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IV.

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Der Platz vor der Tri­nité-Kir­che lag men­schen­leer in der glü­hen­den. Ju­li­son­ne. Eine drücken­de Hit­ze las­te­te über Pa­ris, als wenn die schwe­re Luft von dort oben ver­brannt und auf die Stadt her­ab­ge­fal­len wäre; es war eine di­cke, schwü­le; und ver­sen­gen­de Luft, die den Lun­gen weh tat.

Das Was­ser im Spring­brun­nen rie­sel­te läs­sig her­ab. Es schi­en er­mat­tet vom Sprin­gen, schlaff und müde, und das Was­ser in dem Bas­sin, in dem Blät­ter und Pa­pier­fet­zen her­um­schwam­men, sah blau­grün, schwer und trü­be aus. Ein Hund, der auf den stei­ner­nen Rand ge­sprun­gen war, ba­de­te in die­ser ver­däch­ti­gen Flüs­sig­keit. Ein paar Men­schen, die auf den Bän­ken in den An­la­gen her­umsa­ßen, blick­ten voll Neid auf das Tier.

Du Roy zog sei­ne Uhr. Es war erst drei Uhr; er hat­te noch eine hal­be Stun­de Zeit. Er muss­te la­chen, wenn er an die­ses Ren­dez­vous dach­te: »Die Kir­chen die­nen zu al­lem mög­li­chen,« sag­te er sich, »sie trös­ten sie dar­über, einen Ju­den ge­hei­ra­tet zu ha­ben, ge­ben ihr eine op­po­si­tio­nel­le Hal­tung in der Po­li­tik, eine pas­sen­de Stel­lung in der vor­neh­men Welt und ein Ob­dach für ga­lan­te Aben­teu­er. Es ist näm­lich die Ge­wohn­heit, sich der Re­li­gi­on zu be­die­nen, wie man einen en­tout­cas-Schirm ge­braucht. Ist das Wet­ter schön, dient er als Spa­zier­stock, scheint die Son­ne, so ist er ein Son­nen­schirm, wenn es reg­net ein Re­gen­schirm, und wenn man über­haupt nicht aus­geht, lässt man ihn im Vor­zim­mer ste­hen. Und so gibt es Hun­der­te, die sich aus dem lie­ben Gott nichts ma­chen und doch nicht ge­stat­ten, dass man ihn läs­tert und ihn da­bei gern als Ver­mitt­ler ge­brau­chen. Wenn man ei­ner sol­chen Frau vor­schlü­ge, in ein Ab­stei­ge­quar­tier zu ge­hen, so wür­de sie es mit Ent­rüs­tung zu­rück­wei­sen und als Schan­de be­trach­ten, aber sie fin­det gar nichts dar­in, am Fuße des Al­tars eine Lie­bes­ge­schich­te an­zu­spin­nen. Er ging lang­sam am Spring­brun­nen auf und ab und sah noch­mals nach der Uhr auf dem Kirch­turm, die im Ver­gleich zu sei­ner zwei Mi­nu­ten vor­ging. Er dach­te, dass es wohl drin­nen an­ge­neh­mer sein wür­de und ging hin­ein.

Die küh­le Kel­ler­luft des stei­ner­nen Ge­wöl­bes um­fing ihn. Er at­me­te sie mit Be­ha­gen ein und ging dann durch das Kir­chen­schiff, um die Ört­lich­keit zu über­se­hen. Aus der Tie­fe des mäch­ti­gen Bau­werks tön­te ein an­de­rer re­gel­mä­ßi­ger Schritt her­über; bald hielt er inne, bald hall­te er wie­der laut auf den Stein­flie­sen. Er such­te neu­gie­rig nach die­sem Spa­zier­gän­ger. Es war ein di­cker, kahl­köp­fi­ger Herr, der mit der Nase in der Luft und den Hut hin­ter dem Rücken her­um­ging. Hier und da knie­te eine alte Frau, das Ge­sicht in die Hän­de ver­gra­ben. Ein Ge­fühl der Ein­sam­keit, des Ver­las­sen­seins und der Ruhe er­füll­te sei­nen Geist, und das Licht, das durch die far­bi­gen Schei­ben fiel, tat den Au­gen wohl. Du Roy fand es hier drin­nen »recht be­hag­lich«. Er ging wie­der an die Tür und sah aber­mals nach der Uhr. Es war erst ein vier­tel nach drei. Er setz­te sich am Haup­tein­gang und be­dau­er­te sehr, dass er hier kei­ne Zi­ga­ret­te rau­chen dür­fe. Vom an­de­ren Ende der Kir­che, in der Nähe des Chors, er­tön­ten nach wie vor die lang­sa­men, schal­len­den Schrit­te des di­cken Herrn. Je­mand kam her­ein. Du Roy dreh­te sich has­tig um. Es war eine arme, ein­fa­che Frau im Woll­rock; gleich beim ers­ten Stuhl fiel sie auf die Knie und ver­harr­te hier mit ge­fal­te­ten Hän­den, den Blick gen Him­mel er­ho­ben, die See­le im Ge­bet ver­sun­ken.

Du Roy be­ob­ach­te­te sie; es in­ter­es­sier­te ihn, wel­cher Kum­mer, wel­cher Schmerz oder wel­che Verzweif­lung die­se arme See­le in die Kir­che ge­trie­ben hat­te. Tiefs­tes Elend sah man ihr an. Vi­el­leicht hat­te sie einen Mann, der sie halb­tot prü­gel­te oder ein ster­ben­des Kind?

»Ar­mes We­sen,« dach­te er, »es gibt so vie­le, die lei­den müs­sen!« Und er zürn­te ge­gen die er­bar­mungs­lo­se Na­tur. Dann über­leg­te er sich, dass die­se arm­se­li­gen Leu­te we­nigs­tens dar­an glaub­ten, dass dort oben ein Auge über sie wa­che und dass im Him­mel ihr ir­di­scher Le­bens­wan­del mit der Bilanz von Soll und Ha­ben ver­bucht sei. — Dort oben. — Wo denn ei­gent­lich?

In der Stil­le der Kir­che ver­sank Du Roy in welt­um­span­nen­de Träu­me­rei­en. Er be­gann in Ge­dan­ken die gan­ze Schöp­fung zu um­fas­sen und er mur­mel­te ganz lei­se vor sich hin: »Wie das al­les ei­gent­lich dumm ist.« Das Rau­schen ei­nes Klei­des ließ ihn hoch­fah­ren.

Sie war es.

Er stand auf und ging schnell auf sie zu. Sie reich­te ihm nicht die Hand und sag­te nur ganz lei­se:

»Ich habe nur ein paar Au­gen­bli­cke Zeit. Ich muss gleich wie­der nach Hau­se. Kni­en Sie ne­ben mir nie­der, da­mit wir nicht auf­fal­len.« Sie durch­schritt das Kir­chen­schiff und such­te, wie je­mand, der das Haus ge­nau kann­te, nach ei­nem pas­sen­den un­ge­stör­ten Platz. Ihr Ge­sicht war mit ei­nem dich­ten Schlei­er be­deckt und sie ging mit ge­dämpf­ten, kaum hör­ba­ren Schrit­ten. Als sie den Chor er­reicht hat­ten, dreh­te sie sich um und sprach mit ei­ner ge­heim­nis­vol­len, kaum hör­ba­ren Stim­me, wie man in der Kir­che zu spre­chen pflegt:

»Es ist bes­ser an der Sei­te; hier kann man zu leicht ge­se­hen wer­den.«

Sie ver­beug­te sich tief vor dem Ta­ber­na­kel des Haupt­al­tars und bog: dann nach rechts ein und ging wie­der in der Rich­tung nach dem Ein­gan­ge zu­rück. Plötz­lich schi­en sie einen Ent­schluss zu fas­sen, nahm einen Bet­stuhl und knie­te nie­der. Ge­or­ges nahm den da­ne­ben­ste­hen­den und so knie­ten sie un­be­weg­lich in der Hal­tung von Be­ten­den.

»Ich dan­ke Ih­nen, dan­ke,« flüs­ter­te er, »ich lie­be Sie über al­les. Ich möch­te Ih­nen das im­mer­fort sa­gen, Ih­nen er­zäh­len, wie bei mir die Lie­be zu Ih­nen be­gon­nen, wie ich beim ers­ten Mal, als ich Sie sah, von Ihrem Reiz und Ih­rer An­mut be­zau­bert wur­de … Wol­len Sie mir ein­mal er­lau­ben, Ih­nen mein gan­zes Herz aus­zu­schüt­ten, Ih­nen all das zu er­klä­ren.«

Sie hör­te zu, an­schei­nend tief in Ge­dan­ken ver­sun­ken, als hät­te sie über­haupt nichts ver­nom­men.

»Ich bin wahn­sin­nig, dass ich Sie so mit mir spre­chen las­se, wahn­sin­nig, dass ich ge­kom­men bin, wahn­sin­nig, dass zu tun, was ich tue; Sie glau­ben zu las­sen, dass die­ses Aben­teu­er ir­gend­ei­ne Fort­set­zung fin­den könn­te. Ver­ges­sen Sie, es muss sein, und spre­chen Sie nie da­von.«

Sie war­te­te. Er such­te nach ei­ner über­zeu­gen­den lei­den­schaft­li­chen Ant­wort, da er je­doch sei­ne Wor­te durch Lieb­ko­sun­gen nicht ver­stär­ken konn­te, fühl­te er sich wie ge­lähmt.

»Ich er­war­te nichts,« fuhr er fort, »ich er­hof­fe nichts. Ich lie­be Sie. Sie kön­nen tun, was Sie wol­len, ich wer­de es Ih­nen im­mer wie­der sa­gen, so lei­den­schaft­lich und so ein­dring­lich, dass Sie schließ­lich dar­an glau­ben wer­den. Ich wer­de mei­ne Lie­be und Zärt­lich­keit in Sie ein­drin­gen las­sen, Wort für Wort, Stun­de für Stun­de, Tag für Tag, bis sie Sie schließ­lich er­grei­fen, Sie mil­de stim­men und zu­letzt auch Sie zu mir sa­gen müs­sen: ›Ich lie­be Sie.’«

Er fühl­te, wie ihre Schul­ter ihn zit­ternd be­rühr­te und wie ihre Brust beb­te, dann flüs­ter­te sie has­tig:

»Auch ich lie­be Sie.«

»O mein Gott!«

Sie fuhr mit be­ben­der Stim­me fort:

»Durf­te ich Ih­nen das sa­gen? Ich füh­le mich schul­dig und ver­ach­tungs­wert … ich … die ich zwei Töch­ter habe … aber ich kann nicht mehr … ich kann nicht … Ich hät­te nie ge­glaubt … ich hät­te nie ge­dacht … es war eben stär­ker als ich … Hö­ren Sie … Hö­ren Sie doch … Ich habe nie je­man­den ge­liebt … nur Sie al­lein … ich schwö­re es Ih­nen, ich lie­be Sie seit ei­nem Jahr heim­lich im In­nern mei­nes Her­zens. Oh, was habe ich ge­lit­ten, ja, was habe ich mit mir kämp­fen müs­sen … Ich kann nicht mehr, ich lie­be Sie.«

Sie wein­te in ihre Hän­de, die sie über ih­rem Ge­sicht ge­fal­tet hat­te; ihr gan­zer Kör­per zit­ter­te, er­schüt­tert von der lei­den­schaft­li­chen Er­re­gung.

Ge­or­ges flüs­ter­te:

»Ge­ben Sie mir Ihre Hand, dass ich sie be­rüh­re, dass ich sie an mich drücke.«

Lang­sam zog sie ihre Hand von ih­rem Ge­sicht. Er sah, dass ihre Wan­gen ganz feucht vom Wei­nen wa­ren. Ein Trop­fen hing noch am Ran­de der Wim­pern, be­reit, her­un­ter zu rol­len.

Er er­griff ihre Hand und press­te sie.

»Oh, ich möch­te die­se Trä­nen küs­sen.«

Sie sprach mit dump­fer und ge­bro­che­ner Stim­me, so­dass es fast wie ein Seuf­zer klang:

»Miss­brau­chen Sie nicht mei­ne Schwä­che … ich habe den Kopf ver­lo­ren.«

Er hat­te Lust, zu lä­cheln. Wie konn­te er sie an die­sem Ort miss­brau­chen. Er press­te ihre Hand an sein Herz und sag­te: »Füh­len Sie es klop­fen?«

Denn er war am Ende sei­ner lei­den­schaft­li­chen Re­dens­ar­ten und er wuss­te nicht mehr, was er sa­gen soll­te.

Doch seit ei­ni­gen Au­gen­bli­cken kam der re­gel­mä­ßi­ge Schritt des di­cken Herrn im­mer nä­her. Er war die Al­tä­re ent­lang ge­gan­gen und kam nun we­nigs­tens schon das zwei­te Mal das rech­te Sei­ten­schiff her­un­ter. Frau Wal­ter hör­te ihn nun ganz nah ne­ben dem Pfei­ler, der sie vor ihm ver­barg, sie zog ihre Hand aus Ge­or­ges Um­klam­me­rung und ver­barg von Neu­em ihr Ge­sicht.

So blie­ben sie wie­der un­be­weg­lich ne­ben­ein­an­der kni­en, als hät­ten sie bei­de ein glü­hen­des Ge­bet zum Him­mel em­por­ge­sandt. Der di­cke Herr ging an ih­nen vor­bei und warf auf sie einen gleich­gül­ti­gen Blick, er ver­schwand nach dem un­te­ren Teil der Kir­che und hielt im­mer noch sei­nen Hut auf dem Rücken.

Du Roy dach­te jetzt dar­an, dass er ir­gend wo­an­ders als in der Tri­nité-Kir­che ein Ren­dez­vous er­hal­ten müss­te.

»Wo wer­de ich Sie mor­gen se­hen?« frag­te er.

Sie ant­wor­te­te nicht. Sie schi­en leb­los; sie schi­en ganz wie ein ver­stei­ner­ter Aus­druck vom Ge­bet.

Er fuhr fort:

»Wol­len Sie, dass wir uns im Parc Mon­ceau tref­fen?«

Sie nahm ihre Hän­de vom Ge­sicht und wand­te es ihm zu, es war trä­nen­über­strömt, bleich und ent­stellt vor Schmerz. Sie sag­te mit ab­ge­ris­se­ner Stim­me:

»Las­sen Sie mich … las­sen Sie mich jetzt … ge­hen Sie … ge­hen Sie fort, nur fünf Mi­nu­ten … ich lei­de so sehr in Ih­rer Nähe … ich hal­te es nicht mehr aus … ge­hen Sie … las­sen Sie mich be­ten … al­lein … fünf Mi­nu­ten. Ich kann nicht … las­sen Sie mich Gott um Ver­ge­bung an­fle­hen … Er soll mir ver­ge­ben … Er soll mich ret­ten … Las­sen Sie mich … fünf Mi­nu­ten lang.«

Der Aus­druck ih­res Ge­sich­tes war der­ma­ßen ver­stört und schmerz­er­füllt, dass er ohne ein Wort zu sa­gen auf­stand; dann ver­setz­te er nach ei­nem kur­z­en Zau­dern:

»Ich kom­me nach ei­ner Wei­le wie­der.«

Sie mach­te mit dem Kopf ein Zei­chen, als woll­te sie sa­gen: »Ja, nach ei­ner Wei­le.« Und er ging zum Chor hin­un­ter.

Nun ver­such­te sie zu be­ten, mit über­mensch­li­cher An­stren­gung woll­te sie Gott an­ru­fen und fleh­te mit zit­tern­dem Kör­per und ver­zwei­fel­ter See­le um Er­bar­men. Sie schloss wü­tend die Au­gen, um ihn nicht zu se­hen, ihn, der sie eben ver­las­sen hat­te. Sie ver­scheuch­te ihn aus ih­ren Ge­dan­ken, sie wehr­te sich ge­gen ihn, doch an Stel­le der himm­li­schen Er­schei­nung, die sie mit schwe­rem Her­zen und ge­bro­che­ner See­le er­fleh­te, kam ihr der ge­kräu­sel­te Schnurr­bart des jun­gen Man­nes nicht aus dem Sin­ne.

Seit ei­nem Jahr kämpf­te sie Tag für Tag und Abend für Abend ge­gen die im­mer zu­neh­men­de Lei­den­schaft, ge­gen die­ses Bild, das sich in ihre Träu­me dräng­te, ihre Sin­ne quäl­te und ihr die Ruhe raub­te. Sie fühl­te sich ge­fan­gen wie ein wil­des Tier in ei­nem Netz, ge­k­ne­belt und wehr­los die­sem Man­ne aus­ge­lie­fert, der sie be­zwun­gen und er­obert hat­te, ein­zig und al­lein durch sei­nen Schnurr­bart und die Far­be sei­ner Au­gen.

Und jetzt in der Kir­che in Got­tes Nähe, fühl­te sie sich noch schwä­cher, noch ver­las­se­ner als bei sich zu Hau­se. Sie konn­te nicht mehr be­ten, sie muss­te im­mer­fort an ihn den­ken. Sie litt be­reits dar­un­ter, dass er fort war, und doch kämpf­te sie ver­zwei­felt. Sie wehr­te sich und rief mit der gan­zen Kraft ih­rer See­le um Hil­fe. Sie wäre lie­ber ge­stor­ben, als so zu fal­len, sie, die sie noch nie einen Fehl­tritt be­gan­gen hat­te. Sie mur­mel­te wir­re, fle­hen­de Ge­be­te, aber sie hör­te nur auf Ge­or­ges Schrit­te, die in den fer­nen Ge­wöl­ben im­mer lei­ser und lei­ser wur­den. Sie be­griff, dass es nun mit ih­rer Kraft zu Ende und dass je­der Wi­der­stand ver­geb­lich sei. — Trotz­dem woll­te sie nicht nach­ge­ben. Sie zit­ter­te am gan­zen Lei­be und fühl­te sich so schwach und zu­sam­men­ge­bro­chen, dass sie gleich um­fal­len, auf dem Bo­den sich her­um­wäl­zen und hef­ti­ge und schril­le Schreie aus­sto­ßen wür­de. Da hör­te sie ra­sche Schrit­te her­an­na­hen. Sie wand­te den Kopf, es war ein Pries­ter. Sie stand auf, lief mit ge­fal­te­ten Hän­den auf ihn zu und stam­mel­te:

»Oh, ret­ten Sie mich! Ret­ten Sie mich!«

Er blieb über­rascht ste­hen:

»Was wün­schen Sie, Ma­da­me?«

»Ich will, dass Sie mich ret­ten; ha­ben Sie Er­bar­men mit mir. Wenn Sie mir nicht zu Hil­fe kom­men, bin ich ver­lo­ren!«

Er sah sie an, und dach­te, ob sie viel­leicht wahn­sin­nig wäre.

»Was kann ich für Sie tun?« frag­te er.

Es war ein jun­ger, hoch­ge­wach­se­ner, et­was di­cker Geist­li­cher, mit vol­len, et­was schlaf­fen Ba­cken, die, trotz­dem sie sau­ber ra­siert wa­ren, einen gräu­li­chen Schim­mer hat­ten; es war ein schö­ner Stadt­vi­kar, aus ei­nem rei­chen Stadt­vier­tel, der an wohl­ha­ben­de Sün­de­rin­nen ge­wöhnt war.

»Hö­ren Sie mei­ne Beich­te,« sag­te sie, »und ge­ben Sie mir einen Rat, hel­fen Sie mir und sa­gen Sie, was ich tun soll.«

»Ich höre die Beich­te alle Sonn­aben­de von drei bis sechs«, er­wi­der­te er.

Aber sie fass­te ihn am Arm und wie­der­hol­te:

»Nein, nein! nein! So­fort, so­fort! Es muss sein! Er ist hier in die­ser Kir­che! Er er­war­tet mich!«

»Wer er­war­tet Sie denn?« frag­te der Pries­ter.

»Ein Mann, der mich ver­der­ben will, der mich ver­füh­ren wird, wenn Sie mich nicht ret­ten … Ich kann nicht mehr vor ihm flie­hen … ich bin zu schwach … so schwach … so schwach …«

Sie warf sich vor ihm auf die Knie und schluchz­te:

»Er­bar­men Sie sich mei­ner, mein Va­ter! Ret­ten Sie mich, im Na­men Got­tes, ret­ten Sie mich!«

Sie hielt ihn an sei­nem schwar­zen Pries­ter­rock fest, da­mit er nicht fort konn­te und er blick­te un­ru­hig nach al­len Sei­ten, ob nicht ir­gend­ein übel­wol­len­des oder zu from­mes Auge die Frau zu sei­nen Fü­ßen se­hen konn­te. Da er schließ­lich ein­sah, dass er sie nicht los wür­de, sag­te er:

»Ste­hen Sie auf, ich habe zum Glück den Schlüs­sel zum Beicht­stuhl bei mir.«

Er wühl­te in sei­ner Ta­sche und zog einen Ring mit ei­ner Men­ge Schlüs­sel dar­an her­aus. Er such­te einen da­von her­aus und ging mit schnel­lem Schritt zu ei­ner klei­nen Holz­hüt­te, in wel­cher die From­men ihre See­len von al­len Sün­den ent­las­ten. Er trat durch die Mit­tel­tür her­ein und schloss hin­ter sich ab, wäh­rend Frau Wal­ter sich in dem schma­len Sei­ten­teil nie­der­warf und lei­den­schaft­lich und in­brüns­tig stam­mel­te:

»Seg­nen Sie mich, mein Va­ter, denn ich habe ge­sün­digt.«

Du Roy hat­te einen Gang um den Chor ge­macht und schritt nun das lin­ke Sei­ten­schiff hin­un­ter. Er war ge­ra­de in der Mit­te, als er dem di­cken, kahl­köp­fi­gen Herrn be­geg­ne­te, der im­mer noch im lang­sa­men, ge­mes­se­nen Schritt auf und ab wan­der­te. »Was mag die­ser Son­der­ling hier zu su­chen ha­ben?« frag­te sich der jun­ge Mann. Auch der Herr hat­te sei­nen Schritt ver­lang­samt und blick­te Ge­or­ge:; an, mit dem sicht­li­chen Wunsch, mit ihm ein Ge­spräch an­zu­fan­gen. Als er ganz nahe war, grüß­te er und frag­te sehr höf­lich:

»Ich bit­te sehr um Ver­zei­hung, aber könn­ten Sie mir viel­leicht sa­gen, wann ist die­se Kir­che er­baut wor­den?«

»Wahr­haf­tig,« ant­wor­te­te Du Roy, »ich weiß das lei­der nicht. Ich glau­be so vor etwa zwan­zig oder fünf­und­zwan­zig Jah­ren. Üb­ri­gens bin ich zum ers­ten Male hier.«

»Ich auch. Ich habe sie noch nie ge­se­hen.«

Nun fuhr der Jour­na­list neu­gie­rig fort:

»Sie schei­nen sie sehr sorg­fäl­tig zu be­sich­tig­ten.«

Der an­de­re er­wi­der­te be­däch­tig:

»Nein, ich be­sich­ti­ge sie gar nicht, ich war­te auf mei­ne Frau, die ich hier tref­fen soll­te, sie hat sich sehr ver­spä­tet.«

Er schwieg und nach ei­ner kur­z­en Pau­se fuhr er fort:

»Es ist furcht­bar heiß drau­ßen.«

Du Roy be­trach­te­te ihn, und fand, dass er recht an­stän­dig aus­sah; plötz­lich kam es ihm vor, dass er eine Ähn­lich­keit mit Fo­res­tier hat­te.

»Sie sind aus der Pro­vinz?« frag­te er.

»Ja, ich kom­me aus Ren­nes. Und Sie, mein Herr, Sie sind wohl aus Neu­gier in die­se Kir­che ge­kom­men?«

»Nein, ich war­te auf eine Frau.«

Der Jour­na­list grüß­te ihn und ging lä­chelnd wei­ter. Er nä­her­te sich dem Haupt­por­tal und sah die­sel­be arme Frau im­mer noch be­ten und kni­en. »O Gott,« dach­te er, »die hat Aus­dau­er im Be­ten.« Er war nicht mehr ge­rührt und emp­fand mit die­ser Ar­men auch kein Mit­leid mehr.

Er ging vor­bei und schritt lang­sam das rech­te Sei­ten­schiff hin­auf, um Frau Wal­ter ab­zu­ho­len.

Von wei­tem späh­te er nach der Stel­le, wo er sie ver­las­sen hat­te und war sehr er­staunt, als er sie nicht mehr sah. Er glaub­te, er hät­te sich in dem Pfei­ler ge­täuscht und ging bis zum letz­ten durch und kehr­te wie­der zu­rück. Also war sie doch fort. Wü­tend und über­rascht blieb er ste­hen. Dann dach­te er, dass sie ihn viel­leicht su­che, und ging noch ein­mal durch die gan­ze Kir­che her­um. Er fand sie nicht und setz­te sich auf den­sel­ben Stuhl, vor dem sie ge­kniet hat­te, in der Hoff­nung, sie käme dort­hin wie­der; er war­te­te.

Bald er­reg­te ein kaum hör­ba­res Mur­meln sei­ne Auf­merk­sam­keit. In die­ser Ecke der Kir­che hat­te er nie­man­den be­merkt. Wo­her kam die­ses lei­se Ge­flüs­ter? Er stand auf, um es her­aus­zu­fin­den und er­blick­te in der nächs­ten Sei­ten­ka­pel­le einen Beicht­stuhl. Der Saum ei­nes Klei­des rag­te aus ihm her­aus. Er trat her­an, um die Frau nä­her zu be­trach­ten. Er er­kann­te sie. Er ver­spür­te ein hef­ti­ges. Ver­lan­gen, sie an den Schul­tern zu pa­cken und aus die­sem Kas­ten her­aus­zu­rei­ßen. Dann aber dach­te er: »Ach was, heu­te ist der Pfaf­fe an der Rei­he und mor­gen ich.« Er setz­te sich ru­hig ge­gen­über den Beicht­stüh­len wie­der hin und war­te­te ab. Und er be­gann, in­ner­lich über das Aben­teu­er zu la­chen.

Er war­te­te lan­ge. End­lich er­hob sich Frau Wal­ter und wand­te sich um. Sie sah ihn an, ging auf ihn zu und sag­te mit erns­tem und stren­gem Ge­sichts­aus­druck: »Mein Herr, ich bit­te, mich nicht zu be­glei­ten, mir nicht zu fol­gen und auch nicht mehr al­lein mich zu be­su­chen. Sie wür­den nicht emp­fan­gen wer­den. Le­ben Sie wohl.«

Dann ging sie in wür­di­ger Hal­tung fort. Er ließ sie ge­hen, denn es war sein Grund­satz, die Din­ge nicht auf die Spit­ze zu trei­ben. Als nun der Pries­ter et­was er­regt aus sei­nem Ver­steck kam, ging er ge­ra­de auf ihn zu, sah ihm scharf ins Auge und knurr­te ihn an:

»Wenn Sie nicht die­sen lan­gen Rock trü­gen, oh, welch hüb­sches Paar Maul­schel­len ich Ih­nen auf Ihre ekel­haf­te Schnau­ze kle­ben wür­de.«

Dann mach­te er kehrt und kam pfei­fend aus der Kir­che her­aus.

Im Por­tal stand der di­cke Herr, den Hut auf dem Kopf, die Hän­de auf dem Rücken. Er schi­en des War­tens müde und späh­te auf den wei­ten Platz und die Stra­ßen, die sich dort kreuz­ten.

Als Du Roy an ihm vor­bei­ging, be­grüß­ten sie sich.

Der Jour­na­list hat­te wei­ter nichts zu tun und so be­gab er sich auf die Re­dak­ti­on der Vie Françai­se. Schon beim Ein­tre­ten sah er an den er­reg­ten Ge­sich­tern der Lauf­bur­schen, dass et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches pas­siert sei und er trat ohne wei­te­res in das Zim­mer des Chefs ein.

Der Va­ter Wal­ter schi­en auf­ge­regt und dik­tier­te ste­hend in ab­ge­hack­ten Sät­zen einen Ar­ti­kel. Zwi­schen den ein­zel­nen Ab­sät­zen er­teil­te er den Re­por­tern, die ihn um­ga­ben, ver­schie­de­ne Auf­trä­ge, gab Bois­renard ei­ni­ge Ver­hal­tungs­maß­re­geln und riss Brie­fe auf.

Als Du Roy her­ein­trat, stieß der Chef einen Freu­den­schrei aus.

»Ah, Gott sei Dank, da ist Bel-Ami!«

Er stock­te et­was ver­le­gen, mit­ten im Satz und ent­schul­dig­te sich.

»Ich bit­te um Ver­zei­hung, dass ich Sie so ge­nannt habe, aber ich bin au­gen­blick­lich et­was auf­ge­regt durch all die­se Ge­schich­ten. Und au­ßer­dem höre ich mei­ne Frau und mei­ne Töch­ter von mor­gens bis abends Sie nur Bel-Ami nen­nen, bis ich mir das schließ­lich selbst an­ge­wöhnt habe. Sie sind mir des­halb nicht etwa böse?«

Ge­or­ges lach­te:

»Aber kei­nes­wegs. Die­ser Beiname hat nichts, was mir miss­fal­len könn­te.«

Va­ter Wal­ter fuhr fort:

»Dann wer­de ich Sie auch Bel-Ami nen­nen, wie es alle Welt tut. Also hö­ren Sie zu: Es sind große Er­eig­nis­se ge­sche­hen. Das Mi­nis­te­ri­um ist bei ei­ner Ab­stim­mung von 310 ge­gen 102 Stim­men ge­stürzt. Un­se­re Fe­ri­en sind nun wie­der ver­scho­ben, ver­tagt ad ca­len­das grae­cas, und wir ha­ben schon den 28. Juli, Spa­ni­en hat sich we­gen Marok­ko auf­ge­regt und dar­über sind Du­rand und sei­ne Freun­de ge­stürzt. Wir sit­zen jetzt bis zum Hals im Dreck. Mar­rot hat den Auf­trag er­hal­ten, ein neu­es Ka­bi­nett zu bil­den. Zum Kriegs­mi­nis­ter nimmt er den Ge­ne­ral Bou­ton d’Ac­te und zum Aus­wär­ti­gen un­se­ren Freund Lar­oche-Ma­thieu. Er selbst be­hält das Por­te­feuil­le des In­ne­ren und den Vor­sitz im Mi­nis­ter­rat. Wir wer­den ein Re­gie­rungs­blatt wer­den. Ich dik­tie­re eben den Leit­ar­ti­kel, eine schlich­te Er­klä­rung un­se­rer po­li­ti­schen Grund­sät­ze, das den neu­en Mi­nis­tern die nö­ti­ge Di­rek­ti­ve ge­ben soll.«

Der bra­ve Mann lä­chel­te und fuhr fort:

»Na­tür­lich müs­sen es auch die Grund­sät­ze sein, de­nen sie auch zu fol­gen ge­den­ken. Aber ich brau­che nun ir­gen­det­was In­ter­essan­tes, einen ak­tu­el­len Sen­sa­ti­ons­ar­ti­kel über die ma­rok­ka­ni­sche Fra­ge. Ich weiß nicht ge­nau was. Könn­ten Sie mir so et­was ver­schaf­fen?«

Du Roy dach­te eine Se­kun­de nach, dann ant­wor­te­te er:

»Ich habe das, was Sie su­chen. Ich gebe Ih­nen einen aus­führ­li­chen Be­richt über die Lage un­se­rer sämt­li­chen afri­ka­ni­schen Ko­lo­ni­en, links Tu­nis, Al­gier in der Mit­te und rechts Marok­ko. Ich er­zäh­le über die Völ­ker­stäm­me, die die­se wei­ten Ge­bie­te be­woh­nen und schil­de­re eine Ent­de­ckungs­rei­se über die ma­rok­ka­ni­sche Gren­ze bis an die große Oase Fi­gu­ig, die bis jetzt kein Eu­ro­pä­er be­tre­ten hat, und die die ei­gent­li­che Ur­sa­che des ge­gen­wär­ti­gen Kon­flik­tes ist. Ist das Ih­nen so recht?«

»Aus­ge­zeich­net«, rief Va­ter Wal­ter aus. »Und der Ti­tel?«

»Von Tu­nis bis Tan­ger.«

»Wun­der­bar!«

Und Du Roy such­te nun in den al­ten Num­mern der Vie Françai­se sei­nen ers­ten Ar­ti­kel, die Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­gers, her­aus. Nun konn­te er um­ge­tauft, um­ge­ar­bei­tet und an­ders auf­ge­setzt, von An­fang bis zu Ende vor­treff­lich aus­ge­wer­tet wer­den, denn es war dar­in die Rede von der Ko­lo­ni­al­po­li­tik, von der Be­völ­ke­rung Al­giers und von ei­ner Rei­se in die Pro­vinz Oran.

In drei­vier­tel Stun­den wur­de der Ar­ti­kel um­ge­mo­delt, zu­recht­ge­macht, auf die ak­tu­el­len Fra­gen zu­ge­spitzt und mit den nö­ti­gen Schmei­che­lei­en für das neue Mi­nis­te­ri­um ver­se­hen.

Der Di­rek­tor las den Ar­ti­kel und er­klär­te:

»Groß­ar­tig … wun­der­voll … vor­züg­lich! Sie sind ein kost­ba­rer Mann. Mein auf­rich­ti­ges Kom­pli­ment!«

Als Du Roy zum Es­sen nach Hau­se kam, war er, trotz sei­nes Mis­ser­fol­ges in der Tri­nitékir­che, doch mit sei­nem Tage sehr zu­frie­den. Er fühl­te üb­ri­gens, dass er auch die­sen Kampf ge­won­nen hat­te.

Sei­ne Frau er­war­te­te ihn in fie­ber­haf­ter Auf­re­gung, und als sie ihn er­blick­te, rief sie ihm so­fort ent­ge­gen:

»Weißt du, dass Lar­oche-Ma­thieu Mi­nis­ter des Aus­wär­ti­gen ist?«

»Ja­wohl, ich habe des­halb so­gar einen Ar­ti­kel über Al­gier ge­schrie­ben.«

»Was denn?«

»Du kennst ihn doch; den ers­ten, den wir zu­sam­men ge­schrie­ben ha­ben: ›Die Erin­ne­run­gen des afri­ka­ni­schen Jä­ger­s’, um­ge­ar­bei­tet und zu­recht­ge­macht, ent­spre­chend der heu­ti­gen Lage.«

Sie lä­chel­te.

»Ach ja, der passt sehr gut.««

Nach ei­nem kur­z­en Nach­sin­nen setz­te sie hin­zu:

»Ich den­ke über die Fort­set­zung nach, die du doch da­mals schrei­ben soll­test und die du so … hast lie­gen las­sen. Wir könn­ten uns ei­gent­lich jetzt gleich dar­an­ma­chen, das wür­de eine hüb­sche und sehr ak­tu­el­le Ar­ti­kel­se­rie ge­ben.«

Er ant­wor­te­te, in­dem er sich vor die Sup­pe hin­setz­te:

»Vor­treff­lich, uns steht jetzt nichts mehr im Wege, da doch der arme be­tro­ge­ne Ehe­mann Fo­res­tier tot ist.«

Sie er­wi­der­te in ei­nem har­ten be­lei­dig­ten Ton:

»Die­se Art Wit­ze sind mehr als un­pas­send, und ich möch­te dich bit­ten, da­mit end­lich Schluss zu ma­chen. Ich habe es lan­ge ge­nug an­ge­hört.«

Er war ge­ra­de im Be­griff, mit ei­ner iro­ni­schen Be­mer­kung zu ant­wor­ten, als man ihm ein Te­le­gramm, brach­te, das ohne Un­ter­schrift nur die Wor­te ent­hielt: »Ich habe den Kopf ver­lo­ren, ver­zei­hen Sie mir und kom­men Sie mor­gen um vier Uhr nach dem Park Mon­ceau.« Nun ver­stand er die Sa­che. Er war freu­dig er­regt und sag­te zu sei­ner Frau, in­dem er das blaue Pa­pier­chen in die Ta­sche glei­ten ließ:

»Ich wer­de es nicht mehr tun, mein Lieb­ling, es war dumm, ich sehe es ein.«

Und er be­gann zu es­sen.

Wäh­rend der Mahl­zeit wie­der­hol­te er sich im­mer­fort die Wor­te: »Ich habe den Kopf ver­lo­ren. Ver­zei­hen Sie mir und kom­men Sie mor­gen um vier Uhr nach dem Park Mon­ceau.« Also sie gab nach, das hießt mit an­de­ren Wor­ten: »Ich er­ge­be mich. Ich ge­hö­re Ih­nen. Wo und wann Sie wol­len.«

Er be­gann zu la­chen. Ma­de­lei­ne frag­te:

»Was hast du?«

»Nichts Be­son­de­res, ich dach­te an einen Pfaf­fen, den ich vor­her ge­trof­fen hat­te und der eine so ko­mi­sche Frat­ze hat­te.«

Du Roy er­schi­en tags dar­auf pünkt­lich zu sei­nem Ren­dez­vous. Auf den Bän­ken sa­ßen Bür­ger, die von der Hit­ze er­schöpft wa­ren. Ein paar stumpf­sin­ni­ge Kin­der­mäd­chen schlum­mer­ten, wäh­rend die Kin­der im San­de spiel­ten und sich her­um­wälz­ten.

Er traf Frau Wal­ter in der klei­nen al­ten Rui­ne, wo eine Quel­le spru­del­te. Sie ging um den en­gen Säu­len­kreis her­um, mit ei­nem ver­le­ge­nen und un­ru­hi­gen Aus­druck. Er be­grüß­te sie, und sie sag­te:

»Es sind so vie­le Men­schen hier in die­sem Gar­ten.«

Er be­nutz­te die Ge­le­gen­heit.

»Ja, das ist wahr, sol­len wir nicht wo an­ders hin­ge­hen?«

»Aber wo­hin?«

»Das ist egal, neh­men wir eine Drosch­ke zum Bei­spiel. Sie kön­nen den Vor­hang an Ih­rer Sei­te run­ter­las­sen und dann sind Sie ganz in Si­cher­heit.«

»Ja, das ist mir lie­ber; hier st­er­be ich vor Angst.«

»Gut, dann tref­fen wir uns in fünf Mi­nu­ten. Ich er­war­te Sie mit ei­ner Drosch­ke vor dem Tor, das auf den äu­ße­ren Bou­le­vard führt.«

Er ging mit schnel­len Schrit­ten da­von.

Als sie im Wa­gen zu­sam­mensa­ßen, frag­te sie ihn:

»Was ha­ben Sie dem Kut­scher ge­sagt? Wo­hin fah­ren wir?«

»Ma­chen Sie sich kei­ne Sor­gen,« ant­wor­te­te Ge­or­ges, »er weiß Be­scheid.«

Er hat­te ihm die Adres­se sei­ner Woh­nung in Rue Con­stan­ti­no­ple ge­ge­ben.

»Sie ah­nen nicht,« fuhr sie fort, »wie ich lei­de und wie ich mich quä­le, al­les um Ihret­wil­len! Ich war hart ges­tern in der Kir­che, aber ich woll­te Sie flie­hen um je­den Preis. Ich fürch­te mich, mit Ih­nen al­lein zu sein. Ha­ben Sie mir ver­zie­hen?«

Er drück­te ihr die Hän­de.

»Ja, ja, was wür­de ich Ih­nen nicht ver­zei­hen, ich, der Sie so liebt!«

Sie sah ihn fle­hend an:

»Hö­ren Sie, Sie müs­sen mir ver­spre­chen, mich zu scho­nen, dass Sie …, dass Sie nicht … sonst könn­te ich Sie nie wie­der­se­hen.«

Er ant­wor­te­te zu­erst gar nichts; er lä­chel­te un­ter sei­nem Schnurr­bart, mit ei­nem Lä­cheln, das die Frau­en ver­wirr­te … Dann sag­te er sehr lei­se :

»Ich bin Ihr Skla­ve.«

Und nun er­zähl­te sie ihm, wie sie ihn lieb­te, wie sie das be­merkt hat­te, als er Ma­de­lei­ne Fo­res­tier hei­ra­ten woll­te. Sie sprach von Ein­zel­hei­ten, von den klei­nen Tat­sa­chen. Plötz­lich schwieg sie. Der Wa­gen hielt und Du Roy öff­ne­te die Tür.

»Wo sind wir?« frag­te sie.

»Stei­gen Sie aus,« er­wi­der­te er, »und ge­hen Sie in dies Haus; dort wer­den wir es be­que­mer ha­ben.«

»Wo sind wir denn ei­gent­lich?«

»Bei mir. Es ist mei­ne Jung­ge­sel­len­woh­nung, die ich ge­nom­men habe … für ei­ni­ge Tage … um die Mög­lich­keit zu ha­ben, Sie zu se­hen.«

Sie klam­mer­te sich an das Pols­ter des Wa­gens fest und stam­mel­te:

»Nein, nein, ich will nicht! Ich will es nicht!«

»Ich schwö­re Ih­nen, Sie zu scho­nen«, sag­te er mit ener­gi­scher Stim­me. »Kom­men Sie, Sie se­hen doch, dass wir be­ob­ach­tet wer­den, die Men­schen wer­den sich an­sam­meln. Kom­men Sie, stei­gen Sie aus.«

Und er wie­der­hol­te:

»Ich schwö­re Ih­nen, dass ich Ih­nen nichts an­tun wer­de!«

Ein Wein­händ­ler sah sie neu­gie­rig an. Sie wur­de von Schreck er­grif­fen und eil­te ins Haus.

Sie woll­te die Trep­pe hin­auf­stei­gen, aber er hielt sie zu­rück:

»Hier im Erd­ge­schoss«, sag­te er.

So­bald sie im Zim­mer wa­ren, er­griff er sie wie eine Beu­te. Sie wehr­te sich, kämpf­te, stam­mel­te: »Oh, mein Gott! Oh, — — mein Gott!« — — —

Er küss­te ihr die Au­gen, die Haa­re, den Mund, den Hals; sie ver­such­te sei­nen Küs­sen zu ent­wei­chen und trotz­dem er­wi­der­te sie sei­ne Küs­se wi­der Wil­len. Plötz­lich hör­te sie auf zu kämp­fen; sie war be­siegt und ließ sich von ihm ent­klei­den. Schnell und ge­schickt wie eine ge­üb­te Kam­mer­zo­fe zog er ihr eins nach dem an­de­ren ih­rer Klei­dungs­stücke aus.

Das Kor­sett riss sie ihm aus den Hän­den her­aus, um ihr Ge­sicht dar­in zu ver­ber­gen, und nun stand sie el­fen­bein­nackt in­mit­ten ih­rer Hül­len, die ihr zu Fü­ßen ge­fal­len wa­ren. Er ließ ihr die Schu­he an und trug sie auf den Ar­men aufs Bett. Da stam­mel­te sie ihm mit ge­bro­che­ner Stim­me ins Ohr:

»Ich schwö­re Ih­nen, … ich schwö­re Ih­nen, ich habe noch nie einen Ge­lieb­ten ge­habt.«

Wie ein jun­ges Mäd­chen, das ge­sagt hat­te: »Ich schwö­re Ih­nen, dass ich noch eine Jung­frau bin.«

Er dach­te: »Das ist mir wirk­lich ganz gleich­gül­tig.«

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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