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IV.
ОглавлениеGeorges Duroy hatte schlecht geschlafen. Die Sehnsucht, seinen Artikel gedruckt zu sehen, gab ihm keine Ruhe. Schon bei Tagesanbruch stand er auf und ging in den Straßen herum, lange bevor die Zeitungsträger von einem Kiosk zum anderen die großen Papierbündel herumtrugen. Dann ging er zum Bahnhof, denn er wusste, dass die Vie Française dort eher eintreffen würde als in seinem Viertel. Aber es war immer noch zu früh und wieder musste er in den Straßen auf und ab wandern.
Er sah die Zeitungshändlerin ankommen und ihr Glashäuschen aufschließen, und dann bemerkte er auch einen Mann mit einem dicken Zeitungsbündel auf dem Kopf. Er stürzte darauflos; es war der »Figaro«, der »Gil Blas«, der »Gaulois«, das »Evénements« und noch ein paar andere Morgenblätter, aber die Vie Française war nicht dabei.
Da ergriff ihn eine Furcht: »Wenn man die ›Erinnerungen eines afrikanischen Jägers‹ auf den nächsten Tag verschoben hätte oder womöglich hätten sie im letzten Augenblick Vater Walter missfallen?«
Als er nach dem Kiosk zurückkehrte, sah er, dass man jetzt das Blatt verkaufte, ohne dass er es hatte bringen sehen. Er stürzte darauf, warf drei Sous hin, entfaltete die Zeitung und las das Inhaltsverzeichnis auf der ersten Seite rasch durch. — Nichts. — Sein Herz begann heftig zu klopfen. Er schlug die zweite Seite auf und las in heftiger Erregung unter einer Spalte dick gedruckt: »Georges Duroy.« Also doch. Welche Freude!
Ganz verwirrt, den Zylinder aufs Ohr gedrückt, die Zeitung in der Hand, ging er los. Er fühlte ein Verlangen, die Passanten anzuhalten und ihnen zu erklären: »Kaufen Sie sich das, kaufen Sie sich das. Da steht ein Artikel von mir!« — Am liebsten hätte er wie die Straßenhändler abends auf den Boulevards aus voller Kehle geschrien: »Lest die Vie Française, lest den Artikel von Georges Duroy, Erinnerungen eines afrikanischen Jägers«.
Und plötzlich empfand er das Bedürfnis, selbst den Artikel zu lesen, und zwar öffentlich in irgendeinem Café, wo alle es sehen konnten. Er wollte ein besuchtes Lokal finden; er musste aber lange suchen, bis er endlich an eine Weinschenke kam, wo sich schon einige Gäste befanden. Er bestellte sich einen Rum in einem Tone, als ob er einen Absinth bestellt hätte, ohne an die Tageszeit zu denken. Dann rief er: »Kellner, geben Sie mir die Vie Française.«
Ein Mann mit weißer Schürze eilte herein. »Wir haben sie nicht, mein Herr, wir bekommen nur ›Le Rappel‹, ›Le Siecle‹, ›La Lanterne‹ und ›Le Petit Parisien‹.«
Duroy erwiderte wütend und entrüstet: »Das ist eine nette Bude; kaufen Sie mir das Blatt sofort.«
Der Kellner lief hinaus und brachte die Zeitung. Duroy begann seinen Artikel zu lesen, ein paarmal sagte er dabei ganz laut: »Vortrefflich, ausgezeichnet«, um die Aufmerksamkeit seiner Nachbarn auf sich zu lenken und ihnen den Wunsch einzuflößen, auch zu wissen, was im Blatte stand. Dann ließ er es auf dem Tisch liegen und ging fort. Der Wirt merkte es:
»Mein Herr, mein Herr, Sie haben Ihre Zeitung vergessen.«
Duroy antwortete: »Ich lasse sie Ihnen, ich habe sie schon gelesen. Übrigens steht heute etwas sehr Interessantes drin.«
Er nannte seinen Artikel nicht, aber er sah, als er fortging, wie einer der Gäste die Zeitung vom Tisch nahm.
Er dachte nach: »Was soll ich jetzt anfangen?« Und er entschloss sich, auf sein Büro zu gehen, sich sein Gehalt zu holen, und seinen Abschied zu nehmen. Er zitterte im Voraus vor Freude bei dem Gedanken an das Gesicht, das sein Chef und seine Kollegen machen würden. Vor allem freute ihn die Aussicht, seinen Vorgesetzten wütend zu machen.
Er ging langsam, um nicht vor halb zehn an Ort und Stelle zu sein, denn die Kasse wurde erst um zehn geöffnet.
Sein Büro war ein dunkles, großes Zimmer, in dem man im Winter fast den ganzen Tag Gas brennen musste. Die Fenster gingen auf einen engen Hof, gegenüber lagen andere Büros. In dem seinen arbeiteten acht Angestellte und der Vorgesetzte, der in der Ecke hinter einem Wandschirm saß.
Duroy ging zuerst, seine 118 Francs und 25 Centimes abzuholen, die in einem gelben Briefumschlag in der Schublade des Kassierers bereitlagen. Dann trat er übermütig und triumphierend in den Arbeitsraum, wo er so manchen Tag verbracht hatte. Kaum war er eingetreten, da rief ihn sein Vorgesetzter, Herr Potel:
»Ach, Sie sind es, Herr Duroy? Der Chef hatte mehrfach nach Ihnen gefragt. Sie wissen doch, dass es nicht gestattet ist, zwei Tage nacheinander krankheitshalber ohne ärztliches Attest fortzubleiben.«
Duroy stand mitten im Zimmer und bereitete seine Überraschung vor. Er antwortete mit lauter Stimme:
»Ich pfeife darauf, wahrhaftig!«
Unter den Beamten schlug das wie eine Bombe ein, und das verblüffte Gesicht des Herrn Potel tauchte über dem Wandschirm auf, der ihn wie ein Kasten umgab. Er litt an Rheumatismus und hatte sich aus Furcht vor Zugluft dahinter verbaut. Er hatte nur zwei Löcher durch das Papier gebohrt, um sein Personal zu überwachen.
Es war so still, dass man die Fliegen summen hörte. Endlich fragte der Vorsteher zögernd:
»Was sagten Sie?«
»Ich sagte, ich pfeife darauf. Ich komme heute nur, um meine Entlassung zu nehmen. Ich habe eine Stellung als Redakteur der Vie Française angenommen mit 500 Francs monatlichem Gehalt und besonderem Zeilenhonorar. Heute früh wurde schon mein erster Artikel veröffentlicht.
Er hatte sich zwar vorgenommen, das Vergnügen in die Länge zu ziehen, konnte jedoch nicht dem Drange widerstehen, ihnen alles auf einmal an den Kopf zu werfen. Übrigens war die Wirkung großartig; niemand wagte einen Ton von sich zu geben.
Darauf erklärte Duroy:
»Ich werde Herrn Perthuis benachrichtigen und mich dann verabschieden.«
Damit ging er zum Bürochef. Als dieser ihn erblickte, rief er aus:
»Ah, da sind Sie, Sie wissen doch, ich wünsche nicht …«
Duroy unterbrach ihn:
»Sie können sich Ihr Geschrei ersparen …«
Herr Perthuis, ein dicker Mann, dessen Gesicht rot wie ein Hahnenkamm wurde, erstickte fast vor Überraschung. Duroy fuhr fort:
»Ich habe genug von Ihrer Bude, heute Morgen habe ich mich als Journalist eingeführt und bereits eine glänzende Stellung gefunden. Ich empfehle mich!«
Er ging hinaus. Er war gerächt.
Er ging dann wirklich hin, um seinen bisherigen Kollegen die Hand zu schütteln. Sie wagten übrigens kaum mit ihm zu sprechen, aus Angst, sich zu kompromittieren, denn sie hatten durch die offene Tür seine ganze Unterhaltung mit dem Chef gehört.
Nun stand er wieder auf der Straße mit seinem Gehalt in der Tasche. Er leistete sich ein üppiges Frühstück in einem guten Restaurant zu mäßigen Preisen, das er kannte. Dann kaufte er sich wieder die Vie Française und ließ sie auf dem Tisch liegen, an dem er gegessen hatte. Er ging in mehrere Läden und kaufte sich Kleinigkeiten, nur um sie sich schicken zu lassen und seinen Namen anzugeben — »Georges Duroy«. Dann fügte er hinzu: »Ich bin Redakteur der Vie Française. Dann nannte er Straße und Hausnummer und vergaß nie, zu bemerken:
»Geben Sie die Sachen beim Concierge ab.«
Da er noch genügend Zeit hatte, ging er in eine lithografische Anstalt, wo Besuchskarten in ein paar Minuten angefertigt wurden, während man darauf wartete. Er ließ sich sofort 100 Stück herstellen, die seinen Namen und seine neue Würde trugen.
Dann begab er sich in die Redaktion.
Forestier empfing ihn wie einen Untergebenen etwas von oben herab.
»Ah! da bist du, das ist sehr gut. Ich habe gerade ein paar Sachen für dich. Warte zehn Minuten. Ich muss noch meine Arbeit beenden.«
Er schrieb einen begonnenen Brief zu Ende. Am anderen Ende des Tisches saß ein kleiner, sehr dicker Mann mit ganz flachem, aufgedunsenem Gesicht. Sein Kopf war völlig kahl und glänzte. Er war sehr kurzsichtig und schrieb, die Nase dicht ans Papier gedrückt.
Forestier fragte ihn:
»Sag’ mal, Saint-Potin, um welche Zeit willst du unsere Leute interviewen?«
»Um vier Uhr.«
»Dann kannst du hier den jungen Duroy mitnehmen und ihn in die Geheimnisse des Berufes einweihen.«
»Sehr gern.«
Nun wandte sich Forestier zu seinem Freund und fuhr fort:
»Hast du die Fortsetzung über Algier mitgebracht? Der Anfang hat heute einen großen Erfolg gehabt.«
Duroy stotterte verlegen: »Nein … ich dachte, es hätte Zeit bis heute Nachmittag … ich hatte die Hände voll zu tun … ich bin noch nicht dazu gekommen …«
Der andere zuckte missvergnügt die Achseln.
»Wenn du nicht zuverlässiger bist als jetzt, wirst du dir deine Zukunft verderben. Vater Walter rechnete auf dein Manuskript. Ich sage ihm, du bringst es morgen. Du bist sehr im Irrtum, wenn du glaubst, du wirst hier bezahlt, um nichts zu tun.«
Nach einer Pause setzte er hinzu. »Zum Teufel, man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«
Saint-Potin stand auf.
»Ich bin fertig!« sagte er.
Dann lehnte sich Forestier in seinen Stuhl zurück, nahm eine feierliche Haltung an, um seine Weisungen zu geben und begann, sich an Duroy wendend:
»Also: wir haben in Paris seit zwei Tagen den chinesischen General Li-Theng-Fao, der im Hotel Continental abgestiegen ist, und den Rajah Taposahib Ramaderao Pali, der im Hotel Bristol wohnt. Ihr werdet die beiden um eine Unterredung ersuchen.«
Dann wandte er sich zu Saint-Potin:
»Vergiss nicht die hauptsächlichsten Punkte, die ich dir angegeben habe. Frage den General und den Rajah nach ihrer Meinung über die politische Haltung Englands im fernen Osten, nach ihrer Auffassung über das Regierungssystem und die Kolonisation, und nach ihren Hoffnungen auf ein Eingreifen Europas, insbesondere Frankreichs, in ihre Angelegenheiten.«
Er schwieg, dann setzte er, ins Leere sprechend, hinzu:
»Für unsere Leser wird es natürlich ungeheuer interessant sein, zu erfahren, wie man in China und Indien über diese Fragen denkt, die augenblicklich bei uns die öffentliche Meinung so lebhaft beschäftigen.«
Und zu Duroy gewendet:
»Achte genau auf alles, was Saint-Potin tut; er ist ein ausgezeichneter Reporter, und von ihm kannst du lernen, wie man in fünf Minuten aus einem Menschen alles herausholt, was man wissen will.«
Dann begann er wieder höchst würdig zu schreiben, mit der offenbaren Absicht, die Distanz zu wahren und seinem ehemaligen Kameraden und jetzigen Kollegen den richtigen Platz anzuweisen.
Kaum waren sie über die Schwelle, so sagte Saint-Potin lachend zu Duroy:
»Das ist ein Wichtigtuer. Er spielt uns Theater vor, als ob wir seine Leser wären.«
Sie gingen den Boulevard hinab und der Reporter fragte:
»Trinken Sie etwas?«
»Ja, gern, es ist sehr heiß heute.«
Sie gingen in ein Café und ließen sich etwas Erfrischendes bringen; und Herr Saint-Potin begann zu reden und wusste über die Zeitung und über jedermann eine Fülle erstaunlicher Einzelheiten zu erzählen.
»Der Chef? Der richtige Jude! Die Juden kann man nie ummodeln. Das ist eine Rasse!« Und er führte die merkwürdigsten Beispiele von seinem Geiz an, diesen eigentümlichen Geiz der Kinder Israels, der sich um zehn Centimes streitet, mit der Köchin schachert, in schamlosester Weise Abzüge bei Zahlungen durchsetzt und auf Pfänder leiht und wuchert.
»Dabei ist er ein pfiffiger Kopf, der an nichts glaubt und alle Welt übers Ohr haut. Seine Zeitung ist offiziös, katholisch, liberal, republikanisch und orleanistisch zugleich, ein Kramladen für alles; er hat sie nur gegründet, um seine Börsenspekulationen und sonstigen Unternehmungen zu stützen. Darin ist er großartig; er verdient Millionen durch Gesellschaften, die nicht vier Sous Kapital haben.«
So ging es weiter, wobei er Duroy immer »Mein lieber Freund« nannte.
»Und dabei hat dieser Geizhals Ausdrücke wie Balzac. Denken Sie, neulich war ich in seinem Arbeitszimmer, mit dem alten Narren de Norbert und diesem Don Quichotte Rival; da kommt Montelin, unser Verwalter, mit seiner Aktenmappe aus Saffianleder, die ganz Paris übrigens kennt. Walter hob die Nase und fragte: ›Was gibt es Neues?‹ Montelin erwiderte ganz harmlos: ›Ich habe gerade die siebzehntausend Francs bezahlt, die wir dem Papierlieferanten schuldeten.’ Da sprang der Chef wütend in die Höhe:
›Was sagten Sie?‹
›Ich habe eben Herrn Privas bezahlt.‹
›Sie sind wohl verrückt?‹
›Wieso?‹
›Wieso … wieso … wieso!‹ Er nahm seine Brille ab und putzte die Gläser. Dann verzog er das Gesicht zu einem sonderbaren Lächeln, das jedes Mal seine dicken Backen umspielt, wenn er ein boshaftes oder kräftiges Wort sagen will, und dann sagte er mit spöttischem, überzeugtem Ton: ›Wieso? Wir hätten darauf noch einen Rabatt von viertausend bis fünftausend Francs erzielen können!‹
Montelin entgegnete erstaunt: ›Aber Herr Direktor, sämtliche Rechnungen waren in Ordnung. Sie waren von mir nachgeprüft und von Ihnen für richtig befunden.’
Der Chef war wieder ernst geworden; er erklärte:
›Nicht alle sind so naiv wie Sie. Merken Sie sich, Herr Montelin, man muss hohe Schulden stets anwachsen lassen, um sie nachher herunterhandeln zu können.‹
Saint-Potin setzte mit dem erhabenen Gesicht eines Kenners hinzu:
»Na, ist das nicht der reine Balzac?«
Duroy hatte nie Balzac gelesen, aber er antwortete mit Überzeugung: »Weiß der Teufel, ja.«
Dann erzählte der Reporter über Madame Walter. Er nannte sie eine dumme Pute, Norbert de Varenne einen alten Narren und Rival eine Neuauflage von Fervacques.
Endlich war er bei Forestier angelangt:
»Was diesen Mann angeht, er hatte nur das Glück, seine Frau geheiratet zu haben. Das ist alles!«
Duroy fragte:
»Was ist eigentlich seine Frau?«
Saint-Potin rieb sich die Hände: »Oh, ein ganz gerissenes und raffiniertes Weib! Sie ist die Mätresse eines alten Lebemannes namens Vaudrec, Graf de Vaudrec, der ihr eine Mitgift gegeben und sie verheiratet hat.«
Duroy überfiel plötzlich ein Gefühl der inneren Kälte, eine Art Nervenkrampf; er hatte das Verlangen, diesen Schwätzer zu beschimpfen und zu ohrfeigen. Aber er unterbrach ihn einfach mit der Frage:
»Ist Saint-Potin Ihr richtiger Name?«
»Nein,« erwiderte der andere ruhig, »ich heiße Thomas. Für die Zeitung führe ich den Beinamen Saint-Potin.«
Duroy beglich die Zeche und sagte:
»Mir scheint, es ist spät geworden und wir haben noch die beiden hohen Herrschaften zu besuchen?«
Saint-Potin begann zu lachen:
»Sie sind noch sehr naiv. Glauben Sie denn wirklich, ich ginge zu diesem Chinesen und Inder fragen, was sie über England denken? Ich weiß es viel besser als sie, was sie für die Leser der Vie Française denken müssen. Ich habe schon gegen fünfhundert von diesen Chinesen, Persern, Indern, Chilenen, Japanern und dergleichen interviewt. Nach meiner Meinung antworten sie immer dasselbe. Ich brauche nur meinen Artikel vom letzten Mal nachzusehen und ihn Wort für Wort abzuschreiben, es ändern sich nur ihr Aussehen, ihr Name, ihre Titel, ihr Alter, ihr Gefolge. Oh, dabei darf kein Irrtum unterlaufen, sonst würden mich der ›Figaro‹ oder der ›Gaulois‹ einfach festnageln. Doch wird mich der Portier des Hotels Bristol und Continental über alles das in fünf Minuten aufs genaueste aufgeklärt haben. Wir rauchen noch eine Zigarre und gehen dann zu Fuß hin. Und nachher berechnen wir der Zeitung hundert Sous Droschkenspesen. So machen’s, mein Lieber, die praktischen Leute.«
Duroy fragte: »Es muss sehr viel einbringen, unter solchen Bedingungen Reporter zu sein.«
Der Journalist antwortete geheimnisvoll: »Jawohl, aber nichts bringt so viel ein wie die Lokalnachrichten wegen der verschleierten Reklame!«
Sie standen auf und gingen den Boulevard herunter, der Madeleine zu. Plötzlich sagte Saint-Potin zu seinem Begleiter :
»Wissen Sie, wenn Sie noch etwas vorhaben, brauche ich Sie nicht mehr.«
Duroy drückte ihm die Hand und ging. Der Gedanke an den Artikel, den er abends noch schreiben sollte, gab ihm keine Ruhe, und er begann darüber nachzudenken. Er suchte nach neuen Ideen, Einfällen, nach Anekdoten und Schilderungen und gelangte schließlich zur Avenue des Champs Elysées, wo er nur vereinzelte Spaziergänger erblickte, denn Paris war zu dieser heißen Jahreszeit fast unbelebt.
Er aß in einer Weinstube in der Nähe der Arc de Triomphe de l’Etoile, ging über die äußeren Boulevards langsam nach Hause und setzte sich an den Schreibtisch, um zu arbeiten. Doch sobald er den großen weißen Bogen Papier vor Augen hatte, entfloh ihm all der Stoff, den er in Gedanken gesammelt hatte, und es war so, als ob sein Gehirn sich verflüchtigt hätte. Er versuchte, Einzelheiten aus seinen Erinnerungen hervorzuholen und sie festzuhalten. Aber auch sie entschlüpften ihm, sobald er ihrer habhaft werden wollte; er wusste nicht, wie er sich ausdrücken und womit er beginnen sollte.
Nach einer Stunde vergeblicher Anstrengung waren fünf Seiten vollgeschmiert. Es waren aber nur Einleitungssätze und auch diese ohne jeden inneren Zusammenhang. Er sagte sich: »Ich bin in dem Beruf noch nicht genug bewandert, ich muss eine neue Lektion nehmen.« Und sofort machte ihn die Aussicht auf einen neuen Arbeitsmorgen bei Madame Forestier und die Hoffnung auf ein langes intimes und herzliches Beisammensein vor Sehnsucht erzittern. Er ging rasch zu Bett, denn er fürchtete fast, es könnte ihm plötzlich doch gelingen, wenn er sich nochmals an die Arbeit setzte. Am nächsten Morgen stand er ziemlich spät auf und genoss im Voraus die Freude dieses Besuches, den er absichtlich hinausschob.
Es war zehn Uhr vorbei, als er bei seinem Freunde klingelte.
Der Diener antwortete: »Der Herr ist bei der Arbeit.«
Duroy hatte gar nicht gedacht, dass der Mann überhaupt zu Hause sein könnte. Trotzdem ließ er sich nicht abweisen. »Sagen Sie ihm, ich wäre es und käme in einer dringlichen Angelegenheit.«
Nachdem er fünf Minuten gewartet hatte, wurde er in das Arbeitszimmer geführt, in dem er einen so schönen Morgen verbracht hatte. Auf dem Platz, wo er gesessen hatte, saß jetzt Forestier im Schlafrock und Pantoffeln, auf dem Kopf ein leichtes englisches Barett, und schrieb, während seine Frau in demselben weißen Morgenkleide am Kamin lehnte und eine Zigarette rauchte. Sie diktierte.
Duroy blieb an der Schwelle stehen und murmelte:
»Ich bitte sehr um Verzeihung, wenn ich störe …«
Sein Freund drehte sich mit wütendem Gesicht um und brummte:
»Was willst du denn noch? Beeile dich, wir haben zu tun.«
Duroy wusste nicht, was er sagen sollte. Er stotterte:
»Nein, es ist: nichts, Verzeihung.«
Forestier wurde wütend:
»Zum Donnerwetter, lass uns keine Zeit verlieren! Du bist nicht etwa hier eingedrungen, bloß um uns guten Tag zu sagen?«
Duroy wurde ganz verwirrt; endlich entschloss er sich:
»Nein … es ist nur… ich bringe den Artikel nicht fertig … du warst … Sie waren … Sie waren so … so … so liebenswürdig das letzte Mal … dass ich hoffte … ich wagte zu kommen …«
Forestier fiel ihm ins Wort:
»Du schämst dich wohl gar nicht. Also du bildest dir ein, ich würde deine Arbeit machen und du brauchtest nur am Ende des Monats an die Kasse zu gehen? Nein, das ist ein bisschen zu viel verlangt!«
Die junge Frau rauchte ruhig weiter, ohne ein Wort zu sagen und lächelte nur immer ein geheimnisvolles Lächeln, das wie eine liebenswürdige Maske ihre Gedanken zu verbergen schien.
Duroy errötete und stotterte:
»Entschuldigen Sie … ich hatte geglaubt … ich dachte …«
Dann fuhr er plötzlich mit sicherer Stimme fort:
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, gnädige Frau, und danke Ihnen nochmals aufs herzlichste für den reizenden Aufsatz, den Sie mir gestern geschrieben haben.«
Dann sagte er zu Forestier: »Ich werde um drei Uhr bei der Redaktion sein«, und ging fort.
Rasch kehrte er nach Hause zurück und brummte:
»Nun gut, ich mache es jetzt selbst und ganz allein, sie sollen sehen …«
Kaum war er in seinem Zimmer, setzte er sich, von Zorn erregt, an die Arbeit. Er setzte die Geschichte fort, die Madame Forestier begonnen hatte, häufte Einzelheiten im Stil eines Zeitungsromanes, erstaunliche Geschehnisse und schwülstige Beschreibungen aufeinander. Er schrieb in ungeschicktem Schülerstil mit Unteroffiziersausdrücken. In einer Stunde war der Aufsatz beendet, der einem Wirrwarr von Torheiten glich, und trug ihn selbstsicher auf die Vie Française. Der erste Mensch, der ihm hier begegnete, war Saint-Potin, der ihm mit der Herzlichkeit eines Mitschuldigen die Hand schüttelte.
»Haben Sie meine Unterredung mit dem Chinesen und dem Inder gelesen?« fragte der Reporter. »Ist sie nicht spaßig? Ganz Paris hat sich über die Sache amüsiert. Und dabei habe ich nicht einmal ihre Nasenspitze gesehen.«
Duroy hatte noch nichts gelesen; er nahm sofort die Zeitung und durchflog den langen Artikel mit dem Titel »Indien und China«, während ihm der Reporter die interessantesten Stellen zeigte.
Forestier kam eilig, schnaufend, mit geschäftigem Gesichtsausdruck herein:
»Ah, gut, ich brauche euch beide.«
Und er gab ihnen eine Reihe politischer Erkundigungen auf, die er bis zum Abend haben müsste.
Duroy überreichte ihm seinen Artikel.
»Hier hast du die Fortsetzung über Algier.«
»Sehr schön. Gib her, ich werde sie dem Chef geben.«
Das war alles.
Saint-Potin zog seinen neuen Kollegen mit hinaus, und als sie im Flur waren, fragte er ihn:
»Waren Sie schon an der Kasse?«
»Nein, warum?«
»Warum? Um sich Ihr Gehalt auszahlen zu lassen. Sehen Sie, man muss stets einen Monat im Voraus nehmen. Man weiß nie, was kommen kann.«
»Aber natürlich … umso besser.«
»Ich will Sie dem Kassierer vorstellen. Er wird keine Schwierigkeiten machen. Man zahlt hier gut.«
Duroy erhielt seine zweihundert Francs sowie achtundzwanzig Francs für seinen gestrigen Artikel, sodass er zusammen mit dem Rest seines Gehaltes von der Nordbahn dreihundertundvierzig Francs bar in der Tasche hatte. Noch nie hatte er so viel auf einmal in den Händen gehabt, und er glaubte, er wäre reich für ewige Zeiten.
Dann führte ihn Saint-Potin in die Redaktionen von vier oder fünf Konkurrenzblättern und plauderte dort und schwatzte, in der Hoffnung, dass die Nachrichten, die er einholen sollte, schon von anderen ermittelt waren, und dass es ihm gelingen würde, sie ihnen mit Hilfe seines wortreichen und listigen Geplauders abzulocken.
Als der Abend kam, beschloss Duroy, der nichts weiter zu tun hatte, wieder einmal nach den Folies Bergère zu gehen. Er hoffte, mit Dreistigkeit durchzudrängen und ging zum Kontrolleur:
»Ich heiße Georges Duroy und bin Redakteur der Vie Francaise. Ich war neulich mit Herrn Forestier hier, der versprochen hat, mir einen freien Eintritt zu verschaffen. Ich weiß nicht, ob er es getan hat?«
Man sah im Verzeichnis nach. Sein Name stand nicht darin. Doch sagte der Kontrolleur, ein sehr freundlicher Mann:
»Treten Sie ruhig ein und wenden Sie sich mit Ihrer Bitte an den Herrn Direktor, der Ihren Wunsch gewiss gern erfüllen wird.«
Er trat ein und begegnete fast sofort Rahel, dem Mädchen, das er neulich nach Hause begleitet hatte. Sie kam sofort auf ihn zu:
»Guten Tag, mein lieber Junge, wie geht es dir?«
»Ausgezeichnet; und dir?«
»Nicht schlecht. Denke dir, ich habe seit jenem Abend schon zweimal von dir geträumt.«
Duroy lächelte geschmeichelt.
»Ah! Ah! Und was soll das beweisen?«
»Das beweist, dass du mir gefallen hast, dummes Schaf, und dass wir von Neuem anfangen wollen, wenn es dir passt.«
»Heute, wenn es dir recht ist?«
»Oh, ich will sehr gern.«
»Gut, aber höre …«
Er zögerte, etwas verwirrt durch sein Vorhaben.
»Diesmal nämlich habe ich gar kein Geld. Ich komme aus dem Klub, wo ich alles vermöbelt habe.«
Sie blickte ihm tief in die Augen und fühlte instinktiv seine Lüge mit der Erfahrung einer Dirne, die an die Gaunereien und das Feilschen der Männer gewöhnt ist.
»Schwindler! Du weißt doch … das ist nicht nett von dir.«
Er lächelte verlegen:
»Wenn du zehn Francs willst, das ist alles, was ich habe.«
Sie murmelte mit der Gleichgültigkeit einer Kurtisane, die sich eine Laune erlaubt:
»Was du geben willst, mein Liebling, ich will ja nur dich.«
Sie richtete ihre verführerischen Augen auf den Schnurrbart des jungen Mannes, nahm seinen Arm und stützte. sich verliebt darauf.
»Komm, wir trinken zuerst Grenadine. Dann bummeln wir etwas. Ich möchte mit dir in die Oper gehen, um dich zu zeigen. Und dann wollen wir bald nach Hause gehen, nicht wahr?«
Er blieb lange bei diesem Mädchen. Es war schon Tag, als er fortging. Sofort dachte er daran, sich die Vie Française zu kaufen. Mit zitternden Händen schlug er die Zeitung auf; seine Fortsetzung stand nicht darin. Vergebens blieb er auf dem Bürgersteig stehen und überflog ängstlich die bedruckten Spalten, in der Hoffnung, das Gesuchte doch noch zu finden. Er fühlte sich vollständig niedergedrückt, und infolge seiner Mattigkeit nach der Liebesnacht traf ihn diese Enttäuschung umso härter.
Er ging nach Hause, legte sich angekleidet auf sein Bett und schlief sofort ein. — Ein paar Stunden später war er auf dem Redaktionsbüro und ging zu Herrn Walter:
»Ich bin sehr erstaunt, Herr Walter, dass mein zweiter Artikel über Algier nicht erschienen ist.«
Der Direktor hob seinen Kopf und sagte trocken:
»Ich gab ihn Ihrem Freund Forestier zum Durchlesen. Er fand ihn unzureichend. Er muss umgearbeitet werden.«
Duroy ging wütend hinaus, ohne ein Wort zu erwidern. Er stürmte ins Arbeitszimmer seines Freundes:
»Warum hast du heute früh meinen Artikel nicht gebracht?«
Der Journalist rauchte eine Zigarre; er saß hintenübergelehnt in seinem Lehnstuhl und hatte die Füße auf den Tisch gelegt, sodass die Stiefelabsätze einen halbgeschriebenen Artikel beschmutzten. Er erwiderte ruhig mit gleichgültiger und gelangweilter Stimme, die von fernher, wie aus einem tiefen Loch zu kommen schien:
»Der Chef hat ihn schlecht gefunden und mich beauftragt, ihn dir zurückzugeben, damit du ihn noch einmal schreibst. Da ist er.«
Und er wies mit dem Finger auf die Blätter, die zusammengefaltet unter dem Briefbeschwerer lagen.
Duroy war verwirrt und wusste nicht, was er erwidern sollte. Als er seinen Aufsatz in die Tasche steckte, fuhr Forestier fort:
»Heute begibst du dich zunächst zur Polizeipräfektur.«
Und wieder gab er ihm eine ganze Menge Geschäftsgänge und Recherchen auf, die er erledigen sollte.
Duroy ging, ohne dass ihm das beißende und verletzende Wort einfiel, nach dem er suchte.
Am nächsten Tage brachte er seinen Aufsatz wieder. Er bekam ihn abermals zurück. Als er ihn zum dritten Male geschrieben und zurückerhalten hatte, begriff er, dass er zu schnell vorwärts wollte und dass nur Forestiers Hand ihm helfen konnte. Er sprach nicht mehr von seinen ›Erinnerungen eines afrikanischen Jägers’, und nahm sich vor, schlau und gewandt zu sein, da es nicht anders ging. Und in Erwartung besserer Tage widmete er sich in vollem Eifer seinem Berufe als Reporter.
Er lernte bald die Kulissen der Theater und der Politik, die Wandelgänge und Warteräume der Staatsmänner und des Parlaments, die wichtigtuenden Mienen der Ministerialbeamten und die mürrischen Gesichter der schläfrigen Gerichtsdiener kennen.
Er hatte dauernd zu tun mit Ministern, Portiers, Generalen, Geheimpolizisten, Fürsten, Zuhältern, Dirnen, Botschaftern, Bischöfen, Kupplern, Männern der besten Gesellschaft, Falschspielern, Droschkenkutschern, Kellnern und vielen anderen Leuten; er war der berechnende und gleichgültige Freund aller geworden, achtete alle gleich hoch und gleich niedrig, maß sie mit demselben Maße, beurteilte sie mit demselben Blick, denn er musste sie an jedem Tage und zu jeder Stunde in derselben Stimmung begrüßen und mit ihnen über alles, was seinen Beruf anging, sprechen. Er selbst kam sich dabei wie ein Mensch vor, der unmittelbar hintereinander von allen möglichen Weinen kosten muss und schließlich den feinsten Chateau-Margaux von Argenteuil nicht mehr unterscheiden kann.
Er wurde in kurzer Zeit ein achtbarer Reporter, zuverlässig in seinen Nachrichten, listig, schnell und genau, eine wertvolle Kraft für die Zeitung, wie der alte Walter behauptete, der sich in Redakteuren auskannte.
Da er aber außer seinem festen Gehalt von zweihundert Francs nur zehn Centimes für die Zeile bekam und da das Leben in den Boulevards, in den Cafés und Restaurants teuer war, so hatte er nie einen Sous in der Tasche und war verzweifelt über seine Armut.
Es steckt irgendein Kniff dahinter, dachte er, wenn er manche seiner Kollegen mit geldgefüllten Taschen sah, ohne je zu begreifen, welche geheimen Mittel sie wohl anwandten, um sich diesen Wohlstand zu verschaffen. Er witterte voller Neid irgendwelche heimlichen und verdächtigen Abmachungen, ein gegenseitiges Schmuggelsystem. Auch er musste hinter das Geheimnis kommen, auch er wollte Mitglied dieser verschwiegenen Genossenschaft werden und sich den Kollegen, die ohne ihn die Beute teilten, aufdrängen. Und wenn er abends an seinem Fenster die Eisenbahnzüge vorüberfahren sah, dann träumte er oft von den Mitteln, die ihn diesem Ziele näherbringen konnten.