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2. Compétences abolies

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Allseits vernichtete Rechtsmacht

Darstellungen, die eine uferlose Weite der europäischen Kompetenzen suggerieren, indem sie die Berührung von Lebensbereichen insbesondere durch die unionsrechtlichen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote mit europäischen Regelungskompetenzen in einen Zusammenhang stellen, verkennen, dass ein europarechtliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit etwa im Bereich des Zugangs zu Bildungseinrichtungen keiner allgemeinen europäischen Regelungskompetenz für die Bildungspolitik entspricht.[51] Ähnlich verhält es sich mit dem europarechtlichen Verbot einer Verunmöglichung der effektiven Bekämpfung protektionistischer Subventionen durch nationale Behörden. Dies entspricht keinesfalls einer europäischen Regelungskompetenz für das allgemeine Verwaltungsverfahren oder das nationale Prozessrecht.[52] Vielmehr kommen bestimmte Kompetenzen, wie etwa die Kompetenz zur Regelung des Zugangs zu Bildungseinrichtungen unter Verwendung des Kriteriums der Staatsangehörigkeit, gar keiner öffentlichen Gewalt in Europa mehr zu, weder in den Mitgliedstaaten noch auf europäischer Ebene. Allgemein formuliert: Die Rechtsmacht (Kompetenz), in einer Regelung an ein Tatbestandsmerkmal „Staatsangehörigkeit“ unterschiedliche Rechtsfolgen zu knüpfen (Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit) besteht in der EU weder auf mitgliedstaatlicher Ebene noch auf europäischer Ebene mehr.[53] Man nimmt diesen Vorgang meist nicht als bewusste, aktive Kompetenzgestaltung wahr. Dennoch hat die Kompetenz sich verflüchtigt und besteht nicht mehr. Hier ist von „compétences abolies“ gesprochen worden.[54]

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Tragweite primärrechtlicher Verbote

Eine Rechtsmacht und Rechtsetzungsspielräume auf Mitgliedstaatenebene vernichtende Wirkung von Unionsrecht geht dabei nicht selten auf das Primärrecht zurück, insbesondere auf die Grundfreiheiten, aber auch auf das Beihilfe- oder Kartellrecht. Dass mitgliedstaatliche Spielräume für diskriminierende oder protektionistische Maßnahmen entfallen, lässt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht sofort erkennen, weil es sich auf sekundärrechtliche Zusammenhänge konzentriert.

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Keine Nullsummenbetrachtung

Damit wird deutlich, dass für die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union,[55] so die Formulierung in Deutschland[56] und in Österreich[57], bzw. von Souveränitätsrechten, in der Sprache des EuGH 1963 in der Rs. Van Gend & Loos[58], eine dingliche Betrachtungsweise im Sinne einer „Weggabe“ von rechtlich-politischer Gestaltungsmacht („Souveränitätstransfer“), den Vorgang nur unzureichend erklärt. Es geht nicht um die Aufteilung eines abgegrenzten Kompetenzbestandes. Es ist nicht so, dass das, was auf der mitgliedstaatlichen Ebene an Gestaltungsmacht verschwindet, spiegelbildlich auf der europäischen Ebene erscheint und umgekehrt.[59] Auch das in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG zum Vertrag von Lissabon bemühte Bild des Mitgliedstaatenkompetenzbestandes als einer Salamiwurst, von der ein Stück nach dem anderen abgeschnitten werde,[60] liegt neben der Sache. Die europäische Kompetenzordnung lässt sich nicht mit kommunizierenden Röhren oder einem Nullsummenspiel erklären.[61] Richtig verstanden ergibt sich die unionale Kompetenzordnung aus einer Verschränkung rechtsetzender und rechtsvernichtender, letztlich immer aus dem Primärrecht abgeleiteter und sich ergänzender Grundsätze und Maßnahmen.

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Neu entstehende Rechtsmacht

So lässt sich auch erklären, dass durch die Mitwirkung an der europäischen Integration bestimmte Kompetenzen überhaupt erst entstehen, die so zuvor auf Mitgliedstaatenebene gar nicht vorhanden sein konnten.[62] Kein Mitgliedstaat hat alleine die Rechtsmacht, unionsweite Regelungen zu treffen. Im Zusammenwirken mit den anderen Mitgliedstaaten entsteht indessen ein Anteil an einer solchen Rechtsmacht.

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Verfassungsunmittelbare Öffnung

Besser als die Vorstellung einer dinglichen Übertragung und die Betonung der Bedeutung des Zustimmungsgesetzes als Brücke (Brückentheorie[63]) passt aus Sicht eines kooperativen Verfassungspluralismus[64] zu den soeben beschriebenen Kompetenzphänomenen und zu der auf Unionsebene entstandenen Hoheitsgewalt[65] die Konzeption einer verfassungsunmittelbaren Öffnung der nationalen Verfassungsordnung.[66] Auch Art. 23 GG lässt sich als genuine Öffnungsklausel interpretieren.[67] Die Vorschrift öffnet die mitgliedstaatliche Rechts- und Verfassungsordnung bereits auf Verfassungsebene für das europäische Recht, sie macht die Verfassung permeabel.[68] Der verfassungspluralistischen Hypothese folgend kennzeichnet Permeabilität aber umgekehrt auch das Primärrecht, welches in bestimmten Bereichen ein Durchgreifen bzw. Einfließen nationalen Verfassungsrechts erlaubt.[69]

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