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Erschreckende Ignoranz

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Oder wie sollen wir es nennen, wenn selbst Pädagogen offensichtlich judenfeindliche Darstellungen nicht erkennen? Jahrelang benutzten Oberstufen-Klassen das Schulbuch Anstöße 2 des Klett Verlages, das im Fach Gesellschaftskunde Diskussionen anregen sollte. Das Werk behandelte unter anderem die Finanzkrise der Europäischen Union. In diesem Kontext findet sich auch eine Grafik, die den Beitrag »Europas Zahltag« illustriert. Sie zeigt die EU-Staaten, die von einem gelben Kopf attackiert werden, der aussieht wie die Spiele-Figur Pac-Man, hier aber mit bedrohlich aufgerissenem Maul und scharfen Zähnen auf sie zurast. Offenbar will er sie verschlingen. Sein Schweif lässt erkennen, was ihn antreibt: »Rothschildbank« steht auf allen Strahlen. Diese jüdischen Banker also bedrohen das Überleben der europäischen Staaten. Es ist ein uraltes antisemitisches Stereotyp.

Ganze vier Jahre bemerkten das weder Lehrer noch Schüler, davon abgesehen, dass auch verantwortliche Mitarbeiter eines deutschen Schulbuchverlags keinen Anlass sahen, die Illustration zu beanstanden. Erst der damalige Sprecher für Innen- und Religionspolitik der Grünen, Volker Beck, machte auf sie aufmerksam.8 In dem Zusammenhang wies der Abgeordnete auf einen weiteren Fall hin, in dem an einer Hildesheimer Hochschule für eine Lehrveranstaltung jahrelang antisemitische Unterrichtsmaterialien verwendet wurden, ohne dass Lehrkräfte oder Studierende dies beanstandeten.

Im Fernsehsender ARD-alpha in der Mediathek und auf Netflix läuft die Trickfilmreihe Es war einmal … das Leben. Die Serie ist seit 1986 ein Klassiker, an den sich viele heute Erwachsene erinnern und den Kinder immer noch gern schauen. In einem Beitrag über das Immunsystem werden Bakterien mit Gas vernichtet und röcheln vor ihrem Ende »Oy vey Gevalt«. Niemandem fiel das auf, bis der Blog Übermedien diese Sendung thematisierte.9 Juden als Bakterien? Mittlerweile werden die Serien laut Übermedien von der NDR-Tochter Studio Hamburg Enterprises vertrieben. Die Programmverantwortlichen meinten wahrscheinlich, etwas Gutes zu tun mit dieser Hinzufügung in der deutschen Synchronisation, die es im französischen Original nicht gibt, denn auf ihrer Website erklärten sie zu dieser Folge über das Immunsystem, dass die Staphylokokken durch den »blauen Wüstrich« vergast würden. Weiter heißt es: »Kurz vor seinem Tod ruft in der deutschen Version ein Staphylokokkus den jiddischen Ausdruck ›Oy vey gevalt‹ – eine Anspielung an die Verbrechen im Dritten Reich. In der französischen Version war das nicht der Fall.« Wie sie darauf kamen, dass Kinder das alles auch nur annähernd einordnen können und wie man in dieser Szene irgendetwas anderes als Judenhass sehen kann, bleibt ihr Geheimnis.

2014 druckte die Süddeutsche Zeitung die Zeichnung eines Kraken, dessen Arme Laptops und Computer umfangen. Sie hat ein Gesicht, das von gekräuselten Haaren umgeben ist, mit riesiger Nase und wulstigen Lippen, und mit einem Facebook-F über der Stirn. Die Geschichte handelt von dem wachsenden Einfluss sozialer Medien, und offensichtlich soll die Zeichnung den Facebook-Gründer Mark Zuckerberg darstellen. Vor allem aber ähnelt sie den Karikaturen älterer Juden im nationalsozialistischen Der Stürmer aus den dreißiger Jahren. Facebook hatte zu dieser Zeit gerade die Kommunikationsplattform WhatsApp übernommen. Der Zeichner, Burkhard Mohr, sagt, ihm sei nicht aufgefallen, dass die Grafik »wie eine jüdische Hetz-Zeichnung« aussehe. Beschwerden über die Karikatur aus der jüdischen Gemeinschaft kommentieren Leser im Tagesspiegel mit Sätzen wie »Statt, dass deutsche Journalisten den Antisemitismusvorwurf gegenüber einem Kollegen als fernliegend bezeichnen, wird ellenlang zitiert, was paranoide Juden als antisemitisch definieren … Mein Vorschlag: Vor jeder Veröffentlichung alles an eine jüdische Zensurabteilung, um es dort freigeben zu lassen.« Ein anderer fragt: »Ist Kritik an Juden per se eigentlich schon antisemitisch?«10 Offensichtlich hat keiner von ihnen jemals in Abhandlungen geschaut, die sich mit antisemitischen Stereotypen auseinandersetzen, denn dann hätten sie erfahren, dass eine überbetonte Nase, krause Haare und wulstige Lippen zum Standardrepertoire der antijüdischen Karikatur gehören – also all das, was die Zeichnung beinhaltete.11 Zudem sind beide Bemerkungen selbst judenfeindlich. Doch wen kümmert das? Wo doch Antisemitismus mit der Realität ohnehin nichts zu tun hat und es die Norm zu sein scheint, dass Leser in Kommentaren zu antisemitischen Vorfällen die Annahme äußern, Juden seien übermächtig und hielten die Fäden in der Hand, vor allem, wenn es um die »Antisemitismuskeule« geht – ein in Foren immer noch gern benutzter Begriff.

Selbst und gerade in Akademikerkreisen ist dieser beiläufige Antisemitismus häufig anzutreffen. Das fängt mit studierten Professorengattinnen an, die beim Abendessen fragen, warum Juden eigentlich schon wieder alles kontrollieren, und hört mit Studierenden auf. Leo Trepp erzählte von einer Dissertation in den 1990er-Jahren, die sich mit »Woody Allen in der Jüdischen Tradition« befasste und die er als Mitglied des Prüfungsausschusses an der Universität Mainz begutachtete. Der Doktorand, immerhin ein Student, der auch Judaistik belegt hatte, charakterisierte in seiner Arbeit die Juden als heimatlose Wanderer, die sich mit der Sprache und der Identität ihrer »Gastländer« tarnten. Er behauptete, dass sie keine wahrhaften Werte hätten, da der Talmud alles relativiere. Ihre Waffe liege in einem zynischen Humor, der wiederum alle Werte ihrer Bedeutung beraube. Insgesamt durchzogen antisemitische Stereotype die Arbeit. Trepp sagte über den Vorfall: »Hier traten die Auswirkungen von jahrhundertelanger Indoktrinierung zutage, die auch durch die Lektionen des Holocaust nicht abgemildert worden waren.«12 Dass ein hoher Bildungsabschluss und Geld vor Vorurteilen und dem Verwenden von Stereotypen schützen, war immer schon eine von Wissenschaftlern längst widerlegte Mär.

Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus

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