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IV. Negative Kompetenzbestimmungen

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Ausschlüsse europäischer Rechtsmacht

Das europäische Kompetenzrecht wird nicht nur durch positive Kompetenzzuweisungen, sondern auch durch zahlreiche negative Kompetenzbestimmungen geprägt. Diese finden sich insbesondere[126] dort, wo in positiven Kompetenzzuweisungen Regelungsbereiche ausgeschlossen werden. Charakteristische Beispiele sind Art. 153 Abs. 5 AEUV, der aus der unionalen Sozialpolitik das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht ausnimmt, oder Art. 168 Abs. 7 AEUV, wonach die Union im Gesundheitsbereich die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung wahrt und einzelstaatliche Regelungen über die Spende oder die medizinische Verwendung von Organen und Blut unberührt bleiben. Weitere Beispiele[127] für Rechtsmachtgrenzen der EU aus dem europäischen Primärrecht finden sich in Art. 72 AEUV (Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit); Art. 14 AEUV (Rücksicht auf Funktionsfähigkeit der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in den Mitgliedstaaten); Art. 149 AEUV (keine Harmonisierung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Beschäftigungspolitik); Art. 153 Abs. 2 lit. a und Abs. 4 AEUV (europäische Maßnahmen im Bereich der Sozialvorschriften berühren nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen und dürfen das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht erheblich beeinträchtigen); Art. 165 Abs. 1 und 166 Abs. 4 AEUV (strikte Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems und keine Harmonisierung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften in diesem Bereich); Art. 173 Abs. 3 AEUV (im Bereich der Industriepolitik keine Unionskompetenz für Maßnahmen, die steuerliche Vorschriften enthalten oder Bestimmungen, die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer betreffen).

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Schutz der Eigentumsordnung

Art. 345 AEUV legt fest, dass die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine Kompetenzschranke für die Union darstellt. Art. 346 AEUV enthält Kompetenzbeschränkungen, die sich aus wesentlichen Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten ergeben.

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Bereichsausnahmen als Kompetenzgrenzen

Auch Bereichsausnahmen für die öffentliche Verwaltung bzw. für die Ausübung öffentlicher Gewalt (Art. 45 Abs. 4 und 51 AEUV) und die Bestimmung des Art. 52 Abs. 1 AEUV (keine Beeinträchtigung von bestimmten nationalen Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit) lassen sich als Beschränkung von Unionskompetenzen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit deuten.

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Unionsgrundrechte als Kompetenzgrenzen

Als negative Kompetenzschranken, die die Rechtsmacht der EU einhegen, wirken ferner die zunächst richterrechtlich durch den EuGH entwickelten Unionsgrundrechte, wie sie nunmehr in der Grundrechtecharta der EU verbindlich sichtbar gemacht worden sind (siehe Art. 6 Abs. 1 EUV) sowie letztlich, wenn man den Kompetenzbegriff so weit fassen will, das auch auf europäischer Ebene geltende Rechtmäßigkeitsprinzip (Rechtsstaatlichkeit, Art. 2 EUV).[128]

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Grundfreiheiten als Kompetenzgrenzen

Nicht zu vergessen ist, dass die Grundfreiheiten des Binnenmarktes nicht nur die Mitgliedstaaten binden, sondern auch der Union Grenzen setzen, insofern sie kompetenzbeschränkenden Gehalt auch für die europäische Ebene aufweisen.[129] So muss auch die Union beispielsweise das Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung (Garantie der Warenverkehrsfreiheit) beachten. Art. 173 AEUV (Industriepolitik) legt fest, dass die Union keine Maßnahmen einführen darf, die den Wettbewerb verzerren könnten.

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Nationales Verfassungsrecht als Kompetenzgrenze

Mittelbarer können die nationalen Verfassungsbestimmungen, die den Mitgliedstaaten die Beteiligung an der europäischen Integration ermöglichen, als Schranken europäischer Kompetenzen verstanden werden: Für Deutschland etwa legt Art. 23 GG fest, dass die EU demokratischen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein muss und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz zu gewährleisten hat. Solche oder vergleichbare Strukturelemente,[130] die sich teilweise auch in anderen Mitgliedstaaten ausdrücklich in der Verfassung niedergelegt finden, wirken über nationale Verfassungsbestimmungen wie etwa Art. 23 GG oder Kapitel 10 § 6 der schwedischen Verfassung[131] als negative Kompetenzbestimmungen mittelbar – sie binden ja vorrangig die eigene Hoheitsgewalt, wie insbesondere das Beispiel Grundrechtsschutz illustriert – gegenüber der supranationalen Hoheitsgewalt. Dies gilt insbesondere, wenn diese Strukturen aufgrund von Ewigkeitsklauseln wie Art. 79 Abs. 3 GG auch durch die Beteiligung an der europäischen Integration nicht zur Disposition gestellt werden können.

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Nationales Verfassungsrecht im Primärrecht

Teilweise finden solche ebenentranszendenten[132], in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen enthaltenen negativen Kompetenznormen den Weg in das Europarecht und werden damit gleichsam horizontalisiert und zu ebenenimmanenten Kompetenzschranken. Ein Einzelbeispiel hierfür ist das seit 1992 auf europäischer Ebene den Gründungsverträgen beigefügte Protokoll zu Irland,[133] wonach das Unionsrecht nicht die Anwendung bestimmter irischer Verfassungsbestimmungen zur Schwangerschaftsunterbrechung (Art. 40 Abs. 3 Nr. 3 der irischen Verfassung[134]) berührt: Diese auf der Ebene des Primärrechts verankerte Festlegung lässt sich als Einschränkung von Unionskompetenzen und damit als negative Kompetenzbestimmung deuten: Rechtsmacht der EU wird – allerdings nur im Hinblick auf einen Mitgliedstaat, nämlich Irland – auf der Ebene des Primärrechts ausgeschlossen.

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Achtung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten

Verallgemeinert und unmittelbar auf europäischer Ebene – horizontal – verankert lassen sich solche aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen abgeleiteten negativen Kompetenzbestimmungen seit dem Vertrag von Maastricht von 1992 aus Art. 4 Abs. 2 EUV entnehmen: Danach achtet die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten. Dies schließt die Verfassungsidentität ein, wie sich seit der Präzisierung der Vorschrift mit dem Vertrag von Lissabon noch besser begründen lässt. Damit besteht ein Ansatz, um mit einem Verbundbegriff von der europäischen Ebene aus[135] den Vorranganspruch gegenüber mitgliedstaatlicher Verfassungsidentität zurückzunehmen,[136] im kooperativen verfassungspluralistischen Zusammenwirken der Höchstgerichte.[137] Anders als bei der Ultra-vires-Kontrolle durch ein nationales Höchstgericht[138] bleibt es bei einer zweipoligen Konfliktlage zwischen nationalem Recht und Unionsrecht.[139] Der Identitätseinwand kann nur als Ausnahme erhoben werden, um die im Grundsatz einheitliche Anwendung des Europarechts nicht zu gefährden. Deswegen ist in diesem Zusammenhang eine restriktive Auslegung geboten, was für Deutschland eine Beschränkung der Verfassungsidentität auf die Kerngehalte des Art. 79 Abs. 3 GG bedeutet.[140] Nicht jeder Verfassungsgehalt gehört zur Verfassungs identität,[141] sonst wäre der Begriff ohne Mehrwert. Festzuhalten ist gleichwohl, dass Koen Lenaerts berühmt gewordenes Diktum „There simply is no nucleus of sovereignty that the Member States can invoke, as such, against the Community”[142] so heute nicht mehr zutrifft.

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Asymmetrien in der Kompetenzordnung

Die letztgenannten Beispiele für negative Kompetenzbestimmungen durch mitgliedstaatliche Verfassungsvorschriften weisen die Besonderheit auf, dass es hier zu je nach Mitgliedstaat unterschiedlichen Kompetenzverhältnissen in Bezug auf die EU kommen könnte, zu einer asymmetrischen Kompetenzordnung, soweit nicht doch langfristig ein Nivellierungs- und Angleichungseffekt auch auf der Ebene des Verfassungsrechts eintritt, der in ein materiell harmonisiertes gemeineuropäisches Verfassungsrecht mündet.[143]

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Systemimmanente Multiplizität

Diese Multiplizität verblüfft zunächst, weil sie dem überkommenen Bild vom homogen verfassten Gemeinwesen nicht entspricht. Asymmetrische Kompetenzverteilung findet sich jedoch einerseits auch schon auf der Ebene einzelner Mitgliedstaaten.[144] Zum anderen ist diese Multiplizität letztlich durch das Prinzip der Rücksichtnahme der EU auf die nationale Identität der Mitgliedstaaten systemimmanent und für die heterogene Struktur der Union nachgerade kennzeichnend.[145] Hier ist auch an die Möglichkeit zu erinnern, im Wege der verstärkten Zusammenarbeit Kompetenzen der EU asymmetrisch zu nutzen.[146]

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