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I. Beispiel Binnenmarktgesetzgebung
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Harmonisierungskompetenz für den Binnenmarkt
Zur Errichtung und Verwirklichung des Binnenmarktes ist der Union in verschiedenen Vorschriften die Harmonisierung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften gestattet. Damit werden mitgliedstaatliche Bestimmungen überlagert, auch Regelungen, die sachbereichsbezogen dem Verwaltungsrecht zugerechnet werden. Besondere Bedeutung kommt dabei dem in Art. 114 AEUV enthaltenen Kompetenztitel zu, der der „funktionalen Erhaltung des Binnenmarktes“[149] dient und die Union ermächtigt, die zur Errichtung und zum Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Harmonisierungsmaßnahmen zu erlassen.[150] In einem natürlichen Spannungsfeld dazu stehen die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere wenn inhaltliche Unterschiede zwischen den einzelnen mitgliedstaatlichen Regelungen zu einer Sachmaterie bestehen.[151]
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Angleichung
Voraussetzung für ein auf Art. 114 AEUV gestütztes Gesetzgebungsvorhaben ist, dass es sich bei der konkreten Regelung um Angleichungsmaßnahmen von mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften mit Binnenmarktbezug handelt, welche nicht auf eine speziellere Rechtsetzungskompetenz zu stützen sind. Auf Art. 114 AEUV gestützte Rechtsakte setzen dabei grundsätzlich mitgliedstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften voraus, welche angeglichen, nicht aber zwangsläufig vereinheitlicht werden sollen.[152] Von der Konzeption her soll mittels Art. 114 AEUV also nicht „neues Recht“ geschaffen werden, Ziel ist vielmehr, dass bereits bestehendes mitgliedstaatliches Recht sich sachbezogen gesetzten, unionsrechtlich vorgegebenen Standards annähert.a[153]
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Binnenmarktbezug
Die Angleichungsmaßnahmen bedürfen neben dem grundsätzlichen Harmonisierungserfordernis eines Binnenmarktbezugs. Dieser kann sich einerseits aus der Verwirklichung der Grundfreiheiten im Sinne des Art. 26 AEUV – hier wird die Wechselwirkung zum Anwendungsbereich der Grundfreiheiten besonders deutlich[154] – oder aber nach gefestigter Rechtsprechung[155] aus dem Abbau von Wettbewerbsverzerrungen ergeben. An dieser Stelle wird die Inkongruenz zwischen mitgliedstaatlicher Verwaltungsrechtsordnung und unionsrechtlicher funktionaler Zuweisung besonders deutlich: Für die Bejahung des Binnenmarktbezugs ist weitestgehend irrelevant, welcher Sachmaterie die Regelung auf mitgliedstaatlicher Ebene zugewiesen ist, solange die unionale Regelung zur Verwirklichung der Grundfreiheiten oder dem Abbau von Wettbewerbshindernissen dient. So wurde beispielsweise die Arzneimittelrichtlinie[156] mit ihren Auswirkungen auf das nationale Arzneimittelverwaltungsrecht ebenso auf Art. 114 AEUV gestützt wie die SRM-Verordnung,[157] die das Kapitalmarkt- und Bankenrecht betrifft.
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Effektivierung bis zur Staatshaftung
Die Effektivierung von auf die Harmonisierungskompetenz gestützter Richtliniengesetzgebung hat sogar bis zu einer europarechtlichen Ergänzung der mitgliedstaatlichen Staatshaftungsrechtsinstitute geführt. In der Rs. Francovich[158] stellte der EuGH den Grundsatz auf, dass sich die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen schadensersatzpflichtig machen, wenn sie schuldhaft ihrer Richtlinienumsetzungspflicht nicht nachkommen. Ausgangspunkt war dabei eine auf eine Vorläuferbestimmung von Art. 114 AEUV gestützte Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers.[159] Weil eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie ebenso wenig in Betracht kam wie eine Effektivierung der Richtliniengehalte im Wege der Konformauslegung, entwickelte der EuGH einen Haftungsanspruch gegen den Europarecht verletzenden Mitgliedstaat. Wie dieser Anspruch in das nationale Staatshaftungssystem einzupassen ist, bleibt dabei den Mitgliedstaaten überlassen.[160]