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I. Kompetenzkategorien und Kompetenzbereiche in Art. 2 bis 6 AEUV

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Vorgeschichte

Die Gründungsverträge aus den 1950er Jahren enthielten in ihrer ursprünglichen Fassung keine Auflistung der Kompetenzen, wie sie beispielsweise das Grundgesetz bereit hält, sondern beschränkten sich auf eine Beschreibung von Tätigkeitsfeldern und weit über den Vertrag verstreuten Kompetenzgrundlagen.[74] Überlegungen, die europäischen Tätigkeitsfelder transparenter zu fassen und in einer allgemeinen Auflistung oder Kompetenzcharta sichtbar zu machen, sind in der Folge immer wieder angestellt worden.[75]

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Post-Nizza-Prozess

Die Erklärung zur Zukunft der Union in der Schlussakte der Konferenz von Nizza vom Dezember 2000[76] wies die „Frage, wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten geschaffen und ihre Einhaltung überwacht werden kann“ sowie eine „Vereinfachung der Verträge, mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen“ als Aufgaben für eine Vertragsreform nach dem Vertrag von Nizza (sog. „Post-Nizza-Prozess“ ) aus. Ein Jahr später, im Dezember 2001, erteilte der Europäische Rat von Laeken ein entsprechendes Mandat an einen „Konvent zur Zukunft Europas“, u. a. auch für eine „bessere Aufteilung und Festlegung der Zuständigkeiten in der Europäischen Union“ Vorschläge zu erarbeiten.[77]

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Verfassungskonvent

Diskutiert wurden in der Folge mehrere Modelle, u. a. auch die Schaffung eines echten Kompetenzkatalogs nach dem Vorbild von Art. 71 ff. GG,[78] so die vor allem von deutscher Seite erhobene Forderung,[79] durch deren Umsetzung einer angeblichen schleichenden Kompetenzverschiebung von den Mitgliedstaaten zur EU hin Grenzen gesetzt werden sollte, bis hin zur Zurückdrängung unionalen Handelns.[80] Diese Lösung konnte sich indessen nach intensiven Beratungen in gleich zwei Arbeitsgruppen des Konvents[81] für den Vertrag über eine Verfassung für Europa (Verfassungsvertrag) nicht durchsetzen.[82] Der Umbau der Kompetenzordnung nach deutschem Muster wäre zu sehr ein Systemwechsel mit ungewissen Folgeeffekten gewesen, für dessen Notwendigkeit sich unter den Mitgliedstaaten schlicht keine Mehrheit ergab. Das Ergebnis war letztlich eine überwiegend deklaratorische Listung von Kompetenzprinzipien und -bereichen, die sich seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009[83] in Art. 2 bis 6 AEUV findet.

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Lesehilfe statt Kompetenztitel

Die Art. 2 bis 6 AEUV ähneln zwar auf den ersten Blick einem Kompetenzkatalog wie ihn auch das Grundgesetz kennt. Diese Bestimmungen begründen jedoch keine Kompetenzen im Sinne von Rechtsmacht, so ausdrücklich Art. 2 Abs. 6 AEUV. Die Auflistungen von Themen und Politikfeldern, die sich in Art. 3 bis 6 AEUV finden, nehmen für die eigentlichen Kompetenznormen eine Platzhalterfunktion ein. Letztlich geht es um eine Art Lesehilfe, mit der mehr Transparenz über die möglichen Tätigkeitsfelder der EU erreicht werden soll.#[84] Der konkrete rechtlich erhebliche Umfang der der Union übertragenen Rechtsmacht, ihre Tatbestandsvoraussetzungen und weitere Einzelheiten ihrer Ausübung ergeben sich für die jeweiligen Sachgebiete aus den konkreten Vertragsbestimmungen zu den einzelnen Bereichen.[85] Diese finden sich über die gesamte Breite der Verträge gestreut.

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Kompetenzkategorien

Art. 2 AEUV[86] ist die zentrale europarechtliche Bestimmung zum Verständnis der Reichweite der Zuständigkeiten der EU, vor allem hinsichtlich ihrer Legislativkompetenzen.[87] Die Absätze 1 bis 5 listen Kompetenzkategorien auf, die in den Folgeartikeln näher benannt werden: Bereiche mit ausschließlicher bzw. geteilter Zuständigkeit (Art. 3 bzw. 4 AEUV); Bereiche der Koordinierung von Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik (Art. 5 AEUV); Bereiche der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen der Union, in denen ausdrücklich keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erfolgen darf (Art. 6 AEUV). Absatz 6 enthält die bereits erwähnte Klarstellung, dass die eigentlichen Kompetenzen sich im Hinblick auf den „Umfang der Zuständigkeiten der Union und die Einzelheiten ihrer Ausübung“ „aus den Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen“ ergeben. Die Regelung in Art. 2 AEUV stellt in weiten Teilen den Versuch einer Kodifikation der Rechtsprechung des EuGH zu Kompetenzkategorien dar. Im Hinblick auf die eigentlichen Kompetenztitel des Primärrechts bestehende Abgrenzungs-und Interpretationsschwierigkeiten wurden damit aber nicht gelöst.[88]

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Keine Residualkompetenzen der Mitgliedstaaten

Eine verschiedentlich vorgeschlagene Unterteilung der Zuständigkeiten in Gesetzgebungskompetenzen, Kontrollkompetenzen und Residualkompetenzen der Mitgliedstaaten wurde nicht vorgenommen.[89] Die Art. 2 bis 6 AEUV beinhalten keine Zuweisung von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten, da alle nicht an die EU übertragenen Kompetenzen bzw. Kompetenzteilbereiche aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung bei den Mitgliedstaaten verbleiben.[90] Denkbar ist freilich eine Rückdelegation von der EU übertragenen Kompetenzen an die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Unionskompetenz.[91]

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Ausschließliche Zuständigkeiten

Die konkreten Kompetenzbereiche ergeben sich aus den Art. 3 bis 6 AEUV. Nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 AEUV verfügt die EU über eine ausschließliche Zuständigkeit zur gesetzgeberischen Tätigkeit für die dort abschließend genannten wenigen Bereiche. Die Union hat nach Art. 3 Abs. 1 AEUV die ausschließliche Zuständigkeit in den Bereichen Zollunion; europäische Wettbewerbsregeln; Währungspolitik (für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist); Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik[92] und gemeinsame Handelspolitik, wohinter sich im Kern das Thema WTO verbirgt. Ferner hat die Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Abkommen in Anlehnung an die AETR-Rechtsprechung.[93]

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Geteilte Zuständigkeiten

Den Regelfall der Unionszuständigkeiten stellen die geteilten Zuständigkeiten nach Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 4 AEUV dar.[94] Eine geteilte Zuständigkeit im eigentlichen Sinne liegt vor, wenn weder eine ausschließliche Zuständigkeit der Union nach Art. 3 AEUV noch eine Unterstützungskompetenz nach Art. 6 AEUV vorliegt und es zudem an einer sonstigen Sonderregelung wie Art. 2 Abs. 3 und Abs. 4 und Art. 5 AEUV fehlt. Somit kommt der Regelung des Art. 4 Abs. 1 AEUV eine Auffangfunktion zu.[95]

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Hauptbereiche geteilter Zuständigkeit

Die Hauptbereiche geteilter Kompetenzen sind in Art. 4 Abs. 2 AEUV aufgeführt und stellen dem Wortlaut zufolge wie auch aufgrund der Auffangfunktion der Zuständigkeitskategorie eine nicht abschließende Aufzählung dar.[96] Hauptbereiche geteilter Zuständigkeit sind danach der Binnenmarkt; die Sozialpolitik hinsichtlich der im AEUV genannten Aspekte; der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt; Landwirtschaft und Fischerei (ausgenommen die Erhaltung der biologischen Meeresschätze[97]); Umwelt; Verbraucherschutz; Verkehr; transeuropäische Netze; Energie; der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hinsichtlich der im AEUV genannten Aspekte. Genannt werden ferner mit gewissen Einschränkungen zugunsten der Mitgliedstaaten die Bereiche Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt sowie Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe.

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Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungszuständigkeiten

Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen der EU wurden als eigene Kategorie nach Art. 2 Abs. 5 i. V. m. Art. 6 AEUV erst mit dem Vertrag von Lissabon sichtbar gemacht.[98] Schon zuvor bestanden Kompetenztitel, die durch ein Harmonisierungsverbot für mitgliedstaatliches Recht gekennzeichnet waren. Noch im Vertrag von Nizza wurde dies mit der Formel „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“ beschrieben.[99] Mit dem Vertrag von Lissabon wurde diese Formulierung durch „keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften“ ersetzt.

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Eingeschränkte Unionszuständigkeiten

Damit liegt die primäre Regelungsbefugnis für diese Kategorie bei den Mitgliedstaaten, die EU kann lediglich zusätzliche Maßnahmen mit europäischer Zielsetzung zur Unterstützung der Regelungen der Mitgliedstaaten treffen, lediglich akzessorisch zum Tätigwerden der Mitgliedstaaten agieren.[100] Typischerweise geht es hier um ergänzende oder weiche Steuerung in Bereichen, die den Mitgliedstaaten so wichtig sind, dass der EU keine weitergehenden Befugnisse zugestanden wurden. Genannt werden die Wirtschaftspolitik, Beschäftigungspolitik und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten; Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit; Industrie; Kultur; Tourismus; allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport; Katastrophenschutz und Verwaltungszusammenarbeit. Inwieweit die EU hier nach Maßgabe von Art. 6 AEUV überhaupt verbindliche Rechtsakte erlassen kann, ist umstritten.[101] Darüber, wie die Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen[102] gemäß Art. 2 Abs. 5, Art. 6 AEUV voneinander abzugrenzen sind, besteht bisher wenig Klarheit.[103] Der EuGH war mit entsprechenden Fragen noch nicht befasst.[104]

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