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Einleitung – »Wähle das Leben!«1

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Noch ein Buch zum Antisemitismus? Ja. Und nein. Dies ist nicht nur ein Buch über Judenfeindlichkeit. Vor allem ist es eine Streitschrift zur Anerkennung der Realität. Wenn Sie so wollen, ist es ein Handbuch zum Kampf gegen den jahrtausendealten Hass. Eine Gebrauchsanweisung gegen den Antisemitismus. Also geht es natürlich auch um ihn. Doch geht es weniger darum, um wie viel Prozent er zunimmt und aus welchen Ecken er kommt. Natürlich werden wir das thematisieren, doch uns interessiert vor allem das »Warum«. Denn nur dann können wir das »Wie« und »Aus welchen Ecken« verstehen. Dabei wollen wir nicht nur die Stereotype offenlegen, die sich hinter antisemitischen Haltungen verbergen. Wir stellen diesen Stereotypen Fakten gegenüber. Wir gehen davon aus, dass Sie sich des Problems bewusst sind und vielleicht das Gefühl haben, dass man etwas tun sollte. Sonst würden Sie diese Zeilen wahrscheinlich nicht lesen. Sie investieren Zeit, um sich diesem komplexen Thema zu nähern. Und Sie möchten wissen, was Sie persönlich tun können. Trotzdem fehlt Ihnen bei der Fülle der Ereignisse manchmal die Übersicht, und Sie bekommen das Gefühl, das Thema genauer durchdringen zu wollen. Dieses Buch soll Ihnen diese Übersicht geben – so anschaulich wie möglich und mit Hinweisen auf weitere Informationsquellen. So erhalten Sie einen Ausgangspunkt, von dem aus Sie sich weiter orientieren können.

Der Umgang mit jüdischen Männern, Frauen und Kindern hat sich zunehmend enthemmt. Im Internet ohnehin, wo sich der Hass in einem erschreckenden Ausmaß ungefiltert entlädt. Doch sobald sich Juden als Juden outen, können Nichtjuden ihre gute Kinderstube auch im realen Leben schon mal vergessen. Ohne Sinn für Distanz oder Respekt stecken sie alle Juden in eine Schublade und fordern auch noch deren Unterstützung dafür ein. Wenn sie zum Beispiel jüdische Bürger als Nahostexperten befragen, die Antwort aber eigentlich nicht hören wollen, oder wenn sie ungefragt und ohne Interesse jüdische Bräuche beurteilen. Kaum etwas bleibt unkommentiert, wenn man als Jüdin oder Jude agiert.

Kein Wunder, dass nicht wenige Gesprächspartner in Studien angeben, ihre jüdische Identität zu verbergen. Es ist eine Selbstverständlichkeit für die meisten Juden, das zumindest an bestimmten Orten zu tun.

Was aber macht es mit Menschen, wenn sie einen Teil ihres Selbst verleugnen, um unbehelligt durchs Leben zu gehen? Und, weitaus besorgniserregender für die jüdische Gemeinschaft, was macht es mit ihren Kindern, wenn die sich nicht trauen, in ihrer Schule als Juden aufzutreten? Das ist eine Entwicklung, um die sich auch die Mehrheitsgesellschaft kümmern sollte.

Jüdische Bürger würden sich gerne mit anderen Dingen beschäftigen als vorwiegend mit Fragen, die um ihre Sicherheit kreisen. Und sich das klarzumachen, ist wichtig: Juden in Europa fühlen sich nicht mehr sicher. Wie hört sich ein solcher Satz an? Zwei Generationen nach der Schoah? In einer Zeit also, in der es immer noch Überlebende des Vernichtungsfeldzugs gegen die europäischen Juden gibt?

In Frankreich und Belgien sind Bürger in den letzten Jahren bereits ermordet worden, weil sie Juden waren, darunter auch Überlebende. Und nur weil die Tür einer Synagoge stabil genug oder der Täter »zum Glück zu dämlich« war, wie es in einem Post hieß, müssen wir nach dem Anschlag in Halle im Herbst 2019 nicht auch Deutschland auf diese Liste setzen. Das sind unhaltbare Zustände, auch für Nichtjuden! Denn lässt eine Gesellschaft es zu, dass der Anspruch an ein menschliches und respektvolles Miteinander kontinuierlich sinkt und verloren zu gehen droht, wird die zunehmende Verrohung irgendwann jeden betreffen. Für das Überleben einer funktionierenden Zivilgesellschaft muss sich jeder Bürger und jede Bürgerin dem Hass gegen eine einzelne Gruppe entgegenstellen.

Der erste Schritt dazu ist, das Problem zu akzeptieren. Es verschwindet nicht, indem man es kleinredet oder relativiert. Dazu gehört vor allem, dass man die Bedenken der Betroffenen ernstnimmt. Und dazu gehört, dass man antisemitische Beleidigungen und Angriffe auch so benennt. Sie kommen aus rechten, linken und muslimischen Kreisen. Und sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Es hilft keinem, eine Variante je nach Interessenlage oder eigener politischer Haltung herunterzuspielen. Dieser Band möchte den Lesern helfen, ein Gespür dafür zu bekommen, wann Menschen in ihrer Gegenwart Dinge sagen, die untragbar sind. Und es soll Ihnen helfen, eigene Verhaltensweisen oder Klischees zu hinterfragen. Manche Stereotype haben sich so in der bürgerlichen DNA festgesetzt, dass sie als gegeben und normal angesehen werden. Auch in Akademikerkreisen habe ich Aussagen gehört, die mich zusammenzucken ließen.

Dieses Buch rückt Annahmen zurecht und ermöglicht es, angesprochene Probleme zu verstehen und zu erfassen. Es ist aus der Erkenntnis entstanden, dass Antisemitismus sich nicht allein verhindern lässt, indem man gutwilligen Menschen hilft, ihn zu erkennen und sie darüber informiert, wo und wie sie Rat und Hilfe finden können. Das ist wichtig, aber alleine reicht es nicht aus. Was also muss geschehen, damit der Judenhass nicht in jeder Generation weitergegeben wird? Wie erzieht man eine Generation von Anti-Antisemiten? Mir ist während des Schreibens noch klarer geworden: Deutschland braucht eine systematische Erziehung gegen Antisemitismus. Wir werden das Problem ohne die Einbeziehung der Lehrer und Lehrbeauftragten nicht lösen. Es ist kaum zu verstehen, dass das Land, auf dem der Schatten der Schoah liegt, seine zukünftigen Lehrer nicht per Curriculum verpflichtet, Grundzüge des Judentums und jüdischer Ethik und die Entstehung des Staates Israel zu studieren. Wie wir sehen werden, stehen Lehrer antisemitischen Äußerungen und Taten ihrer Schüler oft hilflos gegenüber, weil sie es selbst nicht besser wissen. Es wird Zeit, dass besonders Schulen und Universitäten an die Wurzeln des Problems gehen. Deutschland sollte das Land der Anti-Antisemiten werden. Das wäre die Lehre aus der Schoah. Ohne Bildung gibt es dafür keine Chance.

Warum habe ausgerechnet ich dieses Buch geschrieben? Als »Jew by choice« – jemand, die das Judentum für sich gewählt hat?

Weil es in ihm in weiten Teilen um jüdisches Leben gehen soll – um jüdische Identität und das Judentum, das seit Jahrtausenden mit Hass konfrontiert ist – und weil mir dieses jüdische Leben wichtig geworden ist. Als junge Frau habe ich angefangen, mich mit dem Judentum zu beschäftigen, mit seiner spirituellen Schönheit und Klarheit des Denkens, seinen Diskursen, der tiefen Ethik, mit dem Gedanken der Gerechtigkeit und Akzeptanz aller Menschen als von Gott geschaffen. Werte, die mich zu einem sozial denkenden Menschen gemacht hatten, bekamen hier eine tiefere Bedeutung, weil sie gegründet waren auf einer wechselseitigen Beziehung zwischen Gott und Mensch, in der beide Seiten Erwartungen aneinander haben. Kurz, ich habe mich verliebt – in die Tora, in das Denken von Talmudisten und Philosophen, in die Gemeinschaft und das Miteinander und Füreinander. Trotzdem blieb Auschwitz. Ich hätte mich nicht für den Übertritt entschieden, wenn ich nicht meinen zweiten Mann, einen Rabbiner und Überlebenden, getroffen hätte, der mich dazu ermutigt hat. Es wäre mir übergriffig vorgekommen, anmaßend. Ich bin Jahrgang 1958, und da kann man nicht mal einfach von der Täterauf die Opferseite wechseln. Und, ohne es an dieser Stelle vertiefen zu wollen, dies ist nun mal das Bild, das viele jüdische wie auch nichtjüdische Deutsche hatten und oftmals haben.

Doch erst auf der anderen Seite habe ich wirklich erfasst, wie akut der Judenhass immer noch ist. Und damit meine ich: Nicht nur theoretisch zu wissen, dass es Antisemitismus auch ohne die Schoah gegeben und er sie maßgeblich ermöglicht hat, und dass es ihn nach der Schoah immer noch gibt. Sondern es zu fühlen. Auf der deutschen, nichtjüdischen Seite habe ich feindliche Haltungen gegenüber Juden unmittelbar beobachtet. Doch ich war nicht persönlich betroffen. Ich musste nicht sehen, dass der geliebte Mensch sich veränderte, dass seine Augen ins Nichts versanken, wenn Bürger seiner grenzenlosen Menschenliebe mit Zynismus begegneten. Mir zog sich nicht der Magen zusammen, wenn ich ahnte, was kommt. Zum Beispiel, dass Menschen über ihre bemitleidenswerten Eltern in den Bombennächten klagen und damit die Erfahrungen eines Überlebenden wegwischen würden, die mein Mann gerade mit ihnen geteilt hatte. Oder dass sie beiläufig seufzen würden »Wenn man sieht, was die Israelis jetzt mit den Palästinensern machen«, und den Nahostkonflikt damit in den Zusammenhang mit der Schoah brachten. Kurz – ich war dem Antisemitismus nicht direkt ausgesetzt. Ihn zu erfahren, ist etwas sehr anderes als ihn zu betrachten oder über ihn zu theoretisieren. Das ist eine Binsenweisheit, doch wie wichtig es ist, dass Menschen sie verstehen, zeigen tägliche Beispiele von Missinterpretation, Lächerlichmachen, Ignorieren und Nichtverstehen jüdischer Erfahrungen.

Geleitet haben mich beim Schreiben meine Begegnungen und Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre mit Menschen, die ihre Animosität Juden gegenüber unverblümt zeigten und solchen, denen nicht einmal bewusst war, dass ihre Bemerkungen oder Handlungen antisemitisch waren. Daneben die Ergebnisse der neueren Antisemitismusforschung und die Haltung meines verstorbenen Mannes, Rabbiner Leo Trepp, der jahrzehntelang in Deutschland über die jüdische Religion, Kultur und Ethik schrieb, lehrte und sprach, auch, weil er der festen Überzeugung war, dass nur dieses Wissen helfen würde, Menschen gegen den Antisemitismus zu immunisieren. Tatsächlich zeigen zahlreiche Beispiele, dass man dem Antisemitismus nicht wirksam entgegentreten kann, ohne dabei auch das in den Blick zu nehmen, was die Juden aus der Sicht vieler Menschen fremd und anders erscheinen lässt – ihr Judentum.

Immer wieder, in Lesungen, nach Vorträgen, auf Podien zum Thema Antisemitismus und in anderen Diskussionen, bin ich Nichtjuden begegnet, die, zum Teil unbewusst, jüdische Menschen und deren Verhalten genauso wie politische Ereignisse aus einer Haltung heraus bewerteten, die von Unwissen über die jüdische Religion und Ethik geprägt war. Die meisten Schüler, denen ich begegne, haben keine Ahnung vom Judentum und der jüdischen Kultur, wohl aber meinen viele von ihnen, den Nahostkonflikt beurteilen zu können. Ihre Einschätzungen dazu aber sind beeinflusst von all den überlieferten Stereotypen über Juden, die sie im Laufe der Zeit ohne Korrektur gesammelt haben. Diese Haltungen sind Jahrtausende alt und lassen sich nicht konterkarieren, ohne dass man sich ihrer bewusst wird.

Dieses Buch ist keine Anklageschrift, auch wenn es gern verdrängte Wahrheiten anspricht. Es ist eine Aufforderung. Wir wollen gemeinsam nachdenken, wie man Antisemitismus bekämpfen kann. Das können wir nicht, wenn wir allein Auschwitz vor Augen haben. Die Schoah war die Kulmination. Angefangen aber hat der gesellschaftliche Ausschluss der Juden, der zu ihrer Ermordung führte, mit dem kleinen Alltagshass und zunehmenden Akten der Entrechtung. Man muss keine alarmistischen Vergleiche bemühen, um den Experten zuzustimmen: Die Bausteine des Antisemitismus’ sind über Jahrhunderte dieselben geblieben. Und Mitglieder aller, wirklich aller gesellschaftlichen Seiten spielen gerade mit ihnen. Mittendrin: 200 000 Juden und Jüdinnen, die beliebig eingesetzt werden, oft ohne ihre Zustimmung.

Das Buch zeigt die Struktur und Dynamik auf, die den Antisemitismus von der Antike bis in die moderne Zeit angetrieben haben. Denn er unterscheidet sich von anderen Formen der Ablehnung oder des Hasses gegen bestimmte Menschengruppen: Wie eine rote Linie zieht er sich durch die Zivilisation und ändert allenfalls seine Erscheinungsform, nicht aber seinen Charakter. Wir werden sehen, warum es für die Auseinandersetzung mit ihm wichtig ist, immer auch die jüdische Perspektive zu berücksichtigen. Und warum man eine unreflektierte Animosität gegen Juden nicht bekämpfen kann, ohne zumindest ein wenig über das jüdische Leben und Denken, die Ethik und Kultur zu wissen. Genauso wichtig ist es, zu verstehen, wie sich Judenfeindlichkeit nach der Schoah nicht nur halten, sondern neu entwickeln konnte. Und natürlich ist dem jüdischen Staat ein Kapitel gewidmet, äußert sich doch heute antisemitisches Denken häufig in sogenannter Israelkritik. Wann kippt die um? Und wie erkennen wir die Grenze?

Wir werden Verbindungen herstellen und Stereotypen sowie Projektionen mit Fakten und Wissen kontern. Es ist also auch ein wenig Geschichtsunterricht und Ethiklehre. Sie erhalten eine Art Crashkurs: Zum einen versuche ich, komplexe Zusammenhänge so einfach wie möglich zu erklären, zum anderen erhalten Sie zahlreiche Verweise, wo und wie Sie sich weiter informieren können. Nicht, dass ich davon ausgehe, überzeugte Antisemiten bekehren zu können. Doch Wissen hilft auch, erst gar keine Vorurteile zu entwickeln. Besonders wünsche ich mir das für junge Menschen, die Deutschlands Zukunft sind, und die einmal alle miteinander für eine gerechtere und menschenfreundliche Gesellschaft arbeiten sollen.

Wir werden auch aktuelle Diskussionen, Geschichtswissen und Befunde wissenschaftlicher Studien in die Darstellung einbeziehen. Zum Abschluss jedes Kapitels bringen wir eine kurze Übersicht und Literaturempfehlungen zum Weiterlesen. Ich strebe damit nicht an, Komplexität und Vielfalt eines Problems, das die Menschheit seit 2000 Jahren beschäftigt, vollständig darzustellen. Doch ich will eine fundierte Basis bieten, auf der Leserinnen und Leser aufbauen können.

Die Nachweise und Literaturangaben werden für manche eine Ergänzung ihres bisherigen Wissens sein, für andere ein Korrektiv zu dem, was sie bisher angenommen haben. Über die Bewertung von Fakten lässt sich streiten. Denn jeder Mensch bringt bei der Einordnung von Sachverhalten eigene Erfahrungen und seine Biographie mit. Auch die Autorin. Dennoch bleiben in seriösen Quellen dokumentierte Geschehnisse Fakten. Manche kommen vielleicht nach dem Lesen einiger Quellen zu anderen Schlüssen als ich. Das sehe ich als gute Grundlage, in ein konstruktives Gespräch einzusteigen.

Ich gehe davon aus, dass die Realität und das Wissen immer noch die belastbarsten Fundamente darstellen, mit denen sich etwas anfangen und auf denen sich etwas aufbauen lässt. Ich hoffe, dass der Leser und die Leserin dieses Fundament nutzen können, um in der Zukunft sicherer aufzutreten, wenn sie gegen antisemitische Behauptungen und Aussagen argumentieren. Und es würde mich freuen, wenn jüngere Leser, die sich mit dem angebotenen Wissen vertraut machen, klischeehafte Bilder von Juden und Judentum entweder erst gar nicht entwickeln oder sie zu hinterfragen beginnen. Am schönsten aber wäre, wenn dieses Buch darüber hinaus der Beginn eines lebendigen Austauschs werden würde.

Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus

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