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Wer darf dazugehören?

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Einen Schub bekamen die neuen antijüdischen Gefühle und Haltungen durch den Nationalismus und die Industrialisierung. Im Streben nach Demokratie und einer deutschen Nation, beides von der Mehrheit der Juden aktiv unterstützt, tauchte für viele Bürger die Frage auf, ob diese tatsächlich dazugehören sollten. Ihnen war der Gedanke zuwider, dass eine ehemals ausgestoßene Gruppe gesellschaftsfähig wurde, und noch mehr, dass Juden in einer gleichberechtigten Demokratie womöglich auf wichtigen Positionen sitzen könnten. Diese Befürchtungen sahen sie bestätigt, als im neunzehnten Jahrhundert die Städte nicht nur zu Zentren der Nationalbewegungen, sondern auch der Industrialisierung wurden, bei der die Juden bald eine führende Rolle spielen sollten. Sie waren seit Jahrhunderten im Handel tätig und in Kontakt mit Bürgern anderer Länder, die oft – bedingt durch erzwungene Emigration – ebenfalls Juden waren. Sie waren sprachgewandt und bereit, sich auf Risiken einzulassen. Zu diesen Menschen passten die alten Feindbilder nicht mehr. So sei ein neues antisemitisches Stereotyp mit den zwei schon angesprochenen Elementen entstanden: Die Juden waren Fremde, und sie konnten keine nationale Identität haben. Unter anderem warf man ihnen vor, dass sie rastlos seien und ihre Loyalität den Angehörigen des jüdischen Volkes gelte. Es ist schon bemerkenswert, dass es diesen Vorwurf immer noch gibt, nur dass er sich heute auf Israel bezieht. Hinzu kam, dass sie mit ihren kosmopolitischen Ideen, die als jüdisch identifiziert wurden, im Zuge der Urbanisierung den Platz der Nichtjuden einnehmen wollten. Oder, in die Sprache moderner Antisemiten übersetzt: »Sie wollen uns ersetzen und den Staat zersetzen«, wie es weiße Rassisten in den Vereinigten Staaten seit Jahren propagieren. Auch wenn sich der Antisemitismus in kommenden Jahrzehnten in gleichbleibenden Stereotypen äußern sollte, schreibt Volkov, habe er dennoch verschiedene Funktionen erfüllt.47 So sei er beispielsweise im Kampf für den Nationalstaat genauso eingesetzt worden wie im Kampf gegen die Industrialisierung.

Nachdem Wissenschaftler begonnen hatten, die Ursprünge verschiedener Ethnien und Sprachen zu erforschen, verstärkten mit Beginn der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch diese Ergebnisse bereits bestehende antijüdische Haltungen und wurden für Propaganda genutzt. Nicht nur unterschieden sich nach den Interpretationen der Rassentheorien, die sich im neunzehnten Jahrhundert entwickelten, die Menschen nach ihren Hautfarben und Sprachgruppen – selbst unter den »Weißen« gab es nun die überlegene und die unterlegene Gruppe. Die »Arier« hatten demnach ihre Gesellschaft am weitesten vorangebracht und standen an der Spitze. Damit hatte man die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs, der in Europa Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hauptsächlich für indoiranisch oder iranisch sprechende Menschen verwendet wurde, vollkommen umgewandelt. Nun war er Teil einer Rassenideologie. Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte man auch die Juden in dieser Rangfolge untergebracht. Sie waren nun also keine Religion oder Nation mehr, sondern eine Rasse. Nach einer Zeit der Verunsicherung, wie man ihnen gegenüber empfinden sollte und welchen Grund es überhaupt noch gab, sie zu hassen, hatten die Bürger endlich einen neuen Grund gefunden. Noch ahnten die Juden nicht, dass der neue Rassenantisemitismus für sie zu einer tödlichen Gefahr werden sollte.

Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus

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