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III. Konstitutionalisierung und Aufwertung Richterrechts
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Einfaches Gesetzesrecht
Ein weiterer Megatrend der Rechtsordnung ist die Konstitutionalisierung.[96] Im innerstaatlichen Kontext beschreibt sie die Überformung des einfachen Gesetzesrechts durch das Verfassungsrecht. Dies hat den Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 1 Abs. 3 GG), die starke Stellung des BVerfG (Art. 93, 100 GG) sowie die Aufladung der Grundrechte durch immer weiter ausgreifende materielle Gehalte zur Voraussetzung. Seit der Lüth-Entscheidung versteht das BVerfG die Grundrechte nicht allein als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte, sondern als Ausprägung einer objektiven Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Teilbereiche der Rechtsordnung gelten soll.[97] Die weiteren neben die klassische Abwehrfunktion getretenen Grundrechtsdimensionen[98] ermöglichen es, eine Vielzahl von ehemals allein politisch zu verantwortenden Entscheidungen als Verfassungsfragen zu reformulieren.[99] In der Rechtsprechung des BVerfG hat die Gegenbewegung, die politische Gestaltungsspielräume gegenüber sich verdichtenden Vorgaben der Karlsruher Judikatur zu verteidigen sucht,[100] bislang kaum Widerhall gefunden. Die Verlustliste der verfassungsrechtlichen Überformung des einfachen Gesetzesrechts ist lang. Auf ihr sind der Gestaltungsspielraum der parlamentarischen Rechtssetzungsorgane,[101] ebenso aber auch der Eigenstand der Fachgerichtsbarkeit,[102] der Föderalismus sowie insgesamt die Lern- und Anpassungsfähigkeit des Rechtssystems[103] zu verzeichnen.
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Unionsrecht
Vergleichsweise weniger geläufig ist der Begriff der Konstitutionalisierung im Kontext des Unionsrechts,[104] vertrauter dagegen der Streit, ob die Verträge der Europäischen Union adäquat als Verfassungsrecht der EU bezeichnet werden können.[105] Gerade die jüngeren Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH zur Grundrechtecharta geben Anlass, den Verfassungsbegriff auf das primäre Unionsrecht auszudehnen.[106] Die Vorrangigkeit des Unionsrechts[107] ebenso wie die Rolle des EuGH als sein Garant[108] sind schon lange selbstverständlich geworden. Neu ist aber die Aufladung des Primärrechts mit materiellen Gehalten, die nicht mehr allein der Integration dienen, sondern dieser sogar im Wege stehen können.[109] Diese Entscheidungen entziehen sich dem Deutungsmuster des EuGH als „Motor der Integration“,[110] das aus seiner früheren Rechtsprechung etabliert ist. Wenn das Primärrecht gegen den Unionsgesetzgeber selbst in Stellung gebracht wird, versteht sich der EuGH als Grundrechtsgericht, das den Wert und den Eigenstand der Grundrechte betont und die hiervon betroffenen Politikbereiche dem politischen Diskurs entzieht.[111] Damit stellen sich im Verhältnis des EuGH zu den rechtssetzenden Organen der Union Fragen, die aus der nationalen Konstitutionalisierungsdebatte vertraut sind. Die stärkere Akzentuierung der Grundrechtecharta hat das Potenzial, die ohnehin prekäre Stellung des Europäischen Parlaments nachhaltig zu schwächen. Dass das BVerfG in seiner jüngeren Rechtsprechung die Grundrechtecharta im Rahmen der Verfassungsbeschwerde als Prüfungsmaßstab heranzieht,[112] macht die Dinge nicht einfacher.[113]
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Völkerrecht
Kontrovers beurteilt wird, inwieweit sich das Paradigma der Konstitutionalisierung auch als Beschreibungs- und Deutungsmuster für die jüngere Völkerrechtsentwicklung anbietet.[114] Die Frage kann nur bejaht werden, wenn der Begriff der Bedeutungselemente entkleidet wird, die im europäischen und innerstaatlichen Kontext seinen besonderen Erklärungswert ausmachen. So fehlt es gegenwärtig ungeachtet der Existenz von ius cogens und erga omnes Normen an einer klaren Hierarchie der völkerrechtlichen Rechtsquellen,[115] ebenso wie an einem umfassenden gerichtsförmigen Modus der Streitbeilegung und institutionalisierten Durchsetzungsmechanismen.[116] Unverkennbar ist gleichwohl, dass sich in einzelnen Teilbereichen des Völkerrechts Entwicklungen vollzogen haben, die zumindest als Vorboten einer sich erst in weiter Zukunft abzeichnenden Konstitutionalisierung gedeutet werden können. Ein besonderes Augenmerk ist hier auf die WTO als zentraler Eckpfeiler der Weltwirtschaftsordnung zu richten.[117]
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Aufwertung des Richterrechts
Ungeachtet der Machtverschiebungen, die innerhalb der Judikative mit der Konstitutionalisierung verbunden sind,[118] hat das durch die Fachgerichtsbarkeit gesetzte Richterrecht im Verhältnis zum einfachen Gesetzesrecht an Boden gewonnen. In einer sich dynamisch entwickelnden, hochgradig ökonomisierten und digitalisierten Lebenswelt muss es dem Gesetzgeber schwerfallen, mit den immer kürzer werdenden Innovationszyklen Schritt zu halten. Das hat eine Aufwertung des Richterrechts zur Folge, das die Rechtsfragen beantworten muss, die der einfache Gesetzgeber nicht vorhersehen konnte oder auch nicht regeln wollte.