Charta enthaltenen (Freiheits-) Rechten gehört auch die Forschungsfreiheit.
Ob der karge Text des Art. 13 der Grundrechtecharta allerdings geeignet ist, ein Schutzniveau herzustellen, das dem bisherigen nationalen und internationalen Schutzniveau auch nur annähernd vergleichbar ist, wird sich erst noch erweisen müssen.[122] Der Text des Art. 13 lautet: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.“ Immerhin liegen in Gestalt der Präambel der UNESCO-Satzung, des Art. 15 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie des Art. 10 EMRK völkerrechtliche Texte, im Übrigen aber auch mitgliedstaatliche Verfassungsgarantien vor, die in mancher Hinsicht schärfere Konturen aufweisen.[123]