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II. Grundlagen und Grundsätze
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Verfahrens- und Organisationsautonomie der Mitgliedstaaten
Infolge ihrer Verfahrens- und Organisationsautonomie[137] nehmen die Mitgliedstaaten den Vollzug des Unionsrechts autonom und eigenständig vor. Die Zuständigkeitsverteilung bestimmt sich dann gemäß den verfassungsrechtlichen Grundsätzen (Art. 30, 83 ff. GG).[138] Die nationale Verfahrens- und Organisationsautonomie besteht nicht kraft Delegation, sondern ist Ausdruck originärer Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, weil und soweit insoweit keine Hoheitsgewalt an die EU übertragen wurde.[139] Die Mitgliedstaaten bestimmen damit eigenständig die zuständigen Behörden und die anzuwendenden Verfahren und legen damit das einschlägige Verfahrensrecht, das ggf. anwendbare Verwaltungs-/Gerichtsprozessrecht und die institutionellen Grundlagen für den Verwaltungs- und Gerichtsaufbau und die Zuständigkeitszuweisungen nach ihren nationalen Regeln fest (Art. 291 Abs. 1 AEUV), soweit nicht das EU-Recht Vorgaben enthält. Die nationalen Stellen sind grundsätzlich an Weisungen von EU-Stellen nicht gebunden.[140] Diese Unabhängigkeit führt zu nicht unerheblicher Diversität des Unionsrechtsvollzugs zwischen den Mitgliedstaaten. Diese Diversität wird aber durch die allgemeinen Verpflichtungen und Grundsätze des Unionsverwaltungsrechts[141] begrenzt; nationales Verwaltungsrecht erfährt dadurch eine erste Harmonisierung.
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Gestaltungsmacht des EU-Gesetzgebers
Aufgrund ihrer Gesetzgebungszuständigkeiten kann die EU dem nationalen Vollzug außerdem sehr konkrete Vorgaben machen, indem das EU-Sekundärrecht das anwendbare nationale Verfahren näher ausgestaltet oder Anforderungen formuliert; letzteres geht auch für die Verwaltungsorganisation. Der EU-Gesetzgeber hat dafür eine breite Gestaltungsmacht. Die Autonomie der Mitgliedstaaten ist damit nur „Hoheit auf Abruf“[142], das nationale Vollzugsrecht eine „Auffangrechtsordnung“[143], die allerdings in der praktischen Realität erhebliche Bedeutung hat.[144] Die Kompetenz der EU dafür ist grundsätzlich gegeben.[145] Während die Hochzonung der Verwaltungszuständigkeit selbst gewisser Rechtfertigungsbedürftigkeit unterliegt (vgl. Art. 291 Abs. 2 AEUV: Zuweisung an die Kommission bei einem Bedürfnis nach einheitlichen Bedingungen für die Durchführung), ist das für die Steuerung des nationalen Verwaltungsvollzugs nicht, jedenfalls nicht im gleichen Umfang der Fall.[146] Denn die EU greift dann nicht nach Verwaltungszuständigkeiten, sondern übt nur ihre Gesetzgebungszuständigkeit aus; das Ausmaß des Eingriffs in nationale Hoheitsrechte ist geringer. Die Kompetenzausübungsschranken der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit dürften vereinheitlichten Verfahrensregeln im Hinblick auf das damit beabsichtigte Ziel der besseren Sicherung einheitlichen Vollzugs kaum je entgegenstehen.
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Allgemeine unionsrechtliche Verpflichtungen und Grundsätze
Trotz der Autonomie der Mitgliedstaaten bestehen, neben konkreten sekundärrechtlichen Vorgaben für den Vollzug im Hinblick auf Verfahren und Organisation, allgemeine unionsrechtliche Pflichten, die die Mitgliedstaaten in ihrem Vollzug des Unionsrechts binden und die Autonomie einschränken.[147] Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich auf die Einhaltung des gesamten Unionsrechts verpflichtet. Sie müssen daher etwa den Anwendungsvorrang des Unionsrechts respektieren und dürfen in seinem Anwendungsbereich keine Maßnahmen welcher Art auch immer treffen, die mit unionsrechtlichen Anforderungen kollidieren bzw. deren effektive Befolgung nicht sicherstellen; solche Maßgaben sind unbeachtlich und nicht anzuwenden.[148] Einigen unionsrechtlichen Regeln kommt für den nationalen Verwaltungsvollzug besondere Bedeutung zu; sie bilden somit eine Schranke für die nationale Autonomie (so, wie die inhaltlich oft vergleichbaren allgemeinen Grundsätze des EU-Eigenverwaltungsrechts[149] die Hoheitsgewalt der EU begrenzen) und sind – neben den Grundrechten – Kristallisationspunkte für die Herausbildung der Grundsätze des Unionsverwaltungsrechts.[150]
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Insbesondere: Unionstreue, Effektivitäts- und Äquivalenzgebot
Zunächst unterliegen die Mitgliedstaaten der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) und der sich daraus ergebenden Pflicht zur effektiven Umsetzung. Schon früh hat der EuGH auf die Grenze der Verfahrensautonomie aufmerksam gemacht, nämlich die Verpflichtung auf die einheitliche Anwendung des Unionsrechts, die notwendig ist, um zu vermeiden, dass die Wirtschaftsteilnehmer ungleich behandelt werden.[151] Daraus ergibt sich auch das schon angesprochene Effektivitäts- und Äquivalenzgebot in der Anwendung des Unionsrechts,[152] wobei die Effektivität des Unionsrechts für seine Anwendung gebietet, seine Tragweite und Wirksamkeit nicht zu beeinträchtigen[153] (es ist kein Optimierungsgebot[154]), und ggf. effektive Sanktionen einzuführen, was Anforderungen sowohl an das materielle Recht, als auch an das Verfahrensrecht stellt.[155] Das Äquivalenzgebot im Sinne einer diskriminierungsfreien Anwendung verpflichtet dazu, das nationale Recht in Angelegenheiten der EU nicht anders anzuwenden als in vergleichbaren rein nationalen Fällen und mit der gleichen Sorgfalt vorzugehen.[156] Für den nationalen Gesetzgeber besteht nicht nur eine Pflicht zur effektiven und getreuen Umsetzung von Richtlinien, sondern gegebenenfalls auch zur Ergänzung des Verordnungsrechts etwa durch Zuständigkeitsregelungen und – auch aus Gründen der Rechtssicherheit – zur Aufhebung unionswidriger nationaler Gesetze.[157] Aus der Loyalitätspflicht werden weitere konkrete Pflichten der nationalen Verwaltungen abgeleitet, wie etwa zur Information[158] und zur loyalen Zusammenarbeit mit der Kommission bei Schwierigkeiten[159], die allerdings umgekehrt auch für die Kommission gelten.[160] Im Einzelfall können sich daraus Pflichten zur Anordnung des Sofortvollzugs[161], zur Nichtbeachtung bestandskräftiger Entscheidungen (obschon Respektierung der Bestandskraft auch Ausdruck unionaler Rechtsgrundsätze[162] ist) oder zur Haftung für fehlerhafte Durchführung des Unionsrechts[163] ergeben.
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Insbesondere: Grundrechte, effektiver Rechtsschutz, allgemeine Verfahrensgrundsätze
Neben der Unionstreue steht die Pflicht zur Schaffung effektiven Rechtsschutzes und generell zur Beachtung der EU-Grundrechte, aber auch der EU-Grundfreiheiten bei der Anwendung des Unionsrechts. Die effektive Rechtsschutzverpflichtung nimmt die Mitgliedstaaten in die Pflicht, ein System von nationalen Rechtsbehelfen, Verfahren und unabhängigen Gerichten zu schaffen, das effektiven Rechtsschutz gewährleistet (nun Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV)[164]. Das Grundrecht auf gute Verwaltung (Art. 41 GRCh) hat für den nationalen Verwaltungsvollzug mangels Adressierung der nationalen Verwaltung zwar keine unmittelbare Geltung, doch sind die allgemeinen richterrechtlich vom EuGH entwickelten Grundsätze des Verwaltungsverfahrens und generell die allgemeinen Rechtsgrundsätze durchaus anwendbar, und dazu zählt der EuGH mittlerweile auch das Recht auf gute Verwaltung.[165] Auch gebietet die Wahrung der Verteidigungsrechte als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts für den Fall, dass die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen, die Geltung des rechtlichen Gehörs. „Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Entscheidungen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen.“[166]