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Nicht sehen, was man nicht sehen will

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Und die »vierte Gewalt«, die Medien, die allen auf die Finger schauen sollen? Wie wir gesehen haben, sind auch deutsche Zeitungen nicht vor Antisemitismus gefeit und viele Journalisten ignorieren die verschiedenen Formen des Antisemitismus‘ nicht nur, sondern ändern ihre Perspektive auch nur ungern. Zu Beginn der Regierungszeit von US-Präsident Donald Trump nahmen die antisemitischen Angriffe in den Vereinigten Staaten stark zu. Auch jüdische Journalisten wurden skrupellos belästigt, vor allem im Internet. Benutzer kopierten ihre Köpfe auf die Leichen von in Konzentrationslagern ermordeten Menschen, wünschten ihnen den Tod im Gas und beschimpften sie auf übelste Weise. Das traf insbesondere Redakteure, die den Republikanern nahestanden und sich aus einer fiskalisch konservativen, aber sozial liberalen Haltung gegen Trump stellten und auch seine laxe Reaktion auf Antisemitismus und Rassismus angriffen. Ich schrieb damals ab und an für deutsche Medien und unterhielt mich mit dem Ressortleiter eines Nachrichtenmagazins über dieses Phänomen, das ich in einem Essay reflektieren sollte. »Ich möchte ebenfalls erwähnen, wie sehr man es anerkennen muss, dass diese Kollegen für ihre Werte einstehen«, sagte ich, »auch einem Präsidenten gegenüber, der ihrer Partei angehört. Ich wünschte mir das so klar auch von linksliberalen Journalisten, die leider den Antisemitismus von links oft nicht wahrnehmen.« Wieso, fragte er, wo es denn Judenfeindlichkeit auf dieser Seite gebe. »Hallo? Noch nie von BDS gehört? Hier bei uns in Berkeley wird jeder Jude, sofern er aus Israel kommt, wie ein Aussätziger behandelt. Und selbst wenn amerikanische Juden eingeladen werden, die als Zionisten bekannt sind, werden sie niedergebrüllt.« Und nur in wenigen Fällen verurteilt ein Gericht die Störenfriede, wie es 2011 passierte, nachdem der Historiker und damalige israelische Botschafter Michael Oren auf einer Veranstaltung an der Universität Irvine wegen der Agitationen eine Stunde lang gar nicht und dann nur sehr verkürzt sprechen konnte.13 Und wenn jüdische Studenten an einer der Universitäten in Kalifornien und anderswo einigermaßen friedlich leben wollen, distanzieren sie sich besser von Israel.14 Ich nannte einige Beispiele. Doch er wollte sie partout nicht als Judenfeindlichkeit erkennen: »Aber das hat doch nichts mit Antisemitismus zu tun. Da geht es doch um Kritik an Israel.« Ich habe den Essay nicht geschrieben.

Die Haltung des Ressortleiters ist typisch. Je nachdem, welcher Gruppe Antisemitismus zugeschrieben wird, kann man davon ausgehen, dass Menschen, die ideologisch ähnlich denken, jede Anfälligkeit für Judenfeindlichkeit in dieser Ideologie völlig verneinen oder zumindest den antisemitischen Charakter eines konkreten Vorfalls anzweifeln, ihn herunterspielen oder rechtfertigen. So findet man in manchen Medien erst seit Halle zumindest ansatzweise den Versuch, Kritik an der israelischen Regierung von antisemitischen Tönen freizuhalten. Und immer noch ist es für einige Redaktionen schwierig, muslimischen Antisemitismus zu thematisieren, genauso wie den Judenhass, der aus der linken Ecke kommt. Und den Antijudaismus bemühen ohnehin selbst Bürger, die zu Atheisten geworden sind, wenn sie beiläufig erwähnen, man sehe doch, wohin das Prinzip ›Auge um Auge‹ führe, oder erklären, warum die Juden längst hätten aufhören sollen, ihre Söhne zu beschneiden. Doch wenn selbst Menschen der schreibenden Zunft die Augen verschließen, Redakteure, denen man nicht nur Bildung und selbstständiges Denken, sondern auch Professionalität im Umgang mit Fakten unterstellen kann – was soll man dann erst von der breiten Öffentlichkeit erwarten? Tatsächlich haben sich Journalisten in den vergangenen Jahren als besonders unbelehrbar erwiesen, wenn es um die Urteilskraft in Bezug auf judenfeindliche Stereotype ging.

Sofern Juden den Antisemitismus aus ihrer Warte beschreiben, müssen sie befürchten, als Spinner abgetan zu werden, wie in dem Fall des New Yorker Autors Tuvia Tenenbom, der für den Rowohlt Verlag durch Deutschland fuhr, um die Stimmung zu erkunden. Die daraus entstandene Publikation über latente Judenfeindlichkeit im Land passte dem Verlag nicht. Um seine ablehnende Haltung zu untermauern, gab er ein Gutachten in Auftrag. Dessen ungenannte Verfasserin äußerte unter anderem, Tenenbom sei »offensichtlich ein jüdischer Hysteriker, wie ihrer aller Schutzheiliger Woody Allen«. Das sei als Kompliment gemeint gewesen, hieß es später. Im Verlauf der Auseinandersetzung hatten weder Verlag noch die Redaktion der Süddeutschen Zeitung15 oder Durchschnittsdeutsche Probleme damit, den amerikanischen Autor auch mit antisemitischen Untertönen anzugreifen.

In einem Bericht über den Streit schrieb der Journalist Malte Herwig in der Süddeutschen, der »Jude Tenenbom« habe sich für sein Manuskript mit so ziemlich allem getroffen, »was Deutschland an schrägem Personal zu bieten hat«.16 Man muss den flapsigen Stil von Tenenbom nicht mögen, doch mit einer solchen Aussage diskreditiert der Redakteur ein Buch über den Antisemitismus in Deutschland von Anfang an als etwas, das man nicht ernst nehmen muss. Und weder ihm noch seinem Ressortleiter fällt auf, dass die Einführung einer jüdischen Person als »der Jude« extrem »beladen« ist, wie der ehemalige Priester und Autor James Carroll in seinem Werk Constantine’s Sword über die Entwicklung des Antisemitismus schon im Zusammenhang mit der Verwendung des Wortes im Johannesevangelium anmerkt.17 Nicht umsonst benutzten auch die Nazis oft ›Jude‹ anstatt ›Herr‹ in der Ansprache, um einen Juden herabzusetzen. Einem deutschen Journalisten stünde die Bereitschaft zum Lernen in dieser Hinsicht gut an. Davon weit entfernt, sagte Herwig in einem Gespräch mit dem Spiegel, er sehe absolut nichts Falsches darin, den Sohn eines Rabbiners als ›Juden‹ zu bezeichnen.

Diskussionen wie diese entspinnen sich immer wieder. Häufiger entwickelt sich eher eine Debatte darüber, ob ein konkreter Vorfall als antisemitisch anzusehen ist, als dass man mit dem Problem an sich ringen würde. Darin liegt eines der größten Probleme bei der Bekämpfung des Judenhasses. Wir werden dieses Phänomen in den nächsten Kapiteln an verschiedenen Beispielen wie antisemitischer Israelkritik oder christlichem Antijudaismus näher betrachten. Schon an dieser Stelle aber wollen wir vermerken, dass die Grenze zwischen denen, die einen antisemitischen Vorgang als solchen erkennen, und solchen, die das nicht tun, auffällig häufig zwischen Juden und Nichtjuden verläuft. Offensichtlich ist die Mehrheit nicht bereit, Antisemitismus klar zu benennen, egal, in welcher Form er sich zeigt. Warum?

Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus

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