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Ein neues Bild und ein neuer Hass
ОглавлениеIn vielen Jahrhunderten waren die Juden vor allem in Westeuropa, das sie zu gewissen Zeiten aus Ländern wie Spanien oder England vollkommen verbannt hatte, eine winzige Minderheit. Oft hatten Untertanen der Herrscher und Anhänger der Kirche Vorstellungen von Juden in den Köpfen, ohne jemals persönlich einem Juden begegnet zu sein. In Osteuropa dagegen stellten jüdische Bürger in manchen Orten einen bedeutenden Teil der Bevölkerung. Diese Menschen waren erfahren im Handel, konnten lesen und rechnen, und die jeweiligen Herrschenden nutzten ihre Fähigkeiten: Juden betrieben für sie Herbergen und Geschäfte oder trieben Pacht und Steuern für sie ein. Nicht selten führte das, besonders unter den Leibeigenen, zu Hass im Volk und immer wieder zu Pogromen.
Nachdem Juden im achtzehnten Jahrhundert auch wieder verstärkt nach Westeuropa kamen, begegneten den Bürgern Menschen, die die meisten von ihnen nur aus stereotypen Geschichten kannten, die man über sie hörte und erzählte. Ob es um Politik ging oder um den Geldverleih und die Wirtschaft – die Juden hatten immer als Beispiel für das gedient, was die Christen zutiefst ablehnten und aneinander kritisierten. Es ist erschreckend, wenn David Nirenberg über dieses Phänomen spricht,44 denn seine Beschreibungen machen klar, dass sich bis heute nicht so viel daran geändert hat, wenn auf deutschen Schulhöfen ›Jude‹ als Schimpfwort benutzt wird, ohne dass Schüler überhaupt einen Juden kennen.
Als das vereinte Deutsche Reich den Juden 1871 Gleichberechtigung gewährte, hatten sie schon Jahrzehnte unter ihren christlichen Nachbarn gelebt. Und sie waren nichts von dem, als was die Kirche sie hingestellt hatte. Das irritierte nicht wenige Bürger, und bald sollte sich daraus eine neue Ablehnung entwickeln. Schon nachdem Preußen und andere Länder im Reich ihnen im Zuge der Emanzipation 1812 die Bürgerrechte verliehen hatten, hatten sich die Christen plötzlich Juden gegenüber gesehen, die im gesellschaftlichen Leben aktiv und dynamisch agierten, schreibt die Historikerin Shulamit Volkov.45 Sie beschreibt lebendig, wie angestrengt die Nichtjuden von nun an versuchten, sie dennoch als Außenseiter darzustellen. Demnach begingen die Juden ständig irgendwelche Fehler, obgleich, so Volkov, wohl keine Gruppe die gesellschaftlichen Formen so internalisiert hatte wie sie. Dazu waren sie ambitioniert, oft gebildeter als die anderen, und mit dem Gefühl, nichts verlieren zu können, mutiger in ihren Unternehmungen. Mit der vollen Emanzipation stand ihnen nichts mehr im Weg, und sie nutzten ihre Chance. Und viele waren erfolgreich. Jahrhundertelanges Diskutieren der Tora und des Talmuds hatte ihr Denken geformt und ihre Kritikfähigkeit entwickelt. Sie waren bereit, sich auf Neues einzulassen. Oder wie Albert Einstein sagte: »Als sich die Universitäten für die Juden öffneten, hatten sie sich zweitausend Jahre darauf vorbereitet.«
Plötzlich waren die Christen – die alle Juden ablehnten und verachteten, weil sie anders waren, anders glaubten, anderen religiösen Gesetzen gehorchten und dadurch außerhalb der Gesellschaft standen – plötzlich also waren diese Christen mit Juden konfrontiert, die in die Gesellschaft hineinwollten. Und unter denen es sogar solche gab, die sich nicht einmal mehr religiös von den anderen Bürgern unterschieden, sondern sich assimilierten. Das schuf eine vollkommen neue Angst in der Mehrheitsgesellschaft. Das Weltbild der Christen, deren Denken vom Antijudaismus geprägt gewesen sei, habe sich nun verändert, sagt Nirenberg. »Plötzlich waren sie konfrontiert mit wirklichen Juden und mussten das irgendwie verarbeiten.« Sarkastisch gesagt: Die allein auf Religion basierende Judenfeindlichkeit funktionierte nicht mehr richtig. Man musste sie ergänzen und erneuern.
So entwickelte sich im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert der moderne Antisemitismus. Der habe, so Volkov, zwei Richtungen gehabt, die sich überlappten. Er richtete sich einerseits gegen die verarmten Ostjuden, vor denen unter anderen der Publizist und Politiker Heinrich von Treitschke warnte, weil es mit ihnen zu einer Mischkultur kommen würde, und andererseits gegen die überaus erfolgreichen kosmopolitischen Juden, die auf den Feldern, auf denen sie aktiv werden durften, erfolgreich waren und sich als Mäzene im Gemeinwesen engagierten.
Treitschke ging davon aus, dass sich zumindest in neuen Generationen das polnische Judentum in Deutschland durchsetzen werde. Diese Juden seien unfähig, sich zu assimilieren, was in seiner Lesart die völlige Aufgabe ihrer jüdischen Identität verlangte. Sie konnten also Juden sein, solange sie nicht wie Juden lebten. Auch wenn er sich vom gewalttätigen Antisemitismus distanzierte, entwickelte der Historiker mit seiner Haltung den »bürgerlichen Antisemitismus«, der leichter zu vertreten und somit mindestens ebenso gefährlich wie alle anderen Spielarten ist.46 1879 schrieb er in einem Aufsatz den Satz »Die Juden sind unser Unglück« und setzte damit eine Hetzparole in die Welt, die das antisemitische Propagandablatt Der Stürmer später übernahm.