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I.

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Die Kas­sie­re­rin gab auf sein 5-Fran­cs-Stück das Geld her­aus und Ge­or­ges Du­roy ver­ließ das Lo­kal. Statt­lich ge­wach­sen, rich­te­te er sich auf mit der Hal­tung ei­nes ehe­ma­li­gen Un­ter­of­fi­ziers und dreh­te schnei­dig-mi­li­tä­risch sei­nen Schnurr­bart zwi­schen den Fin­gern. Er warf auf die üb­rig­ge­blie­be­nen Gäs­te einen schnel­len, flüch­ti­gen Blick; einen je­ner Bli­cke des schö­nen Bur­schen, die un­fehl­bar tref­fen, wie der Raub­vo­gel sei­ne Beu­te.

Die Frau­en blick­ten ihm neu­gie­rig nach: es wa­ren drei klei­ne Nähmäd­chen, eine Mu­sik­leh­re­rin un­be­stimm­ten Al­ters, schlecht ge­kämmt, nach­läs­sig ge­klei­det mit ei­nem al­ten, ver­staub­ten Hut und ei­nem Kleid, das nie­mals sit­zen woll­te. Dazu zwei bür­ger­li­che Frau­en mit ih­ren Män­nern, Stamm­gäs­te des klei­nen Lo­kals mit »fes­ten Prei­sen«.

Auf der Stra­ße blieb er einen Au­gen­blick ste­hen und über­leg­te, was er un­ter­neh­men soll­te. Es war der 28. Juni — in der Ta­sche blie­ben ihm 3 Fran­cs 40 Cen­ti­mes für den Rest des Mo­nats üb­rig. Da­für konn­te er sich zwei Mit­ta­ges­sen leis­ten, dann al­ler­dings kein Früh­stück, oder um­ge­kehrt. Er über­leg­te sich, dass ein Früh­stück nur 22 Sous, ein Mit­ta­ges­sen da­ge­gen 30 kos­te­te. Begnüg­te er sich bloß mit dem Früh­stück, so wür­den ihm 1 Fran­cs 20 Cen­ti­mes ver­blei­ben, das be­deu­te­te zwei­mal Würst­chen mit Brot und zwei Glas Bier auf dem Bou­le­vard. Dies war sein kost­spie­li­ges Ver­gnü­gen, das er sich abends gönn­te.

Da­rauf­hin ging er die Rue Notre-Dame de Lo­ret­te hin­un­ter.

So schritt er da­hin, wie zur­zeit, als er die Husa­ren­uni­form trug, in stram­mer Hal­tung mit et­was ge­spreiz­ten Bei­nen, wie ein Rei­ter, der eben vom Pfer­de ge­stie­gen ist. Ohne auf je­mand Rück­sicht zu neh­men, ging er sei­nen Weg durch die Stra­ßen­men­ge. Er stieß die Passan­ten und woll­te nie­man­dem aus­wei­chen. Sei­nen al­ten Zy­lin­der­hut rück­te er et­was auf das eine Ohr, und laut klan­gen sei­ne Schrit­te auf dem Pflas­ter. Verächt­lich und her­aus­for­dernd be­trach­te­te er die Men­schen, die Häu­ser, die gan­ze Stadt: er — der schi­cke, schnei­di­ge Sol­dat, der zu­fäl­lig Zi­vi­list war.

Sein fer­tig­ge­kauf­ter An­zug kos­te­te nur 60 Fran­cs, trotz­dem trug er eine ge­wis­se be­tont knal­li­ge Ele­ganz zur Schau; et­was or­di­när, da­für echt und ein­drucks­voll. Groß und schön ge­wach­sen, hat­te er dun­kel­blon­des, röt­li­ches, von Na­tur krau­ses Haar, das in der Mit­te ge­schei­telt war; mit ei­nem ke­cken Schnurr­bart, der sich auf sei­ner Ober­lip­pe kräu­sel­te, und hel­len, blau­en Au­gen mit klei­nen Pu­pil­len, sah er dem Mords­kerl aus ei­nem Hin­ter­trep­pen­ro­man ähn­lich.

Es war ein hei­ßer Som­mer­tag. Kein fri­scher Luft­zug reg­te sich in Pa­ris. Die Stadt glüh­te wie ein Kes­sel und er­stick­te in der schwü­len Nacht. Die Stra­ßen­kanä­le hauch­ten üb­len Duft aus ih­ren Gra­ni­tra­chen, und aus den Kü­chen und Kel­ler­räu­men dran­gen ekle Gerü­che von Spül­was­ser und al­ten Spei­se­res­ten auf die Stra­ße.

Un­ter den Hau­sto­ren sa­ßen die »con­cier­ges« (Haus­war­te) in Hemds­är­meln ritt­lings auf ih­ren Stroh­ses­seln und rauch­ten die Pfei­fe. Trä­ge schli­chen die Men­schen da­hin, mit ent­blö­ßtem Kopf, den Hut in der Hand tra­gend.

Als Ge­or­ges Du­roy den Bou­le­vard er­reich­te, blieb er ste­hen, un­schlüs­sig, was er nun tun soll­te. Er hat­te Lust, in die Champs Elysée und die Ave­nue du Bois de Bou­lo­gne zu ge­hen, um un­ter den Bäu­men et­was fri­sche Luft zu schöp­fen.

Aber ein an­de­res Ver­lan­gen reg­te sich in ihm, und zwar nach ei­nem Lie­bes­aben­teu­er. Wie ihm so ein Aben­teu­er in den Weg lau­fen soll­te, da­von hat­te er kei­ne Ah­nung, aber seit drei Mo­na­ten war­te­te er dar­auf je­den Tag und je­den Abend. Dank sei­ner schö­nen, statt­li­chen Er­schei­nung hat­te er wohl hier und da ein biss­chen Lie­be kos­ten dür­fen; ge­nü­gen tat ihm das nicht, er hoff­te im­mer auf mehr und auf Bes­se­res.

Mit heißem Blut aber lee­rer Ta­sche er­reg­ten ihn die Dir­nen, die ihm an den Stra­ßen­e­cken zu­mur­mel­ten: »Komm mit, fei­ner Jun­ge«, doch er ge­trau­te sich nicht, ih­nen zu fol­gen, denn be­zah­len konn­te er sie nicht, und dann träum­te er auch von an­de­rem, von et­was vor­neh­me­rer Lie­be und min­der ge­mei­nen Küs­sen.

Trotz­dem lieb­te er die Orte, wo es von je­nen öf­fent­li­chen Mäd­chen wim­mel­te; er such­te gern ihre Bal­lo­ka­le, ihre Cafés, ihre Stra­ßen auf. Er lieb­te, sie an­zu­spre­chen, sie zu du­zen, ihre auf­dring­li­chen Par­füms ein­zuat­men und ihre Nähe zu füh­len. Sie wa­ren doch schließ­lich Frau­en; Frau­en, die zur Lie­be be­stimmt wa­ren. Ver­ach­ten tat er sie nicht, so wie je­der Mann sie ver­ach­te­te, der im Schoß der Fa­mi­lie auf­ge­wach­sen ist.

Er lenk­te sei­ne Schrit­te nach der Ma­de­lei­ne­kir­che und folg­te dem Men­schen­strom, der sich, von der Hit­ze be­drückt, schwer­fäl­lig da­hin­wälz­te.

Die Cafés wa­ren über­füllt, dicht­ge­drängt sa­ßen die Men­schen am Bür­ger­steig, im grel­len, blen­den­den Licht der er­leuch­te­ten Fens­ter. Vor ih­nen auf klei­nen run­den oder vier­e­cki­gen Ti­schen stan­den Glä­ser mit ro­ten, gel­ben, grü­nen und in al­len Far­ben schil­lern­den Flüs­sig­kei­ten, und in den Kar­af­fen sah man große, durch­sich­ti­ge Eis­stücke glän­zen, die das schö­ne, kla­re Was­ser kühl­ten.

Du­roys Schrit­te wur­den lang­sa­mer, und das Ver­lan­gen nach ei­nem er­fri­schen­den Ge­tränk trock­ne­te ihm die Keh­le. Ihn pack­te ein glü­hen­der Durst, ein Durst ei­nes hei­ßen Som­mer­abends; er dach­te im­mer­fort an das köst­li­che Ge­fühl, wenn ihm et­was Kal­tes durch die Keh­le rinnt. Wenn er sich aber heu­te auch nur zwei Glas Bier ge­stat­te­te, dann war es mor­gen mit sei­nem kar­gen Abend­brot vor­bei, und die Stun­den des Hun­gers am Mo­nats­en­de wa­ren ihm nur zu wohl be­kannt.

Er sag­te sich: »Bis zehn Uhr muss ich aus­hal­ten, und dann trin­ke ich einen Bock à l’A­me­ri­cain. Don­ner­wet­ter, habe ich jetzt einen Durst!« Und er blick­te all die­se Men­schen an, die an den Ti­schen sa­ßen, tran­ken und ih­ren Durst lö­schen konn­ten, so viel sie woll­ten. Und wäh­rend er äu­ßer­lich keck und zu­ver­sicht­lich an den Cafés vor­über­ging, ta­xier­te er mit ra­schem Blick nach dem Aus­se­hen und der Klei­dung ei­nes je­den Gas­tes, wie viel Geld er wohl mit sich trug. Eine Wut er­griff ihn ge­gen die­se ru­hig da­sit­zen­den Leu­te. Wenn man ihre Ta­schen durch­such­te, so wür­de man Gold, Sil­ber und Klein­geld fin­den. Durch­schnitt­lich muss­te je­der wohl zwei Zwan­zig­fran­cs­stücke bei sich ha­ben, etwa hun­dert Men­schen sa­ßen in je­dem Café, und hun­dert­mal zwei­mal zwan­zig macht vier­tau­send Fran­cs. »Schwei­ne­hun­de!« mur­mel­te er vor sich hin und ging mit wie­gen­den Schrit­ten wei­ter. Hät­te er nur einen an ir­gend­ei­ner dunklen Stra­ßen­e­cke fas­sen kön­nen, wür­de er ihm weiß Gott ohne Be­den­ken den Hals um­ge­dreht ha­ben, wie er es mit den Dorf­hüh­nern an den Ta­gen der großen Ma­nö­ver tat.

Er dach­te an sei­ne zwei Dienst­jah­re in Afri­ka und an die Art und Wei­se, wie man in den klei­nen Vor­pos­ten im Sü­den den Ara­bern das Geld ab­nahm. Ein grau­sa­mes, zu­frie­de­nes Lä­cheln glitt über sei­ne Lip­pen, als er ei­nes Strei­ches ge­dach­te, der drei Män­nern vom Stam­me der Uled-Alan das Le­ben kos­te­te und ihm und sei­nen Ka­me­ra­den zwan­zig Hüh­ner, zwei Scha­fe und Gold ein­brach­te und hei­te­ren Ge­sprächss­toff für sechs Mo­na­te.

Die Schul­di­gen wa­ren nie ent­deckt wor­den, man hat­te sie auch frei­lich nie ge­sucht, da der Ara­ber so­zu­sa­gen als na­tür­li­che Beu­te der Sol­da­ten galt.

In Pa­ris war das an­ders. Hier konn­te man nicht mit dem Sä­bel an der Sei­te und dem Re­vol­ver in der Faust, fern vom wach­sa­men Auge der bür­ger­li­chen Ge­richts­bar­keit, in vol­ler Frei­heit her­um­plün­dern.

Wahr­haf­tig, er dach­te mit Weh­mut an die­se zwei Jah­re in der Wüs­te zu­rück. Wie scha­de, dass er nicht da un­ten ge­blie­ben war! Er hat­te sich Bes­se­res er­hofft, als er heim­kehr­te. Und nun … Ach ja, jetzt hat­te er, was er woll­te!

Er schnalz­te mit der Zun­ge, als woll­te er kon­sta­tie­ren, wie völ­lig aus­ge­dörrt sein Mund schon wäre.

Lang­sam und müde schob sich die Men­ge an ihm vor­über, und er dach­te im­mer noch: »Die­ses Pack! All die­se Idio­ten ha­ben Geld in der Wes­ten­ta­sche!« Er rem­pel­te die Men­schen an und pfiff dazu eine lus­ti­ge Me­lo­die. Män­ner, die er ge­schubst hat­te, dreh­ten sich schimp­fend um, und die Frau­en rie­fen ent­rüs­tet: »Un­ge­zo­ge­ner Lüm­mel!« Er ging am Vau­de­ville vor­bei und blieb vor dem Café Ame­ri­cain ste­hen. Er frag­te sich, ob er nicht doch ein Glas Bier trin­ken soll­te, so quäl­te ihn der Durst. Ehe er sich ent­schloss, sah er auf die be­leuch­te­te Uhr mit­ten auf dem Fahr­damm. Es war ein Vier­tel nach neun. Er kann­te sich zu ge­nau: so­bald das Glas Bier vor ihm stün­de, wür­de er es mit ei­nem Zug hin­un­ter­schlu­cken. Was soll­te er dann bis elf Uhr an­fan­gen?

Er über­leg­te: »Ich gehe noch bis zur Ma­de­lei­ne und keh­re dann lang­sam zu­rück.«

Als er an die Ecke des Place de l’O­pe­ra kam, be­geg­ne­te er ei­nem di­cken jun­gen Man­ne, des­sen Ge­sicht ihm ir­gend­wie be­kannt er­schi­en.

Er folg­te ihm und such­te sich zu er­in­nern, wäh­rend er halb­laut vor sich hin­sprach: »Zum Teu­fel, wo ken­ne ich die­sen Kerl her?«

Er ging und grü­bel­te, ohne dass es ihm ein­fiel; dann plötz­lich er­schi­en ihm der­sel­be Mensch durch einen ei­gen­tüm­li­chen Vor­gang des Ge­dächt­nis­ses we­ni­ger dick, jün­ger, in Husa­ren­uni­form. »Halt, Fo­res­tier!« rief er laut, be­schleu­nig­te sei­ne Schrit­te und klopf­te dem vor ihm Ge­hen­den auf die Schul­ter. Die­ser wand­te sich um, blick­te ihn an und sag­te:

»Was wün­schen Sie, mein Herr?«

Du­roy lach­te: »Er­kennst du mich nicht?«

»Nein.«

»Ge­or­ge Du­roy von den 6. Husa­ren.«

Fo­res­tier streck­te ihm bei­de Hän­de ent­ge­gen: »Du bist es, Al­ter! Wie geht es dir?«

»Aus­ge­zeich­net. Und dir?«

»Mir geht es nicht all­zu gut. Den­ke dir, mei­ne Brust ist wie aus Pa­pier­maché. Sechs Mo­na­te im Jahr quält mich ein Hus­ten, die Fol­ge ei­ner Bron­chi­tis, die ich mir in Bou­gi­val ge­holt habe kurz nach mei­ner Rück­kehr nach Pa­ris. Es sind jetzt schon vier Jah­re her.«

»So, du siehst aber ganz ge­sund aus.«

Fo­res­tier nahm sei­nen al­ten Ka­me­ra­den am Arm und er­zähl­te ihm von sei­ner Krank­heit, von den Ärz­ten, die er kon­sul­tiert hat­te, de­ren Mei­nun­gen und Ratschlä­gen und der Schwie­rig­keit, in sei­ner Stel­lung ih­ren Ver­ord­nun­gen zu fol­gen. Er soll­te den Win­ter im Sü­den zu­brin­gen, aber wie konn­te er das? Er war ver­hei­ra­tet, Jour­na­list, und hat­te eine gute Stel­lung. »Ich re­di­gie­re den po­li­ti­schen Teil in La Vie Françai­se, ich schrei­be die Se­nats­be­rich­te für den ›Sa­lut‹, und im ›Pla­ne­te‹ er­schei­nen hin und wie­der li­te­ra­ri­sche Feuil­le­tons von mir. Ich habe mei­nen Weg ge­macht.«

Du­roy war über­rascht und sah ihn er­staunt an. Fo­res­tier hat­te sich sehr ver­än­dert, er war rei­fer ge­wor­den. Sein Ge­ba­ren, sei­ne Hal­tung zeig­ten den ge­setz­ten, selbst­si­che­ren Mann und sein Bäuch­lein wuss­te von gu­ten Di­ners zu er­zäh­len. Frü­her war er ma­ger, klein und schlank, ein aus­ge­las­se­ner Le­be­mann und streit­süch­ti­ger Ra­dau­ma­cher, stets an­ge­hei­tert. Die drei Jah­re in Pa­ris hat­ten aus ihm einen ganz an­de­ren, einen be­lieb­ten und ernst­haf­ten Men­schen ge­macht, der schon ei­ni­ge wei­ße Haa­re an den Schlä­fen hat­te, ob­gleich er nicht mehr als sie­ben­und­zwan­zig Jah­re zähl­te.

Fo­res­tier frag­te: »Wo gehst, du hin?«

Du­roy ant­wor­te­te: »Nir­gends. Ich ma­che einen Spa­zier­gang, be­vor ich nach Hau­se gehe.«

»Weißt du was, willst du mich viel­leicht nach der Vie Françai­se be­glei­ten? Ich habe noch ein paar Kor­rek­tu­ren zu er­le­di­gen. Dann wol­len wir zu­sam­men ein Glas Bier trin­ken?«

»Sehr gern.«

Und Arm in Arm gin­gen sie wei­ter mit der leich­ten Ver­trau­lich­keit, die zwi­schen Schul­ka­me­ra­den und Waf­fen­ge­fähr­ten herrscht.

»Was machst du in Pa­ris?« frag­te Fo­res­tier.

Du­roy zuck­te die Ach­seln: »Kurz ge­sagt, ich kre­pie­re vor Hun­ger. Als mei­ne Dienst­zeit vor­bei war, woll­te ich hier­her kom­men, um … um mein Glück zu ma­chen, oder viel­mehr, um in Pa­ris le­ben zu kön­nen. Seit sechs Mo­na­ten bin ich bei der Ver­wal­tung der Nord­bahn an­ge­stellt. Ich ver­die­ne fünf­zehn­hun­dert Fran­cs im Jahr, kei­nen Cen­ti­me mehr.«

Fo­res­tier mur­mel­te: »Zum Teu­fel, das ist nicht viel!«

»Das glau­be ich. Aber was soll ich sonst an­fan­gen? Ich bin al­lein, ich ken­ne nie­man­den und habe kei­ne Pro­tek­ti­on. An gu­tem Wil­len fehlt es mir schon nicht, aber die Mit­tel?«

Sein Freund be­trach­te­te ihn vom Kopf bis zu den Fü­ßen, wie ein prak­ti­scher Mensch, der einen Ge­gen­stand ab­schätzt; dann ver­setz­te er in über­zeug­tem Ton:

»Sieh mal, mein Jun­ge, hier hängt al­les von dei­nem Auf­tre­ten ab. Ein fin­di­ger Kopf bringt es hier leich­ter bis zum Mi­nis­ter als bis zum Bü­ro­chef. Man muss sich auf­drän­gen und nicht schüch­tern bit­ten. Aber wie, zum Hen­ker, kommt es, dass du nichts Bes­se­res ge­fun­den hast als eine Stel­le bei der Nord­bahn?«

»Ich habe über­all ge­sucht«, er­wi­der­te Du­roy, »und nichts ge­fun­den. Au­gen­blick­lich habe ich zwar et­was in Aus­sicht, man bie­tet mir eine Stel­le als Stall­meis­ter in der Reit­bahn von Pel­le­rin an. Da be­kom­me ich min­des­tens drei­tau­send Fran­cs.«

Fo­res­tier blieb plötz­lich ste­hen:

»Tu das nicht. Das ist dumm, wo du doch zehn­tau­send Fran­cs ver­die­nen könn­test. Du ver­schließt dir mit ei­nem Schla­ge die Zu­kunft. In dei­ner Schreib­stu­be bist du we­nigs­tens ver­steckt, nie­mand kennt dich, und wenn du dich stark ge­nug fühlst, kannst du ei­nes schö­nen Ta­ges auch von dort aus Kar­rie­re ma­chen. Aber wenn du Stall­meis­ter bist, dann ist al­les aus. Du kannst ge­ra­de­so­gut Ober­kell­ner in ei­nem Re­stau­rant wer­den, wo ganz Pa­ris ver­kehrt. Wenn du erst ein­mal Leu­ten der Ge­sell­schaft oder ih­ren Söh­nen Reit­un­ter­richt ge­ge­ben hast, dann könn­ten sie sich nicht mehr dar­an ge­wöh­nen, dich als ih­res­glei­chen zu be­trach­ten.«

Er schwieg, dach­te ei­ni­ge Se­kun­den nach und frag­te:

»Hast du das Abi­tu­ri­um ge­macht?«

»Nein, ich bin zwei­mal durch­ge­fal­len.«

»Das tut nichts, wenn du dei­ne Stu­di­en nur ei­ni­ger­ma­ßen zu Ende ge­führt hast. Wenn von Ci­ce­ro oder Ti­be­ri­us die Rede ist, dann weißt du un­ge­fähr, wer das ist?«

»Ja, un­ge­fähr.«

»Gut, mehr weiß über­haupt nie­mand, mit Aus­nah­me von ei­nem Dut­zend Dumm­köp­fen, die nicht im­stan­de sind, sich selbst zu hel­fen. Je­den­falls ist es nicht schwer, als in­tel­li­gent und ge­bil­det zu gel­ten. Man darf sich nur nicht bei ei­ner of­fen­ba­ren Un­wis­sen­heit er­wi­schen las­sen. Man dreht und wen­det sich, man weicht dem Hin­der­nis aus, um­geht es und be­wäl­tigt das an­de­re mit Hil­fe ei­nes Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kons. Alle Men­schen sind dumm wie die Gän­se und un­wis­send wie Kar­pfen.«

Er sprach in ru­hig spöt­ti­schem Tone, wie ei­ner, der die Welt kennt und blick­te da­bei lä­chelnd auf die vor­über­ge­hen­de Men­ge. Plötz­lich aber be­gann er zu hus­ten und blieb ste­hen, bis der An­fall vor­über war. Dann fuhr er in mut­lo­sem Ton fort:

»Ist es nicht ent­setz­lich, dass ich die­se Bron­chi­tis nicht los wer­de? Und jetzt sind wir mit­ten im Hoch­som­mer. Oh! Im Win­ter geh ich nach Men­ton, um mich aus­zu­ku­rie­ren. Mag kom­men, was will, mei­ne Ge­sund­heit geht mir über al­les.«

Sie wa­ren jetzt am Bou­le­vard Pois­so­niè­re und stan­den vor ei­ner großen Glas­tür, die von in­nen mit ei­ner Zei­tung be­klebt war. Drei Leu­te wa­ren ste­hen­ge­blie­ben, um das Blatt zu le­sen.

Über dem Tor stand in großen Buch­sta­ben aus Gas­flam­men der Name der Zei­tung: »La Vie Françai­se« ge­schrie­ben. Und die Passan­ten, die plötz­lich in das grel­le Licht die­ser drei Wor­te tra­ten, wur­den nun auf ein­mal deut­lich sicht­bar wie am hel­lich­ten Tage, um dann so­fort wie­der im Dun­kel zu ver­schwin­den.

Fo­res­tier öff­ne­te die Tür:

»Geh rein«, sag­te er.

Du­roy ging hin­ein, stieg eine pomp­haf­te, schmut­zi­ge Trep­pe hin­auf, die man von der Stra­ße aus ganz über­bli­cken konn­te, ging durch das Vor­zim­mer, in dem zwei Bü­ro­die­ner sei­nen Ge­fähr­ten grüß­ten, bis er in einen War­te­raum ge­lang­te. Die Räu­me wa­ren ver­staubt und ab­ge­nutzt, mit Ta­pe­ten aus schmut­zi­gem, un­ech­tem, grü­nem Samt, die vol­ler Fle­cken und hier und da durch­lö­chert wa­ren, als hät­ten die Mäu­se sie an­ge­knab­bert.

»Setz dich,« sag­te Fo­res­tier, »ich bin in fünf Mi­nu­ten wie­der da.«

Und er ver­schwand hin­ter ei­ner der drei Tü­ren, die aus die­sem Zim­mer führ­ten.

Der selt­sa­me, ei­gen­tüm­li­che, un­be­schreib­li­che Ge­ruch ei­nes Re­dak­ti­ons­bü­ros er­füll­te den Raum. Du­roy blieb un­be­weg­lich, et­was ein­ge­schüch­tert und über­rascht sit­zen.

Von Zeit zu Zeit lie­fen Leu­te an ihm vor­bei; sie ka­men aus ei­ner Tür und ver­schwan­den durch die an­de­re, noch ehe er Zeit hat­te, sie an­zu­se­hen. Bald wa­ren es jun­ge, sehr jun­ge Leu­te mit ge­schäf­ti­gem Ge­sichts­aus­druck, die in der Hand ein Blatt Pa­pier tru­gen, das bei ih­rem Lau­fen im Win­de flat­ter­te. Manch­mal wa­ren es auch Set­zer, un­ter de­ren von Tin­te be­schmutz­ten Lei­nen­kit­teln man rein­wei­ße Hemd­kra­gen und eine ele­gan­te Tuch­ho­se von mo­der­nem Schnitt sah. Vor­sich­tig tru­gen sie be­druck­te Pa­pier­strei­fen, fri­sche, noch feuch­te Kor­rek­tur­fah­nen. Bis­wei­len trat ein klei­ner Herr mit ei­ner et­was auf­fal­len­den Ele­ganz, mit ei­ner et­was zu en­gen Tail­le, mit Bein­klei­dern, die zu eng an­la­gen, und mit über­mä­ßig spit­zen Schna­bel­schu­hen, ein, ir­gend­ein Re­por­ter, der Neu­ig­kei­ten aus der Le­be­welt brach­te. Auch an­de­re ka­men, erns­te, ge­wich­ti­ge Per­sön­lich­kei­ten. Sie tru­gen Zy­lin­der­hü­te mit ganz fla­chen Rän­dern, als ob sie sich durch die­se Form von der gan­zen üb­ri­gen Mensch­heit un­ter­schei­den woll­ten.

Fo­res­tier er­schi­en wie­der, Arm in Arm mit ei­nem hoch­ge­wach­se­nen, ma­ge­ren Mann in den drei­ßi­ger Jah­ren. Die­ser war in einen Frack, mit wei­ßer Kra­wat­te, ge­klei­det, hat­te dunkles Haar, einen Schnurr­bart mit scharf­ge­dreh­ten Spit­zen und eine dreis­te, selbst­be­wuss­te Mie­ne. Fo­res­tier sag­te zu ihm:

»Adieu, ver­ehr­ter Meis­ter!«

Der an­de­re drück­te ihm die Hand: »Auf Wie­der­se­hen, mein Lie­ber!« und stieg dann, einen Spa­zier­stock un­ter dem Arm, pfei­fend die Trep­pe hin­ab.

»Wer ist das?« frag­te Du­roy.

»Jaques Ri­val — du weißt doch? — der be­rühm­te Chro­nist und Duel­lant. Er hat eben sei­ne Kor­rek­tur durch­ge­le­sen. Ga­rin, Mon­tel und er gel­ten au­gen­blick­lich als die geist­volls­ten und wirk­sams­ten Feuil­le­to­nis­ten in ganz Pa­ris. Für zwei Ar­ti­kel, die er wö­chent­lich schreibt, ver­dient er bei uns jähr­lich drei­ßig­tau­send Fran­cs.

Beim Wei­ter­ge­hen be­geg­ne­ten sie ei­nem klei­nen di­cken Herrn mit lan­gen Haa­ren und un­sau­be­rem Äu­ße­ren, der schwerat­mend die Trep­pe hin­auf­kam.

Fo­res­tier grüß­te sehr tief:

»Nor­bert de Va­ren­ne,« sag­te er, »der Dich­ter der ›Er­lo­sche­nen Son­ne‹, auch ein hoch­be­zahl­ter Mann. Jede Er­zäh­lung, die er her­aus­gibt, kos­tet drei­hun­dert Fran­cs und die al­ler­längs­ten ha­ben noch nicht zwei­hun­dert Zei­len …

Aber komm jetzt ins Café Na­po­li­tain, ich st­er­be vor Durst!«

Kaum hat­ten sie sich an den Tisch ge­setzt, als Fo­res­tier rief: »Zwei Bier!« und dann sein Glas mit ei­nem Zuge her­un­ter­stürz­te, wäh­rend Du­roy das Bier mit lang­sa­men Schlu­cken trank und sorg­sam aus­kos­te­te, wie eine wun­der­vol­le und sel­te­ne Kost­bar­keit. Sein Ge­fähr­te schwieg, er schi­en nach­zu­den­ken und frag­te dann plötz­lich:

»Wa­rum willst du es nicht mit dem Jour­na­lis­mus ver­su­chen?«

Der an­de­re blick­te ihn über­rascht an, dann sag­te er:

»Aber… das ist … ich habe doch noch nie et­was ge­schrie­ben.«

»Ach was, man ver­sucht es, man fängt an. Ich könn­te dich zum Bei­spiel ge­brau­chen, um Er­kun­di­gun­gen ein­zu­zie­hen und um Be­su­che zu ma­chen. Du be­kämst zu An­fang zwei­hun­dert­fünf­zig Fran­cs und die Drosch­ken be­zahlt. Soll ich mit dem Chef spre­chen?«

»Aber na­tür­lich möch­te ich das, sehr ger­ne.«

»Also dann sei so gut und kom­me mor­gen zu mir zum Es­sen. Es wer­den nur fünf oder sechs Per­so­nen sein: der Chef, Herr Wal­ter, sei­ne Frau, Jaques Ri­val und Nor­bert de Va­ren­ne, die du ja so­eben ge­se­hen hast, und schließ­lich noch eine Freun­din mei­ner Frau. Also ab­ge­macht?«

Du­roy zö­ger­te, er­rö­te­te und wur­de ver­wirrt. End­lich mur­mel­te er:

»Es ist nur … ich habe kei­nen pas­sen­den An­zug …«

Fo­res­tier war starr.

»Was? Du hast kei­nen Frack? Teu­fel noch mal! Das ist doch et­was Unent­behr­li­ches! In Pa­ris kann man ein Bett viel­leicht ent­beh­ren, einen Frack nie. Dann griff er plötz­lich in sei­ne Wes­ten­ta­sche, zog eine Hand­voll Geld her­vor und leg­te zwei Zwan­zig­fran­cs­stücke vor sei­nen al­ten Freund hin, wo­bei er in ei­nem herz­li­chen und ver­trau­ten Ton sag­te:

»Du gibst sie mir wie­der, wenn du kannst. Lei­he oder kau­fe dir die nö­ti­gen Klei­dungs­stücke, in­dem du eine An­zah­lung gibst. Je­den­falls er­war­te ich dich mor­gen um halb acht in. mei­ner Woh­nung, 17 Rue Fon­taine, zu Tisch.«

Du­roy war ver­wirrt, aber er nahm das Geld und stam­mel­te:

»Du bist wirk­lich zu lie­bens­wür­dig, ich dan­ke dir herz­lich … Ver­lass dich dar­auf, ich wer­de es nie ver­ges­sen.«

»Gut, gut!« fiel ihm der an­de­re ins Wort. »Nicht wahr, wir trin­ken noch ein Bier?« Und er rief: »Kell­ner, noch zwei Bock!«

Dann, als sie aus­ge­trun­ken hat­ten, frag­te der Jour­na­list:

»Willst du noch ein Stünd­chen bum­meln?«

»Aber ge­wiss!«

Und sie bra­chen auf und gin­gen in der Rich­tung nach Ma­de­lei­ne.

»Was sol­len wir tun?« frag­te Fo­res­tier. »Man sagt, in Pa­ris hat man stets was zu tun, wenn man bum­melt. Das ist nicht wahr. Wenn ich abends bum­meln will, weiß ich nie, wo­hin ich ge­hen soll. Eine Fahrt ins Bois macht nur Spaß, wenn noch ein Weib da­bei ist, und da hat man nicht im­mer eins bei der Hand. Die Cafés mit Mu­sik mö­gen mei­nen Dro­gis­ten mit sei­ner Frau zer­streu­en, mich nicht. Was also tun? Nichts! Man müss­te hier einen Som­mer­gar­ten ha­ben, wie den Park Mon­ceau, der nachts ge­öff­net wäre, wo man aus­ge­zeich­ne­te Mu­sik hör­te und un­ter den Bäu­men Er­fri­schun­gen neh­men könn­te. Das wäre kein ei­gent­li­ches Ver­gnü­gungs­lo­kal, aber ein Ort, wo man sich be­hag­lich auf­hal­ten könn­te. Man müss­te hohe Ein­tritts­prei­se neh­men, um hüb­sche Da­men her­bei­zu­lo­cken. Man soll­te da auf kies­be­streu­ten Fuß­we­gen her­umspa­zie­ren kön­nen, die elek­trisch be­leuch­tet wä­ren, und sich set­zen kön­nen, wenn man Lust hät­te, um von fern und nah Mu­sik an­zu­hö­ren. So et­was gab es frü­her bei Muzard, aber das war zu sehr Bal­lo­kal, zu viel Tanz­mu­sik und zu­we­nig Platz, zu­we­nig Schat­ten und Dun­kel­heit. Es müss­te ein sehr schö­ner, sehr großer Gar­ten sein. Das wäre herr­lich! … Also, wo willst du hin?«

Du­roy war noch im­mer ver­le­gen und wuss­te nicht, was er vor­schla­gen soll­te. End­lich ent­schloss er sich:

»Ich ken­ne die Fo­lies Ber­gè­re noch gar nicht, da möch­te ich ganz gern ein­mal hin.«

»Don­ner­wet­ter!« rief Fo­res­tier, »die Fo­lies Ber­gè­re? Da wer­den wir ja ko­chen wie im Back­ofen. Aber mei­net­we­gen, es ist dort im­mer lus­tig.«

Sie gin­gen wie­der zu­rück, um die Rue du Fau­bourg-Mont­mar­tre zu er­rei­chen.

Die er­leuch­te­te Fassa­de des Thea­ters warf grel­len Schein auf die vier Stra­ßen, die sich an die­ser Stel­le kreuz­ten. Eine Rei­he von Drosch­ken war­te­te auf den Schluss der Vor­stel­lung.

Fo­res­tier ging hin­ein, Du­roy hielt ihn zu­rück:

»Wir ha­ben ja noch kei­ne Bil­letts.«

Worauf der an­de­re sehr selbst­be­wusst er­wi­der­te:

»Wenn ich da­bei bin, braucht man nicht zu be­zah­len.«

Als er sich den drei Kon­trol­leu­ren nä­her­te, grüß­ten sie ihn, und dem mit­tels­ten reich­te er die Hand. Der Jour­na­list frag­te: »Ha­ben Sie noch eine gute Loge frei?«

»Aber ge­wiss, Herr Fo­res­tier.«

Er nahm den Zet­tel, der ihm ge­reicht wur­de, öff­ne­te die ge­pols­ter­te, kup­fer­be­schla­ge­ne Tür, und sie be­fan­den sich im Thea­ter­raum.

Ta­bak­dunst ver­schlei­er­te wie ein leich­ter Ne­bel den Hin­ter­grund, die Büh­ne und die ent­fern­ten Tei­le des Thea­ters. Die­ser Ne­bel, der un­un­ter­bro­chen in fei­nen bläu­li­chen Strei­fen aus sämt­li­chen Zi­gar­ren und Zi­ga­ret­ten der Be­su­cher em­por­stieg, ball­te sich an der De­cke und bil­de­te un­ter der mäch­ti­gen Wöl­bung einen Wol­ken­him­mel von Rauch um den Kron­leuch­ter und über der dicht mit Zuschau­ern be­setz­ten Ga­le­rie.

In der ge­räu­mi­gen Vor­hal­le am Ein­gang, die zu den Wan­del­gän­gen führ­te, schweif­ten auf­ge­putz­te Mäd­chen in­mit­ten ei­ner Men­ge dun­kel­ge­klei­de­ter Män­ner um­her, eine Grup­pe von Frau­en war­te­te auf die An­kömm­lin­ge, und hin­ter den drei Schank­ti­schen thron­ten drei ge­schmink­te, wel­ke Ver­käu­fe­rin­nen von Ge­trän­ken und Lie­be. In den ho­hen Schei­ben hin­ter ih­nen spie­gel­ten sich ihre Rücken und die Ge­sich­ter der Vor­über­ge­hen­den.

Fo­res­tier dräng­te sich schnell durch alle die­se Grup­pen und schritt rasch vor­wärts, wie ein Mann, auf den man Rück­sicht zu neh­men hat. Er trat an die Lo­gen­schlie­ße­rin her­an und sag­te:

»Loge sieb­zehn!«

»Bit­te, hier, mein Herr!«

Sie wur­den in einen klei­nen höl­zer­nen Kas­ten ein­ge­schlos­sen, der kei­ne De­cke hat­te, rot ta­pe­ziert war und vier Stüh­le glei­cher Far­be ent­hielt, die so eng an­ein­an­der stan­den, dass man sich kaum zwi­schen ih­nen hin­durch­schie­ben konn­te. Die bei­den Freun­de setz­ten sich. Nach rechts und links schlos­sen sich in wei­tem Bo­gen, des­sen En­den auf die Büh­ne stie­ßen, eine lan­ge Rei­he ähn­li­cher Käs­ten an, wo gleich­falls Men­schen sa­ßen, von de­nen man nur Kopf und Brust se­hen konn­te.

Auf der Büh­ne mach­ten drei jun­ge Män­ner in eng an­lie­gen­den Tri­kots, ein großer, ein mitt­ler­er und ein ganz klei­ner, ab­wech­selnd Tra­pez­kunst­stücke. Zu­nächst trat der große mit kur­z­en, schnel­len Schrit­ten an die Ram­pe vor, lä­chel­te und grüß­te mit ei­ner Kuss­hand. Un­ter dem Tri­kot sah man die Mus­keln sei­ner Arme und Bei­ne ar­bei­ten; er drück­te sei­ne Brust mög­lichst kräf­tig her­aus, um sei­nen et­was zu di­cken Bauch zu ver­ber­gen. Sein Ge­sicht glich dem ei­nes Fri­seur­ge­hil­fen, und ein ta­del­lo­ser Schei­tel teil­te sein Haar ge­nau in der Mit­te des Kop­fes. Mit gra­zi­ösem Sprung fass­te er das Tra­pez und um­kreis­te es dann, mit den Hän­den dar­an hän­gend, wie ein rol­len­des Rad. Bis­wei­len hing er mit aus­ge­streck­ten Ar­men und stei­fem Kör­per un­be­weg­lich wa­ge­recht in der lee­ren Luft, in­dem er sich al­lein durch die Kraft sei­ner Hand­ge­len­ke fest­hielt. Dann sprang er ab, grüß­te noch­mals lä­chelnd un­ter dem lau­ten Bei­fall des Par­ketts und trat wie­der an die Wand zu­rück und zeig­te bei je­dem Schritt dem Pub­li­kum das Spiel sei­ner Mus­keln.

Du­roy hat­te we­nig In­ter­es­se für die Dar­bie­tung. Er wand­te sei­nen Kopf und be­ob­ach­te­te un­auf­hör­lich die hin­ter ihm vor­beiflu­ten­de Men­ge von Män­nern und Ko­kot­ten.

Fo­res­tier sag­te: »Sieh dir mal die Leu­te im Par­kett an, nichts als Spieß­bür­ger mit ih­ren Frau­en und Kin­dern, al­les bra­ve, dum­me Ge­sich­ter, die sich das hier an­se­hen wol­len. In den Lo­gen sit­zen die Stamm­gäs­te der Bou­le­vards, ei­ni­ge Künst­ler und Halb­welt­da­men, hin­ter uns fin­dest du die selt­sams­te Mi­schung, die es in Pa­ris ge­ben kann. Was das für Män­ner sind? Beo­b­ach­te sie mal: al­les mög­li­che, alle Be­ru­fe und Klas­sen, aber das Ge­sin­del über­wiegt. Da sind die Kom­mis, Ban­kan­ge­stell­te, Be­am­te, Ver­käu­fer, fer­ner Re­por­ter, Zu­häl­ter, Of­fi­zie­re in Zi­vil, Bumm­ler im Frack, die gra­de im Re­stau­rant ge­ges­sen ha­ben und von der Gro­ßen Oper zu den Ita­li­e­nern ren­nen, und schließ­lich noch eine gan­ze Men­ge ver­däch­ti­ger In­di­vi­du­en, aus de­nen man nicht recht klug wird. Was die Frau­en an­geht, so gibt es hier nur eine Art: die Halb­welt vom Ame­ri­cain. Sie ver­kau­fen sich für ein oder zwei Gold­stücke, wo­bei sie von Frem­den auch fünf neh­men, und win­ken ih­ren stän­di­gen Kun­den zu, wenn sie frei sind. Man kennt sie alle seit zehn Jah­ren, man sieht sie je­den Abend das gan­ze Jahr hin­durch in den­sel­ben Lo­ka­len, mit Aus­nah­me, wenn sie ein­mal eine heil­sa­me Kur im Frau­en­ge­fäng­nis von St. La­za­re oder im Lour­ci­ne durch­ma­chen.«

Du­roy hör­te nicht mehr zu. Eins von die­sen Mäd­chen lehn­te sich über die Loge und sah ihn an. Es war eine üp­pi­ge Brü­net­te mit weiß­ge­schmink­tem Ge­sicht und schwar­zen Au­gen, die mit dem Farb­stift un­ter­stri­chen wa­ren, und rie­si­gen, an­ge­mal­ten Au­gen­brau­en. Über ih­rer all­zu star­ken Brust spann­te sich die dunkle Sei­de ih­res Klei­des, und ihre ge­schmink­ten, blut­ro­ten Lip­pen ga­ben ihr et­was Tie­ri­sches, Sinn­li­ches, Wil­des, das aber trotz­dem an­zie­hend wirk­te.

Sie wink­te mit ei­ner Kopf­be­we­gung ei­ner ih­rer Freun­din­nen zu, die ge­ra­de vor­bei­kam, ei­ner eben­falls kor­pu­len­ten, rot­haa­ri­gen Ko­kot­te, und sprach zu ihr so laut, dass man es hö­ren konn­te:

»Sieh mal her, das ist ein hüb­scher Jun­ge. Wenn er mich für zwei­hun­dert Fran­cs ha­ben woll­te, ich wür­de nicht nein sa­gen.«

Fo­res­tier dreh­te sich um und schlug Du­roy lä­chelnd auf die Schen­kel: »Das gilt dir, du hast Er­folg, mein Lie­ber, ich gra­tu­lie­re!«

Der frü­he­re Un­ter­of­fi­zier wur­de rot und me­cha­nisch tas­te­te er nach den zwei Gold­stücken in sei­ner Wes­ten­ta­sche. Der Vor­hang fiel und das Or­che­s­ter be­gann einen Wal­zer zu spie­len.

Du­roy frag­te: »Wol­len wir nicht auch ein­mal durch den Wan­del­gang ge­hen?«

»Wie du willst.«

Sie ver­lie­ßen ihre Loge und wa­ren so­fort von dem Strom der Men­ge um­ge­ben. Ge­drückt, ge­presst, hin und her ge­sto­ßen, gin­gen sie wei­ter und ein Wald von Hü­ten wog­te vor ih­ren Au­gen. Zwi­schen El­len­bo­gen, Brüs­ten und Rücken der Män­ner dräng­ten sich be­händ paar­wei­se die Ko­kot­ten hin­durch, die sich hier so recht in ih­rem Ele­ment, wie Fi­sche im Was­ser, zu füh­len schie­nen.

Du­roy war ent­zückt. Er ließ sich trei­ben und wur­de von der sti­cki­gen Luft, die durch Ta­bak, Men­schen­aus­düns­tun­gen und Dir­nen­par­füms ver­pes­tet war, be­rauscht. Aber Fo­res­tier schwitz­te, keuch­te und hus­te­te.

»Ge­hen wir in den Gar­ten«, sag­te er.

Sie wand­ten sich nach links und ka­men in eine Art Win­ter­gar­ten, wo zwei ge­schmack­lo­se Fon­tä­nen ein biss­chen küh­le Luft schaff­ten. Un­ter den paar Ta­xus­bäu­men und Thu­jas sa­ßen Män­ner und Frau­en an Zink­ti­schen und tran­ken.

»Noch ein Bier?« frag­te Fo­res­tier.

»Ja, gern.«

Sie setz­ten sich und be­ob­ach­te­ten das Pub­li­kum. Von Zeit zu Zeit blieb ein her­umspa­zie­ren­des Mäd­chen ste­hen und frag­te mit or­di­närem Lä­cheln:

»La­den Sie mich nicht ein?« — Und wenn Fo­res­tier er­wi­der­te : »Ja, zu ei­nem Glas Was­ser aus dem Spring­brun­nen«, so ent­fern­te sie sich mit ei­nem är­ger­li­chen Schimpf­wort.

Aber die di­cke Brü­net­te tauch­te wie­der auf. Sie kam in über­mü­ti­ger Hal­tung, Arm in Arm mit der di­cken Rot­haa­ri­gen. Sie bil­de­ten wirk­lich ein hüb­sches, gut aus­ge­such­tes Frau­en­paar.

So­bald sie Du­roy er­blick­te, lä­chel­te sie, als hät­ten sich ihre Au­gen schon ver­trau­te und ver­schwie­ge­ne Din­ge ge­sagt. Sie nahm einen Stuhl und setz­te sich ru­hig ihm ge­gen­über und ließ ihre Freun­din auch Platz neh­men. Dann rief sie mit lau­ter Stim­me:

»Kell­ner, zwei Gre­na­di­ne!«

Er­staunt sag­te Fo­res­tier:

»Du ge­nierst dich wirk­lich nicht!«

»Ich bin in dei­nen Freund ver­liebt«, ant­wor­te­te sie. »Er ist wirk­lich ein schö­ner Kerl. Ich glau­be, ich könn­te sei­net­we­gen Dumm­hei­ten be­ge­hen.«

Du­roy wuss­te vor Ver­le­gen­heit nicht, was er sa­gen soll­te. Er dreh­te an sei­nem wohl­ge­pfleg­ten Schnurr­bart und lä­chel­te nichts­sa­gend vor sich hin. Der Kell­ner brach­te die Li­mo­na­den und die bei­den Freun­din­nen tran­ken sie in ei­nem Zuge aus. Dann stan­den sie auf und die Brü­net­te nick­te Du­roy wohl­wol­lend zu und gab ihm mit ih­rem Fä­cher einen leich­ten Schlag auf den Arm: »Dan­ke, mein Schatz. Du bist nicht sehr ge­schwät­zig.«

Dann gin­gen sie fort, sich in den Hüf­ten wie­gend.

Fo­res­tier be­gann zu la­chen:

»Sag mal, al­ter Freund, weißt du, dass du wirk­lich Er­folg bei Wei­bern hast? So was muss man pfle­gen, da­mit kann man sehr weit kom­men.« Er schwieg eine Se­kun­de, dann setz­te er hin­zu mit dem träu­me­ri­schen Ton von Leu­ten, die laut den­ken: »Durch sie er­reicht man auch am meis­ten. Und als Du­roy im­mer noch vor sich hin lä­chel­te, ohne et­was zu er­wi­dern, frag­te er: »Bleibst du noch hier? Ich will nach Hau­se, ich habe ge­nug.«

»Ja,« mur­mel­te der an­de­re, »ich blei­be noch et­was. Es ist ja noch nicht spät.«

Fo­res­tier stand auf. »Auf Wie­der­se­hen, also bis mor­gen. Ver­giss nicht, um halb acht abends, 17 Rue Fon­taine.«

»Ab­ge­macht, auf mor­gen, dan­ke!« — Sie drück­ten sich die Hän­de, und der Jour­na­list ging fort.

So­bald er fort war, fühl­te Du­roy sich frei. Er tas­te­te ver­gnügt von Neu­em nach den bei­den Gold­stücken in sei­ner Wes­ten­ta­sche. Dann er­hob er sich und misch­te sich un­ter die Men­ge, die er su­chend durch­forsch­te.

Bald er­blick­te er die bei­den Mäd­chen, die Brü­net­te und die Rot­haa­ri­ge, die im­mer noch in stol­zer Hal­tung durch die Men­ge zo­gen.

Er ging di­rekt auf sie zu. Als er ih­nen ganz nahe war, ver­lor er wie­der den Mut.

Die Brü­net­te sag­te: »Na, hast du dei­ne Spra­che wie­der­ge­fun­den?«

Er stot­ter­te: »Al­ler­dings!« Ein zwei­tes Wort konn­te er aber nicht her­vor­brin­gen.

Alle drei blie­ben ste­hen und hiel­ten die Be­we­gung der Spa­zier­gän­ger auf, die einen Wir­bel um sie bil­de­ten.

Die Brü­net­te frag­te ihn plötz­lich: »Kommst du zu mir?«

Er zit­ter­te vor Be­gier­de und er­wi­der­te schroff:

»Ja, aber ich habe nur ein Gold­stück in der Ta­sche.«

Sie lä­chel­te gleich­gül­tig: »Das tut nichts.«

Sie nahm ihn beim Arm, als Zei­chen, dass sie ihn er­obert hat­te.

Als sie das Lo­kal ver­lie­ßen, über­leg­te er, dass er sich mit den an­de­ren zwan­zig Fran­cs ohne Schwie­rig­kei­ten für den nächs­ten Abend einen Frack lei­hen könn­te.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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