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IV.

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Ge­or­ges Du­roy hat­te schlecht ge­schla­fen. Die Sehn­sucht, sei­nen Ar­ti­kel ge­druckt zu se­hen, gab ihm kei­ne Ruhe. Schon bei Ta­ge­s­an­bruch stand er auf und ging in den Stra­ßen her­um, lan­ge be­vor die Zei­tungs­trä­ger von ei­nem Kiosk zum an­de­ren die großen Pa­pier­bün­del her­um­tru­gen. Dann ging er zum Bahn­hof, denn er wuss­te, dass die Vie Françai­se dort eher ein­tref­fen wür­de als in sei­nem Vier­tel. Aber es war im­mer noch zu früh und wie­der muss­te er in den Stra­ßen auf und ab wan­dern.

Er sah die Zei­tungs­händ­le­rin an­kom­men und ihr Glas­häus­chen auf­schlie­ßen, und dann be­merk­te er auch einen Mann mit ei­nem di­cken Zei­tungs­bün­del auf dem Kopf. Er stürz­te dar­auf­los; es war der »Fi­ga­ro«, der »Gil Blas«, der »Gau­lois«, das »Evé­ne­ments« und noch ein paar an­de­re Mor­gen­blät­ter, aber die Vie Françai­se war nicht da­bei.

Da er­griff ihn eine Furcht: »Wenn man die ›Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­ger­s‹ auf den nächs­ten Tag ver­scho­ben hät­te oder wo­mög­lich hät­ten sie im letz­ten Au­gen­blick Va­ter Wal­ter miss­fal­len?«

Als er nach dem Kiosk zu­rück­kehr­te, sah er, dass man jetzt das Blatt ver­kauf­te, ohne dass er es hat­te brin­gen se­hen. Er stürz­te dar­auf, warf drei Sous hin, ent­fal­te­te die Zei­tung und las das In­halts­ver­zeich­nis auf der ers­ten Sei­te rasch durch. — Nichts. — Sein Herz be­gann hef­tig zu klop­fen. Er schlug die zwei­te Sei­te auf und las in hef­ti­ger Er­re­gung un­ter ei­ner Spal­te dick ge­druckt: »Ge­or­ges Du­roy.« Also doch. Wel­che Freu­de!

Ganz ver­wirrt, den Zy­lin­der aufs Ohr ge­drückt, die Zei­tung in der Hand, ging er los. Er fühl­te ein Ver­lan­gen, die Passan­ten an­zu­hal­ten und ih­nen zu er­klä­ren: »Kau­fen Sie sich das, kau­fen Sie sich das. Da steht ein Ar­ti­kel von mir!« — Am liebs­ten hät­te er wie die Stra­ßen­händ­ler abends auf den Bou­le­vards aus vol­ler Keh­le ge­schri­en: »Lest die Vie Françai­se, lest den Ar­ti­kel von Ge­or­ges Du­roy, Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­gers«.

Und plötz­lich emp­fand er das Be­dürf­nis, selbst den Ar­ti­kel zu le­sen, und zwar öf­fent­lich in ir­gend­ei­nem Café, wo alle es se­hen konn­ten. Er woll­te ein be­such­tes Lo­kal fin­den; er muss­te aber lan­ge su­chen, bis er end­lich an eine Wein­schen­ke kam, wo sich schon ei­ni­ge Gäs­te be­fan­den. Er be­stell­te sich einen Rum in ei­nem Tone, als ob er einen Ab­sinth be­stellt hät­te, ohne an die Ta­ges­zeit zu den­ken. Dann rief er: »Kell­ner, ge­ben Sie mir die Vie Françai­se.«

Ein Mann mit wei­ßer Schür­ze eil­te her­ein. »Wir ha­ben sie nicht, mein Herr, wir be­kom­men nur ›Le Rap­pel‹, ›Le Sie­cle‹, ›La Lan­ter­ne‹ und ›Le Pe­tit Pa­ri­si­en‹.«

Du­roy er­wi­der­te wü­tend und ent­rüs­tet: »Das ist eine net­te Bude; kau­fen Sie mir das Blatt so­fort.«

Der Kell­ner lief hin­aus und brach­te die Zei­tung. Du­roy be­gann sei­nen Ar­ti­kel zu le­sen, ein paar­mal sag­te er da­bei ganz laut: »Vor­treff­lich, aus­ge­zeich­net«, um die Auf­merk­sam­keit sei­ner Nach­barn auf sich zu len­ken und ih­nen den Wunsch ein­zu­flö­ßen, auch zu wis­sen, was im Blat­te stand. Dann ließ er es auf dem Tisch lie­gen und ging fort. Der Wirt merk­te es:

»Mein Herr, mein Herr, Sie ha­ben Ihre Zei­tung ver­ges­sen.«

Du­roy ant­wor­te­te: »Ich las­se sie Ih­nen, ich habe sie schon ge­le­sen. Üb­ri­gens steht heu­te et­was sehr In­ter­essan­tes drin.«

Er nann­te sei­nen Ar­ti­kel nicht, aber er sah, als er fort­ging, wie ei­ner der Gäs­te die Zei­tung vom Tisch nahm.

Er dach­te nach: »Was soll ich jetzt an­fan­gen?« Und er ent­schloss sich, auf sein Büro zu ge­hen, sich sein Ge­halt zu ho­len, und sei­nen Ab­schied zu neh­men. Er zit­ter­te im Voraus vor Freu­de bei dem Ge­dan­ken an das Ge­sicht, das sein Chef und sei­ne Kol­le­gen ma­chen wür­den. Vor al­lem freu­te ihn die Aus­sicht, sei­nen Vor­ge­setz­ten wü­tend zu ma­chen.

Er ging lang­sam, um nicht vor halb zehn an Ort und Stel­le zu sein, denn die Kas­se wur­de erst um zehn ge­öff­net.

Sein Büro war ein dunkles, großes Zim­mer, in dem man im Win­ter fast den gan­zen Tag Gas bren­nen muss­te. Die Fens­ter gin­gen auf einen en­gen Hof, ge­gen­über la­gen an­de­re Bü­ros. In dem sei­nen ar­bei­te­ten acht An­ge­stell­te und der Vor­ge­setz­te, der in der Ecke hin­ter ei­nem Wand­schirm saß.

Du­roy ging zu­erst, sei­ne 118 Fran­cs und 25 Cen­ti­mes ab­zu­ho­len, die in ei­nem gel­ben Brief­um­schlag in der Schub­la­de des Kas­sie­rers be­reit­la­gen. Dann trat er über­mü­tig und tri­um­phie­rend in den Ar­beits­raum, wo er so man­chen Tag ver­bracht hat­te. Kaum war er ein­ge­tre­ten, da rief ihn sein Vor­ge­setz­ter, Herr Po­tel:

»Ach, Sie sind es, Herr Du­roy? Der Chef hat­te mehr­fach nach Ih­nen ge­fragt. Sie wis­sen doch, dass es nicht ge­stat­tet ist, zwei Tage nach­ein­an­der krank­heits­hal­ber ohne ärzt­li­ches At­test fort­zu­blei­ben.«

Du­roy stand mit­ten im Zim­mer und be­rei­te­te sei­ne Über­ra­schung vor. Er ant­wor­te­te mit lau­ter Stim­me:

»Ich pfei­fe dar­auf, wahr­haf­tig!«

Un­ter den Be­am­ten schlug das wie eine Bom­be ein, und das ver­blüff­te Ge­sicht des Herrn Po­tel tauch­te über dem Wand­schirm auf, der ihn wie ein Kas­ten um­gab. Er litt an Rheu­ma­tis­mus und hat­te sich aus Furcht vor Zug­luft da­hin­ter ver­baut. Er hat­te nur zwei Lö­cher durch das Pa­pier ge­bohrt, um sein Per­so­nal zu über­wa­chen.

Es war so still, dass man die Flie­gen sum­men hör­te. End­lich frag­te der Vor­ste­her zö­gernd:

»Was sag­ten Sie?«

»Ich sag­te, ich pfei­fe dar­auf. Ich kom­me heu­te nur, um mei­ne Ent­las­sung zu neh­men. Ich habe eine Stel­lung als Re­dak­teur der Vie Françai­se an­ge­nom­men mit 500 Fran­cs mo­nat­li­chem Ge­halt und be­son­de­rem Zei­len­ho­no­rar. Heu­te früh wur­de schon mein ers­ter Ar­ti­kel ver­öf­fent­licht.

Er hat­te sich zwar vor­ge­nom­men, das Ver­gnü­gen in die Län­ge zu zie­hen, konn­te je­doch nicht dem Dran­ge wi­der­ste­hen, ih­nen al­les auf ein­mal an den Kopf zu wer­fen. Üb­ri­gens war die Wir­kung groß­ar­tig; nie­mand wag­te einen Ton von sich zu ge­ben.

Da­rauf er­klär­te Du­roy:

»Ich wer­de Herrn Per­thuis be­nach­rich­ti­gen und mich dann ver­ab­schie­den.«

Da­mit ging er zum Bü­ro­chef. Als die­ser ihn er­blick­te, rief er aus:

»Ah, da sind Sie, Sie wis­sen doch, ich wün­sche nicht …«

Du­roy un­ter­brach ihn:

»Sie kön­nen sich Ihr Ge­schrei er­spa­ren …«

Herr Per­thuis, ein di­cker Mann, des­sen Ge­sicht rot wie ein Hah­nen­kamm wur­de, er­stick­te fast vor Über­ra­schung. Du­roy fuhr fort:

»Ich habe ge­nug von Ih­rer Bude, heu­te Mor­gen habe ich mich als Jour­na­list ein­ge­führt und be­reits eine glän­zen­de Stel­lung ge­fun­den. Ich emp­feh­le mich!«

Er ging hin­aus. Er war ge­rächt.

Er ging dann wirk­lich hin, um sei­nen bis­he­ri­gen Kol­le­gen die Hand zu schüt­teln. Sie wag­ten üb­ri­gens kaum mit ihm zu spre­chen, aus Angst, sich zu kom­pro­mit­tie­ren, denn sie hat­ten durch die of­fe­ne Tür sei­ne gan­ze Un­ter­hal­tung mit dem Chef ge­hört.

Nun stand er wie­der auf der Stra­ße mit sei­nem Ge­halt in der Ta­sche. Er leis­te­te sich ein üp­pi­ges Früh­stück in ei­nem gu­ten Re­stau­rant zu mä­ßi­gen Prei­sen, das er kann­te. Dann kauf­te er sich wie­der die Vie Françai­se und ließ sie auf dem Tisch lie­gen, an dem er ge­ges­sen hat­te. Er ging in meh­re­re Lä­den und kauf­te sich Klei­nig­kei­ten, nur um sie sich schi­cken zu las­sen und sei­nen Na­men an­zu­ge­ben — »Ge­or­ges Du­roy«. Dann füg­te er hin­zu: »Ich bin Re­dak­teur der Vie Françai­se. Dann nann­te er Stra­ße und Haus­num­mer und ver­gaß nie, zu be­mer­ken:

»Ge­ben Sie die Sa­chen beim Con­cier­ge ab.«

Da er noch ge­nü­gend Zeit hat­te, ging er in eine li­tho­gra­fi­sche An­stalt, wo Be­suchs­kar­ten in ein paar Mi­nu­ten an­ge­fer­tigt wur­den, wäh­rend man dar­auf war­te­te. Er ließ sich so­fort 100 Stück her­stel­len, die sei­nen Na­men und sei­ne neue Wür­de tru­gen.

Dann be­gab er sich in die Re­dak­ti­on.

Fo­res­tier emp­fing ihn wie einen Un­ter­ge­be­nen et­was von oben her­ab.

»Ah! da bist du, das ist sehr gut. Ich habe ge­ra­de ein paar Sa­chen für dich. War­te zehn Mi­nu­ten. Ich muss noch mei­ne Ar­beit be­en­den.«

Er schrieb einen be­gon­ne­nen Brief zu Ende. Am an­de­ren Ende des Ti­sches saß ein klei­ner, sehr di­cker Mann mit ganz fla­chem, auf­ge­dun­se­nem Ge­sicht. Sein Kopf war völ­lig kahl und glänz­te. Er war sehr kurz­sich­tig und schrieb, die Nase dicht ans Pa­pier ge­drückt.

Fo­res­tier frag­te ihn:

»Sag’ mal, Saint-Po­tin, um wel­che Zeit willst du un­se­re Leu­te in­ter­view­en?«

»Um vier Uhr.«

»Dann kannst du hier den jun­gen Du­roy mit­neh­men und ihn in die Ge­heim­nis­se des Be­ru­fes ein­wei­hen.«

»Sehr gern.«

Nun wand­te sich Fo­res­tier zu sei­nem Freund und fuhr fort:

»Hast du die Fort­set­zung über Al­gier mit­ge­bracht? Der An­fang hat heu­te einen großen Er­folg ge­habt.«

Du­roy stot­ter­te ver­le­gen: »Nein … ich dach­te, es hät­te Zeit bis heu­te Nach­mit­tag … ich hat­te die Hän­de voll zu tun … ich bin noch nicht dazu ge­kom­men …«

Der an­de­re zuck­te miss­ver­gnügt die Ach­seln.

»Wenn du nicht zu­ver­läs­si­ger bist als jetzt, wirst du dir dei­ne Zu­kunft ver­der­ben. Va­ter Wal­ter rech­ne­te auf dein Ma­nu­skript. Ich sage ihm, du bringst es mor­gen. Du bist sehr im Irr­tum, wenn du glaubst, du wirst hier be­zahlt, um nichts zu tun.«

Nach ei­ner Pau­se setz­te er hin­zu. »Zum Teu­fel, man muss das Ei­sen schmie­den, so­lan­ge es heiß ist.«

Saint-Po­tin stand auf.

»Ich bin fer­tig!« sag­te er.

Dann lehn­te sich Fo­res­tier in sei­nen Stuhl zu­rück, nahm eine fei­er­li­che Hal­tung an, um sei­ne Wei­sun­gen zu ge­ben und be­gann, sich an Du­roy wen­dend:

»Also: wir ha­ben in Pa­ris seit zwei Ta­gen den chi­ne­si­schen Ge­ne­ral Li-Theng-Fao, der im Ho­tel Con­ti­nen­tal ab­ge­stie­gen ist, und den Ra­jah Ta­po­sa­hib Ra­ma­derao Pali, der im Ho­tel Bris­tol wohnt. Ihr wer­det die bei­den um eine Un­ter­re­dung er­su­chen.«

Dann wand­te er sich zu Saint-Po­tin:

»Ver­giss nicht die haupt­säch­lichs­ten Punk­te, die ich dir an­ge­ge­ben habe. Fra­ge den Ge­ne­ral und den Ra­jah nach ih­rer Mei­nung über die po­li­ti­sche Hal­tung Eng­lands im fer­nen Os­ten, nach ih­rer Auf­fas­sung über das Re­gie­rungs­sys­tem und die Ko­lo­ni­sa­ti­on, und nach ih­ren Hoff­nun­gen auf ein Ein­grei­fen Eu­ro­pas, ins­be­son­de­re Frank­reichs, in ihre An­ge­le­gen­hei­ten.«

Er schwieg, dann setz­te er, ins Lee­re spre­chend, hin­zu:

»Für un­se­re Le­ser wird es na­tür­lich un­ge­heu­er in­ter­essant sein, zu er­fah­ren, wie man in Chi­na und In­di­en über die­se Fra­gen denkt, die au­gen­blick­lich bei uns die öf­fent­li­che Mei­nung so leb­haft be­schäf­ti­gen.«

Und zu Du­roy ge­wen­det:

»Ach­te ge­nau auf al­les, was Saint-Po­tin tut; er ist ein aus­ge­zeich­ne­ter Re­por­ter, und von ihm kannst du ler­nen, wie man in fünf Mi­nu­ten aus ei­nem Men­schen al­les her­aus­holt, was man wis­sen will.«

Dann be­gann er wie­der höchst wür­dig zu schrei­ben, mit der of­fen­ba­ren Ab­sicht, die Di­stanz zu wah­ren und sei­nem ehe­ma­li­gen Ka­me­ra­den und jet­zi­gen Kol­le­gen den rich­ti­gen Platz an­zu­wei­sen.

Kaum wa­ren sie über die Schwel­le, so sag­te Saint-Po­tin la­chend zu Du­roy:

»Das ist ein Wich­tig­tu­er. Er spielt uns Thea­ter vor, als ob wir sei­ne Le­ser wä­ren.«

Sie gin­gen den Bou­le­vard hin­ab und der Re­por­ter frag­te:

»Trin­ken Sie et­was?«

»Ja, gern, es ist sehr heiß heu­te.«

Sie gin­gen in ein Café und lie­ßen sich et­was Er­fri­schen­des brin­gen; und Herr Saint-Po­tin be­gann zu re­den und wuss­te über die Zei­tung und über je­der­mann eine Fül­le er­staun­li­cher Ein­zel­hei­ten zu er­zäh­len.

»Der Chef? Der rich­ti­ge Jude! Die Ju­den kann man nie um­mo­deln. Das ist eine Ras­se!« Und er führ­te die merk­wür­digs­ten Bei­spie­le von sei­nem Geiz an, die­sen ei­gen­tüm­li­chen Geiz der Kin­der Is­raels, der sich um zehn Cen­ti­mes strei­tet, mit der Kö­chin scha­chert, in scham­lo­ses­ter Wei­se Ab­zü­ge bei Zah­lun­gen durch­setzt und auf Pfän­der leiht und wu­chert.

»Da­bei ist er ein pfif­fi­ger Kopf, der an nichts glaubt und alle Welt übers Ohr haut. Sei­ne Zei­tung ist of­fi­zi­ös, ka­tho­lisch, li­be­ral, re­pu­bli­ka­nisch und or­lea­nis­tisch zu­gleich, ein Kram­la­den für al­les; er hat sie nur ge­grün­det, um sei­ne Bör­sen­spe­ku­la­tio­nen und sons­ti­gen Un­ter­neh­mun­gen zu stüt­zen. Da­rin ist er groß­ar­tig; er ver­dient Mil­lio­nen durch Ge­sell­schaf­ten, die nicht vier Sous Ka­pi­tal ha­ben.«

So ging es wei­ter, wo­bei er Du­roy im­mer »Mein lie­ber Freund« nann­te.

»Und da­bei hat die­ser Geiz­hals Aus­drücke wie Balzac. Den­ken Sie, neu­lich war ich in sei­nem Ar­beits­zim­mer, mit dem al­ten Nar­ren de Nor­bert und die­sem Don Qui­chot­te Ri­val; da kommt Mon­te­lin, un­ser Ver­wal­ter, mit sei­ner Ak­ten­map­pe aus Saf­fi­an­le­der, die ganz Pa­ris üb­ri­gens kennt. Wal­ter hob die Nase und frag­te: ›Was gibt es Neu­es?‹ Mon­te­lin er­wi­der­te ganz harm­los: ›Ich habe ge­ra­de die sieb­zehn­tau­send Fran­cs be­zahlt, die wir dem Pa­pier­lie­fe­ran­ten schul­de­ten.’ Da sprang der Chef wü­tend in die Höhe:

›Was sag­ten Sie?‹

›Ich habe eben Herrn Pri­vas be­zahlt.‹

›Sie sind wohl ver­rückt?‹

›Wie­so?‹

›Wie­so … wie­so … wie­so!‹ Er nahm sei­ne Bril­le ab und putz­te die Glä­ser. Dann ver­zog er das Ge­sicht zu ei­nem son­der­ba­ren Lä­cheln, das je­des Mal sei­ne di­cken Ba­cken um­spielt, wenn er ein bos­haf­tes oder kräf­ti­ges Wort sa­gen will, und dann sag­te er mit spöt­ti­schem, über­zeug­tem Ton: ›Wie­so? Wir hät­ten dar­auf noch einen Ra­batt von vier­tau­send bis fünf­tau­send Fran­cs er­zie­len kön­nen!‹

Mon­te­lin ent­geg­ne­te er­staunt: ›A­ber Herr Di­rek­tor, sämt­li­che Rech­nun­gen wa­ren in Ord­nung. Sie wa­ren von mir nach­ge­prüft und von Ih­nen für rich­tig be­fun­den.’

Der Chef war wie­der ernst ge­wor­den; er er­klär­te:

›Nicht alle sind so naiv wie Sie. Mer­ken Sie sich, Herr Mon­te­lin, man muss hohe Schul­den stets an­wach­sen las­sen, um sie nach­her her­un­ter­han­deln zu kön­nen.‹

Saint-Po­tin setz­te mit dem er­ha­be­nen Ge­sicht ei­nes Ken­ners hin­zu:

»Na, ist das nicht der rei­ne Balzac?«

Du­roy hat­te nie Balzac ge­le­sen, aber er ant­wor­te­te mit Über­zeu­gung: »Weiß der Teu­fel, ja.«

Dann er­zähl­te der Re­por­ter über Ma­da­me Wal­ter. Er nann­te sie eine dum­me Pute, Nor­bert de Va­ren­ne einen al­ten Nar­ren und Ri­val eine Neu­auf­la­ge von Fer­vac­ques.

End­lich war er bei Fo­res­tier an­ge­langt:

»Was die­sen Mann an­geht, er hat­te nur das Glück, sei­ne Frau ge­hei­ra­tet zu ha­ben. Das ist al­les!«

Du­roy frag­te:

»Was ist ei­gent­lich sei­ne Frau?«

Saint-Po­tin rieb sich die Hän­de: »Oh, ein ganz ge­ris­se­nes und raf­fi­nier­tes Weib! Sie ist die Mätres­se ei­nes al­ten Le­be­man­nes na­mens Vau­drec, Graf de Vau­drec, der ihr eine Mit­gift ge­ge­ben und sie ver­hei­ra­tet hat.«

Du­roy über­fiel plötz­lich ein Ge­fühl der in­ne­ren Käl­te, eine Art Ner­ven­krampf; er hat­te das Ver­lan­gen, die­sen Schwät­zer zu be­schimp­fen und zu ohr­fei­gen. Aber er un­ter­brach ihn ein­fach mit der Fra­ge:

»Ist Saint-Po­tin Ihr rich­ti­ger Name?«

»Nein,« er­wi­der­te der an­de­re ru­hig, »ich hei­ße Tho­mas. Für die Zei­tung füh­re ich den Bein­amen Saint-Po­tin.«

Du­roy be­glich die Ze­che und sag­te:

»Mir scheint, es ist spät ge­wor­den und wir ha­ben noch die bei­den ho­hen Herr­schaf­ten zu be­su­chen?«

Saint-Po­tin be­gann zu la­chen:

»Sie sind noch sehr naiv. Glau­ben Sie denn wirk­lich, ich gin­ge zu die­sem Chi­ne­sen und In­der fra­gen, was sie über Eng­land den­ken? Ich weiß es viel bes­ser als sie, was sie für die Le­ser der Vie Françai­se den­ken müs­sen. Ich habe schon ge­gen fünf­hun­dert von die­sen Chi­ne­sen, Per­sern, In­dern, Chi­le­nen, Ja­pa­nern und der­glei­chen in­ter­viewt. Nach mei­ner Mei­nung ant­wor­ten sie im­mer das­sel­be. Ich brau­che nur mei­nen Ar­ti­kel vom letz­ten Mal nach­zu­se­hen und ihn Wort für Wort ab­zu­schrei­ben, es än­dern sich nur ihr Aus­se­hen, ihr Name, ihre Ti­tel, ihr Al­ter, ihr Ge­fol­ge. Oh, da­bei darf kein Irr­tum un­ter­lau­fen, sonst wür­den mich der ›Fi­ga­ro‹ oder der ›Gau­lois‹ ein­fach fest­na­geln. Doch wird mich der Por­tier des Ho­tels Bris­tol und Con­ti­nen­tal über al­les das in fünf Mi­nu­ten aufs ge­naues­te auf­ge­klärt ha­ben. Wir rau­chen noch eine Zi­gar­re und ge­hen dann zu Fuß hin. Und nach­her be­rech­nen wir der Zei­tung hun­dert Sous Drosch­ken­spe­sen. So ma­chen’s, mein Lie­ber, die prak­ti­schen Leu­te.«

Du­roy frag­te: »Es muss sehr viel ein­brin­gen, un­ter sol­chen Be­din­gun­gen Re­por­ter zu sein.«

Der Jour­na­list ant­wor­te­te ge­heim­nis­voll: »Ja­wohl, aber nichts bringt so viel ein wie die Lo­kal­nach­rich­ten we­gen der ver­schlei­er­ten Re­kla­me!«

Sie stan­den auf und gin­gen den Bou­le­vard her­un­ter, der Ma­de­lei­ne zu. Plötz­lich sag­te Saint-Po­tin zu sei­nem Beglei­ter :

»Wis­sen Sie, wenn Sie noch et­was vor­ha­ben, brau­che ich Sie nicht mehr.«

Du­roy drück­te ihm die Hand und ging. Der Ge­dan­ke an den Ar­ti­kel, den er abends noch schrei­ben soll­te, gab ihm kei­ne Ruhe, und er be­gann dar­über nach­zu­den­ken. Er such­te nach neu­en Ide­en, Ein­fäl­len, nach An­ek­do­ten und Schil­de­run­gen und ge­lang­te schließ­lich zur Ave­nue des Champs Elysées, wo er nur ver­ein­zel­te Spa­zier­gän­ger er­blick­te, denn Pa­ris war zu die­ser hei­ßen Jah­res­zeit fast un­be­lebt.

Er aß in ei­ner Wein­stu­be in der Nähe der Arc de Triom­phe de l’Etoi­le, ging über die äu­ße­ren Bou­le­vards lang­sam nach Hau­se und setz­te sich an den Schreib­tisch, um zu ar­bei­ten. Doch so­bald er den großen wei­ßen Bo­gen Pa­pier vor Au­gen hat­te, ent­floh ihm all der Stoff, den er in Ge­dan­ken ge­sam­melt hat­te, und es war so, als ob sein Ge­hirn sich ver­flüch­tigt hät­te. Er ver­such­te, Ein­zel­hei­ten aus sei­nen Erin­ne­run­gen her­vor­zu­ho­len und sie fest­zu­hal­ten. Aber auch sie ent­schlüpf­ten ihm, so­bald er ih­rer hab­haft wer­den woll­te; er wuss­te nicht, wie er sich aus­drücken und wo­mit er be­gin­nen soll­te.

Nach ei­ner Stun­de ver­geb­li­cher An­stren­gung wa­ren fünf Sei­ten voll­ge­schmiert. Es wa­ren aber nur Ein­lei­tungs­sät­ze und auch die­se ohne je­den in­ne­ren Zu­sam­men­hang. Er sag­te sich: »Ich bin in dem Be­ruf noch nicht ge­nug be­wan­dert, ich muss eine neue Lek­ti­on neh­men.« Und so­fort mach­te ihn die Aus­sicht auf einen neu­en Ar­beits­mor­gen bei Ma­da­me Fo­res­tier und die Hoff­nung auf ein lan­ges in­ti­mes und herz­li­ches Bei­sam­men­sein vor Sehn­sucht er­zit­tern. Er ging rasch zu Bett, denn er fürch­te­te fast, es könn­te ihm plötz­lich doch ge­lin­gen, wenn er sich noch­mals an die Ar­beit setz­te. Am nächs­ten Mor­gen stand er ziem­lich spät auf und ge­noss im Voraus die Freu­de die­ses Be­su­ches, den er ab­sicht­lich hin­aus­schob.

Es war zehn Uhr vor­bei, als er bei sei­nem Freun­de klin­gel­te.

Der Die­ner ant­wor­te­te: »Der Herr ist bei der Ar­beit.«

Du­roy hat­te gar nicht ge­dacht, dass der Mann über­haupt zu Hau­se sein könn­te. Trotz­dem ließ er sich nicht ab­wei­sen. »Sa­gen Sie ihm, ich wäre es und käme in ei­ner dring­li­chen An­ge­le­gen­heit.«

Nach­dem er fünf Mi­nu­ten ge­war­tet hat­te, wur­de er in das Ar­beits­zim­mer ge­führt, in dem er einen so schö­nen Mor­gen ver­bracht hat­te. Auf dem Platz, wo er ge­ses­sen hat­te, saß jetzt Fo­res­tier im Schlaf­rock und Pan­tof­feln, auf dem Kopf ein leich­tes eng­li­sches Ba­rett, und schrieb, wäh­rend sei­ne Frau in dem­sel­ben wei­ßen Mor­gen­klei­de am Ka­min lehn­te und eine Zi­ga­ret­te rauch­te. Sie dik­tier­te.

Du­roy blieb an der Schwel­le ste­hen und mur­mel­te:

»Ich bit­te sehr um Ver­zei­hung, wenn ich stö­re …«

Sein Freund dreh­te sich mit wü­ten­dem Ge­sicht um und brumm­te:

»Was willst du denn noch? Be­ei­le dich, wir ha­ben zu tun.«

Du­roy wuss­te nicht, was er sa­gen soll­te. Er stot­ter­te:

»Nein, es ist: nichts, Ver­zei­hung.«

Fo­res­tier wur­de wü­tend:

»Zum Don­ner­wet­ter, lass uns kei­ne Zeit ver­lie­ren! Du bist nicht etwa hier ein­ge­drun­gen, bloß um uns gu­ten Tag zu sa­gen?«

Du­roy wur­de ganz ver­wirrt; end­lich ent­schloss er sich:

»Nein … es ist nur… ich brin­ge den Ar­ti­kel nicht fer­tig … du warst … Sie wa­ren … Sie wa­ren so … so … so lie­bens­wür­dig das letz­te Mal … dass ich hoff­te … ich wag­te zu kom­men …«

Fo­res­tier fiel ihm ins Wort:

»Du schämst dich wohl gar nicht. Also du bil­dest dir ein, ich wür­de dei­ne Ar­beit ma­chen und du brauch­test nur am Ende des Mo­nats an die Kas­se zu ge­hen? Nein, das ist ein biss­chen zu viel ver­langt!«

Die jun­ge Frau rauch­te ru­hig wei­ter, ohne ein Wort zu sa­gen und lä­chel­te nur im­mer ein ge­heim­nis­vol­les Lä­cheln, das wie eine lie­bens­wür­di­ge Mas­ke ihre Ge­dan­ken zu ver­ber­gen schi­en.

Du­roy er­rö­te­te und stot­ter­te:

»Ent­schul­di­gen Sie … ich hat­te ge­glaubt … ich dach­te …«

Dann fuhr er plötz­lich mit si­che­rer Stim­me fort:

»Ich bit­te tau­send­mal um Ver­zei­hung, gnä­di­ge Frau, und dan­ke Ih­nen noch­mals aufs herz­lichs­te für den rei­zen­den Auf­satz, den Sie mir ges­tern ge­schrie­ben ha­ben.«

Dann sag­te er zu Fo­res­tier: »Ich wer­de um drei Uhr bei der Re­dak­ti­on sein«, und ging fort.

Rasch kehr­te er nach Hau­se zu­rück und brumm­te:

»Nun gut, ich ma­che es jetzt selbst und ganz al­lein, sie sol­len se­hen …«

Kaum war er in sei­nem Zim­mer, setz­te er sich, von Zorn er­regt, an die Ar­beit. Er setz­te die Ge­schich­te fort, die Ma­da­me Fo­res­tier be­gon­nen hat­te, häuf­te Ein­zel­hei­ten im Stil ei­nes Zei­tungs­ro­ma­nes, er­staun­li­che Ge­scheh­nis­se und schwüls­ti­ge Be­schrei­bun­gen auf­ein­an­der. Er schrieb in un­ge­schick­tem Schü­ler­stil mit Un­ter­of­fi­ziers­aus­drücken. In ei­ner Stun­de war der Auf­satz be­en­det, der ei­nem Wirr­warr von Tor­hei­ten glich, und trug ihn selbst­si­cher auf die Vie Françai­se. Der ers­te Mensch, der ihm hier be­geg­ne­te, war Saint-Po­tin, der ihm mit der Herz­lich­keit ei­nes Mit­schul­di­gen die Hand schüt­tel­te.

»Ha­ben Sie mei­ne Un­ter­re­dung mit dem Chi­ne­sen und dem In­der ge­le­sen?« frag­te der Re­por­ter. »Ist sie nicht spa­ßig? Ganz Pa­ris hat sich über die Sa­che amü­siert. Und da­bei habe ich nicht ein­mal ihre Na­sen­spit­ze ge­se­hen.«

Du­roy hat­te noch nichts ge­le­sen; er nahm so­fort die Zei­tung und durch­flog den lan­gen Ar­ti­kel mit dem Ti­tel »In­di­en und Chi­na«, wäh­rend ihm der Re­por­ter die in­ter­essan­tes­ten Stel­len zeig­te.

Fo­res­tier kam ei­lig, schnau­fend, mit ge­schäf­ti­gem Ge­sichts­aus­druck her­ein:

»Ah, gut, ich brau­che euch bei­de.«

Und er gab ih­nen eine Rei­he po­li­ti­scher Er­kun­di­gun­gen auf, die er bis zum Abend ha­ben müss­te.

Du­roy über­reich­te ihm sei­nen Ar­ti­kel.

»Hier hast du die Fort­set­zung über Al­gier.«

»Sehr schön. Gib her, ich wer­de sie dem Chef ge­ben.«

Das war al­les.

Saint-Po­tin zog sei­nen neu­en Kol­le­gen mit hin­aus, und als sie im Flur wa­ren, frag­te er ihn:

»Wa­ren Sie schon an der Kas­se?«

»Nein, warum?«

»Wa­rum? Um sich Ihr Ge­halt aus­zah­len zu las­sen. Se­hen Sie, man muss stets einen Mo­nat im Voraus neh­men. Man weiß nie, was kom­men kann.«

»Aber na­tür­lich … umso bes­ser.«

»Ich will Sie dem Kas­sie­rer vor­stel­len. Er wird kei­ne Schwie­rig­kei­ten ma­chen. Man zahlt hier gut.«

Du­roy er­hielt sei­ne zwei­hun­dert Fran­cs so­wie acht­und­zwan­zig Fran­cs für sei­nen gest­ri­gen Ar­ti­kel, so­dass er zu­sam­men mit dem Rest sei­nes Ge­hal­tes von der Nord­bahn drei­hun­dert­und­vier­zig Fran­cs bar in der Ta­sche hat­te. Noch nie hat­te er so viel auf ein­mal in den Hän­den ge­habt, und er glaub­te, er wäre reich für ewi­ge Zei­ten.

Dann führ­te ihn Saint-Po­tin in die Re­dak­tio­nen von vier oder fünf Kon­kur­renz­blät­tern und plau­der­te dort und schwatz­te, in der Hoff­nung, dass die Nach­rich­ten, die er ein­ho­len soll­te, schon von an­de­ren er­mit­telt wa­ren, und dass es ihm ge­lin­gen wür­de, sie ih­nen mit Hil­fe sei­nes wort­rei­chen und lis­ti­gen Ge­plau­ders ab­zu­lo­cken.

Als der Abend kam, be­schloss Du­roy, der nichts wei­ter zu tun hat­te, wie­der ein­mal nach den Fo­lies Ber­gè­re zu ge­hen. Er hoff­te, mit Dreis­tig­keit durch­zu­drän­gen und ging zum Kon­trol­leur:

»Ich hei­ße Ge­or­ges Du­roy und bin Re­dak­teur der Vie Fran­cai­se. Ich war neu­lich mit Herrn Fo­res­tier hier, der ver­spro­chen hat, mir einen frei­en Ein­tritt zu ver­schaf­fen. Ich weiß nicht, ob er es ge­tan hat?«

Man sah im Ver­zeich­nis nach. Sein Name stand nicht dar­in. Doch sag­te der Kon­trol­leur, ein sehr freund­li­cher Mann:

»Tre­ten Sie ru­hig ein und wen­den Sie sich mit Ih­rer Bit­te an den Herrn Di­rek­tor, der Ihren Wunsch ge­wiss gern er­fül­len wird.«

Er trat ein und be­geg­ne­te fast so­fort Ra­hel, dem Mäd­chen, das er neu­lich nach Hau­se be­glei­tet hat­te. Sie kam so­fort auf ihn zu:

»Gu­ten Tag, mein lie­ber Jun­ge, wie geht es dir?«

»Aus­ge­zeich­net; und dir?«

»Nicht schlecht. Den­ke dir, ich habe seit je­nem Abend schon zwei­mal von dir ge­träumt.«

Du­roy lä­chel­te ge­schmei­chelt.

»Ah! Ah! Und was soll das be­wei­sen?«

»Das be­weist, dass du mir ge­fal­len hast, dum­mes Schaf, und dass wir von Neu­em an­fan­gen wol­len, wenn es dir passt.«

»Heu­te, wenn es dir recht ist?«

»Oh, ich will sehr gern.«

»Gut, aber höre …«

Er zö­ger­te, et­was ver­wirrt durch sein Vor­ha­ben.

»Dies­mal näm­lich habe ich gar kein Geld. Ich kom­me aus dem Klub, wo ich al­les ver­mö­belt habe.«

Sie blick­te ihm tief in die Au­gen und fühl­te in­stink­tiv sei­ne Lüge mit der Er­fah­rung ei­ner Dir­ne, die an die Gau­ne­rei­en und das Feil­schen der Män­ner ge­wöhnt ist.

»Schwind­ler! Du weißt doch … das ist nicht nett von dir.«

Er lä­chel­te ver­le­gen:

»Wenn du zehn Fran­cs willst, das ist al­les, was ich habe.«

Sie mur­mel­te mit der Gleich­gül­tig­keit ei­ner Kur­ti­sa­ne, die sich eine Lau­ne er­laubt:

»Was du ge­ben willst, mein Lieb­ling, ich will ja nur dich.«

Sie rich­te­te ihre ver­füh­re­ri­schen Au­gen auf den Schnurr­bart des jun­gen Man­nes, nahm sei­nen Arm und stütz­te. sich ver­liebt dar­auf.

»Komm, wir trin­ken zu­erst Gre­na­di­ne. Dann bum­meln wir et­was. Ich möch­te mit dir in die Oper ge­hen, um dich zu zei­gen. Und dann wol­len wir bald nach Hau­se ge­hen, nicht wahr?«

Er blieb lan­ge bei die­sem Mäd­chen. Es war schon Tag, als er fort­ging. So­fort dach­te er dar­an, sich die Vie Françai­se zu kau­fen. Mit zit­tern­den Hän­den schlug er die Zei­tung auf; sei­ne Fort­set­zung stand nicht dar­in. Ver­ge­bens blieb er auf dem Bür­ger­steig ste­hen und über­flog ängst­lich die be­druck­ten Spal­ten, in der Hoff­nung, das Ge­such­te doch noch zu fin­den. Er fühl­te sich voll­stän­dig nie­der­ge­drückt, und in­fol­ge sei­ner Mat­tig­keit nach der Lie­bes­nacht traf ihn die­se Ent­täu­schung umso här­ter.

Er ging nach Hau­se, leg­te sich an­ge­klei­det auf sein Bett und schlief so­fort ein. — Ein paar Stun­den spä­ter war er auf dem Re­dak­ti­ons­bü­ro und ging zu Herrn Wal­ter:

»Ich bin sehr er­staunt, Herr Wal­ter, dass mein zwei­ter Ar­ti­kel über Al­gier nicht er­schie­nen ist.«

Der Di­rek­tor hob sei­nen Kopf und sag­te tro­cken:

»Ich gab ihn Ihrem Freund Fo­res­tier zum Durch­le­sen. Er fand ihn un­zu­rei­chend. Er muss um­ge­ar­bei­tet wer­den.«

Du­roy ging wü­tend hin­aus, ohne ein Wort zu er­wi­dern. Er stürm­te ins Ar­beits­zim­mer sei­nes Freun­des:

»Wa­rum hast du heu­te früh mei­nen Ar­ti­kel nicht ge­bracht?«

Der Jour­na­list rauch­te eine Zi­gar­re; er saß hin­ten­über­ge­lehnt in sei­nem Lehn­stuhl und hat­te die Füße auf den Tisch ge­legt, so­dass die Stie­fel­ab­sät­ze einen halb­ge­schrie­be­nen Ar­ti­kel be­schmutz­ten. Er er­wi­der­te ru­hig mit gleich­gül­ti­ger und ge­lang­weil­ter Stim­me, die von fern­her, wie aus ei­nem tie­fen Loch zu kom­men schi­en:

»Der Chef hat ihn schlecht ge­fun­den und mich be­auf­tragt, ihn dir zu­rück­zu­ge­ben, da­mit du ihn noch ein­mal schreibst. Da ist er.«

Und er wies mit dem Fin­ger auf die Blät­ter, die zu­sam­men­ge­fal­tet un­ter dem Brief­be­schwe­rer la­gen.

Du­roy war ver­wirrt und wuss­te nicht, was er er­wi­dern soll­te. Als er sei­nen Auf­satz in die Ta­sche steck­te, fuhr Fo­res­tier fort:

»Heu­te be­gibst du dich zu­nächst zur Po­li­zei­prä­fek­tur.«

Und wie­der gab er ihm eine gan­ze Men­ge Ge­schäfts­gän­ge und Re­cher­chen auf, die er er­le­di­gen soll­te.

Du­roy ging, ohne dass ihm das bei­ßen­de und ver­let­zen­de Wort ein­fiel, nach dem er such­te.

Am nächs­ten Tage brach­te er sei­nen Auf­satz wie­der. Er be­kam ihn aber­mals zu­rück. Als er ihn zum drit­ten Male ge­schrie­ben und zu­rück­er­hal­ten hat­te, be­griff er, dass er zu schnell vor­wärts woll­te und dass nur Fo­res­tiers Hand ihm hel­fen konn­te. Er sprach nicht mehr von sei­nen ›Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­ger­s’, und nahm sich vor, schlau und ge­wandt zu sein, da es nicht an­ders ging. Und in Er­war­tung bes­se­rer Tage wid­me­te er sich in vol­lem Ei­fer sei­nem Be­ru­fe als Re­por­ter.

Er lern­te bald die Ku­lis­sen der Thea­ter und der Po­li­tik, die Wan­del­gän­ge und War­teräu­me der Staats­män­ner und des Par­la­ments, die wich­tig­tu­en­den Mie­nen der Mi­nis­te­ri­al­be­am­ten und die mür­ri­schen Ge­sich­ter der schläf­ri­gen Ge­richts­die­ner ken­nen.

Er hat­te dau­ernd zu tun mit Mi­nis­tern, Por­tiers, Ge­ne­ra­len, Ge­heim­po­li­zis­ten, Fürs­ten, Zu­häl­tern, Dir­nen, Bot­schaf­tern, Bi­schö­fen, Kupp­lern, Män­nern der bes­ten Ge­sell­schaft, Falsch­spie­lern, Drosch­ken­kut­schern, Kell­nern und vie­len an­de­ren Leu­ten; er war der be­rech­nen­de und gleich­gül­ti­ge Freund al­ler ge­wor­den, ach­te­te alle gleich hoch und gleich nied­rig, maß sie mit dem­sel­ben Maße, be­ur­teil­te sie mit dem­sel­ben Blick, denn er muss­te sie an je­dem Tage und zu je­der Stun­de in der­sel­ben Stim­mung be­grü­ßen und mit ih­nen über al­les, was sei­nen Be­ruf an­ging, spre­chen. Er selbst kam sich da­bei wie ein Mensch vor, der un­mit­tel­bar hin­ter­ein­an­der von al­len mög­li­chen Wei­nen kos­ten muss und schließ­lich den feins­ten Cha­teau-Mar­gaux von Ar­gen­teuil nicht mehr un­ter­schei­den kann.

Er wur­de in kur­z­er Zeit ein acht­ba­rer Re­por­ter, zu­ver­läs­sig in sei­nen Nach­rich­ten, lis­tig, schnell und ge­nau, eine wert­vol­le Kraft für die Zei­tung, wie der alte Wal­ter be­haup­te­te, der sich in Re­dak­teu­ren aus­kann­te.

Da er aber au­ßer sei­nem fes­ten Ge­halt von zwei­hun­dert Fran­cs nur zehn Cen­ti­mes für die Zei­le be­kam und da das Le­ben in den Bou­le­vards, in den Cafés und Re­stau­rants teu­er war, so hat­te er nie einen Sous in der Ta­sche und war ver­zwei­felt über sei­ne Ar­mut.

Es steckt ir­gend­ein Kniff da­hin­ter, dach­te er, wenn er man­che sei­ner Kol­le­gen mit geld­ge­füll­ten Ta­schen sah, ohne je zu be­grei­fen, wel­che ge­hei­men Mit­tel sie wohl an­wand­ten, um sich die­sen Wohl­stand zu ver­schaf­fen. Er wit­ter­te vol­ler Neid ir­gend­wel­che heim­li­chen und ver­däch­ti­gen Ab­ma­chun­gen, ein ge­gen­sei­ti­ges Schmug­gel­sys­tem. Auch er muss­te hin­ter das Ge­heim­nis kom­men, auch er woll­te Mit­glied die­ser ver­schwie­ge­nen Ge­nos­sen­schaft wer­den und sich den Kol­le­gen, die ohne ihn die Beu­te teil­ten, auf­drän­gen. Und wenn er abends an sei­nem Fens­ter die Ei­sen­bahn­zü­ge vor­über­fah­ren sah, dann träum­te er oft von den Mit­teln, die ihn die­sem Zie­le nä­her­brin­gen konn­ten.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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