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Wenn fast nur Juden für die Juden eintreten

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Die Unsicherheit, was als antisemitisch zu werten ist, scheint in allen Gesellschaftsschichten groß zu sein, aber die Mehrheit ist sich offensichtlich darüber im Klaren, dass es Antisemitismus gibt. Laut einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2018 halten zwei Drittel der Bundesbürger ihn für ein Problem. 61 Prozent glauben, dass Anfeindungen gegenüber Juden in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Damit liegen die Werte für Deutschland höher als in anderen Ländern Europas. Denn EU-weit bemerkt lediglich jeder Dritte einen Anstieg.20 Wie entsteht diese Diskrepanz zwischen Alltagsverhalten, Empfindung und Einschätzung? Schaut man sich die vergangenen Jahre an, werden in den Medien vor allem körperliche Übergriffe gegen Juden und Angriffe aus dem rechten Lager wahrgenommen, während auf der anderen Seite viele Bürger auch den Antisemitismus aus der muslimischen Ecke thematisieren. Nehmen Menschen diese Formen des Judenhasses also eher wahr? Können sie seine Existenz eher akzeptieren, wenn die Wahrnehmung ist, dass er nicht auch aus der Mitte der Gesellschaft kommt? Wie sieht also ein antisemitischer Angriff in Deutschland aus, den die überwiegende Mehrheit der Deutschen ohne jeden Zweifel als judenfeindlich einordnet?

Am 9. Oktober 2019, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte der Rechtsextremist Stephan Balliet in die Synagoge in Halle einzudringen. Er kam mit Waffen und Sprengsätzen, mit dem festen Vorsatz, Juden zu töten – und zwar möglichst viele, deshalb habe er den Jom Kippur gewählt, sagt er in einem vorab hergestellten Video, an dem Tag gingen nämlich auch eher säkulare Juden zum Gottesdienst. »Der Jude«, meint er, sei für alle Probleme verantwortlich. Den Holocaust habe es nie gegeben. Der 27-jährige arbeitslose Mann versuchte auf verschiedenen Wegen, in die Synagoge zu gelangen, zuletzt wollte er eine Gebäudetür aufschießen und sprengen. Doch die Tür hielt stand. Balliet filmte die gesamte Tat. Auch innen im Gebäude konnten die Menschen seine Versuche, sich Zugang zu verschaffen, über eine Kamera verfolgen. Zu hören waren die Schüsse ohnehin. Das Leben der 51 Gottesdienstbesucher wird wohl für lange Zeit nicht mehr dasselbe sein.

Der Täter betonte später auch in den polizeilichen Verhören, dass er Juden habe töten wollen und dass er die Erschießung zweier unbeteiligter Bürger bedaure. Die meisten Deutschen verurteilten es daraufhin scharf, als Abgeordnete der AfD dennoch kritisierten, dass der jüdischen Gemeinde Anteilnahme gezeigt werde, wo doch »Deutsche« getötet worden seien. Und Bürger widersprachen genauso vehement, als Abgeordnete den Angriff auf die Synagoge wegen der kaputten Tür lediglich als ‚Sachbeschädigung“ darstellten. Nehmen Nichtjuden Antisemitismus als Hass gegen Juden also eher zur Kenntnis und verurteilen ihn, wenn er gewalttätig ist und sich gegen lebende Menschen richtet? Doch auch diesen gewalttätigen Antisemitismus hat es immer gegeben, wenn auch vielleicht nicht mit Tötungsabsichten. Schon 2004 wurden Juden, die als solche zu erkennen waren, regelmäßig körperlich angegriffen. Damals und in den folgenden Jahren sahen die meisten diesen Übergriffen tatenlos zu. Das war selbst im Sommer 2018 noch so, als ein syrischer Jugendlicher im Berliner Prenzlauer Berg einen Mann mit Kippa mit einem Gürtel verprügelte. Jemand filmte das Ganze zwar, doch nur eine einzige Frau kam dem Opfer zur Hilfe, obgleich die Cafés an der Straße vollbesetzt waren.

Die Gelassenheit, mit der die Mehrheit aggressiven Antisemitismus hinzunehmen bereit ist, zeigte sich am besten im Sommer 2014, als die radikalislamistische Terrororganisation Hamas, die seit 2007 den im Jahr 2005 von Israel geräumten Gazastreifen regiert, pausenlos Raketen auf israelische Städte abfeuerte und Israel daraufhin Ziele in Gaza bombardierte und dabei auch palästinensische Zivilisten ums Leben kamen. Mitte Juli, als die Zahl der Toten unter den Palästinensern bei 375 lag und die der Israelis bei 20, riefen europaweit diverse Gruppen zu Protesten gegen den jüdischen Staat auf. Wenige berücksichtigten, dass die Hamas bewusst aus Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden schießt und so Zivilisten als menschliche Schutzschilde einsetzt und das israelische Militär deshalb selbst bei den größten Vorsichtsmaßnahmen, um Zivilisten nicht zu gefährden, Tote unter ihnen nicht immer verhindern kann. Das Ganze wiederholte sich in vielen Städten in weitaus aggressiverer Form während des Gazakonflikts 2021. Darüber wird in anderem Zusammenhang noch zu sprechen sein. Wie auch über die Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen, wo wir beobachten konnten, wie schnell und einfach sich jahrhundertealte Stereotype wieder zum Leben erwecken ließen.

Auch 2014 gingen in Deutschland pro-palästinensische Gruppen auf die Straße. Doch statt gewaltloser Proteste gab es vielerorts Übergriffe auf Juden, Angriffe auf jüdische Einrichtungen und antisemitische Hasstiraden. In Essen wurden Protestierer festgenommen, weil sie einen Anschlag auf die Synagoge geplant haben sollen. Und nicht nur in dieser Stadt wurden Juden mit Nazis gleichgesetzt oder wurde Israel der Tod gewünscht. In Berlin griffen Protestler ein israelisches Ehepaar an, das zufällig ihren Weg kreuzte, der Mann trug eine Kippa. Juden wurden als »feige Schweine« beschimpft, einige riefen »Zionisten ins Gas«. Einträchtig liefen Neonazis, radikale Muslime und antizionistische Linke auf diesen Demonstrationen nebeneinander.

Juden fühlten sich in diesem Sommer in Deutschland nicht mehr sicher. Von der Mehrheitsgesellschaft kam kaum Beistand. Im Spätsommer organisierte der Zentralrat der Juden in Deutschland für Mitte September eine Kundgebung am Brandenburger Tor unter dem Motto »Steh auf! Nie wieder Judenhass!« Zusammen mit meinem Bruder ging ich hin. Und rechnete damit, schon lange vor dem Brandenburger Tor nicht mehr durchzukommen. Ich konnte mich noch gut an den Juli 2008 erinnern, als der damalige Präsidentschaftskandidat Barack Obama an diesem Ort sprach. Vor 200 000 Menschen. Es war kein Durchkommen. Doch nun musste sich keiner drängen. Wir konnten bis nach vorne vorgehen, vorbei an Bekannten aus verschiedenen jüdischen Gemeinden, bis wir uns neben Freunde aus Berlin stellten. Auf der Tribüne saßen der Präsident des Zentralrats, Bundespräsident Joachim Gauck, die Kanzlerin, Außenminister Steinmeier, weitere Kabinettsmitglieder, Mitglieder des Bundestags, Landespolitiker. Das offizielle Deutschland war da. Das Volk nicht. Gerade mal 5000 Leute waren gekommen, davon gefühlt die Hälfte Juden. So war es fast ein wenig komisch, als der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, sagte, dass alle, Juden und Nichtjuden, als ein Volk zusammenstünden. »Wir stehen gemeinsam gegen Intoleranz, gegen Fanatismus, gegen Antisemitismus.«

Ganz genau das ist eben nicht passiert. Damals nicht, und man fragt sich, ob es nach Halle im gebotenen Maß passieren wird. Denn selbst bei seriösen Politikern, deren gute Absichten niemand anzweifeln kann, bekommt man als Beobachterin den Eindruck, dass sie den Ernst der Lage in der Vergangenheit unterschätzt haben und die letzten Jahrzehnte in Deutschland an ihnen vorbeigegangen sind. So sprach die CDU-Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach dem Anschlag noch von einem »Alarmzeichen«, andere sagten, eine solche Tat sei in der Bundesrepublik nicht vorstellbar gewesen. Kein Wunder, dass sich Juden über solche Äußerungen empören. Neben dem Erstaunen über eine solche Blindheit für die Realität drängt sich der Verdacht auf, dass die meisten Bürger und Politiker nicht wirklich wissen, was Antisemitismus eigentlich ist, wie er sich äußert, und wie er von Wissenschaftlern heute definiert wird. Man kann nur hoffen, dass man nach Halle zumindest in der offiziellen Politik den Antisemitismus ernster nimmt als man es davor getan zu haben scheint. Ein erster Schritt könnte die Einrichtung der Antisemitismusbeauftragen auf Bundes- und Länderebene sein, wenn denn deren Empfehlungen umgesetzt würden. Oft scheitert es daran, dass auch politische Einrichtungen zögern, Schwierigkeiten in der Gesellschaft klar zu benennen. Ein weiterer Schritt zur Lösung wäre, bei beteiligten Akteuren, wie beispielsweise dem Lehrpersonal an Schulen, ein Verständnis dafür zu wecken, was Antisemitismus eigentlich ist. Er ist eben nicht eines von vielen Phänomenen der Menschenfeindlichkeit. Natürlich ist es wichtig, auch Probleme wie Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit zu thematisieren. Doch wie wir sehen werden, hat sich die Ablehnung von Juden über Jahrhunderte vollkommen anders entwickelt als andere Formen der Menschenfeindlichkeit.21 Solange die Mitte der Gesellschaft diese Strukturen aber nicht versteht und zu erkennen bereit ist, wird sich wenig ändern. Denn ich bin davon überzeugt, dass die relativierende Ja-Aber-Haltung der Mehrheit maßgeblich dazu beiträgt, den Boden für die gewaltbereiten und gewalttätigen Attacken zu bereiten und das Leben der Juden in Deutschland unangenehmer und schwieriger, wenn nicht gefährlich zu machen. Durch Corona hat sich das Klima noch einmal verschlechtert. Für Änderungen ist es allerhöchste Zeit.

Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus

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