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VII.

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Fo­res­tiers Ab­we­sen­heit mach­te die Stel­lung Du­roys in der Re­dak­ti­on der Vie Françai­se noch ein­fluss­rei­cher. Au­ßer den Lo­kal­be­rich­ten un­ter­zeich­ne­te er auch meh­re­re Leit­ar­ti­kel, denn der Chef ver­lang­te, dass ein je­der die Verant­wor­tung für sei­ne Auf­sät­ze selbst trü­ge. Er hat­te hin und wie­der klei­ne Zei­tungs­feh­den, die er stets geist­reich und ge­schickt durch­focht, und sei­ne fort­wäh­ren­den Be­zie­hun­gen zu Staats­män­nern be­rei­te­ten ihn all­mäh­lich dar­auf vor, ein ge­wand­ter und scharf­bli­cken­der Re­dak­teur zu wer­den.

Er sah nur einen dunklen Punkt an sei­nem Ho­ri­zont. Er kam von ei­nem klei­nen, op­po­si­tio­nel­len Blatt, das sich »Die Fe­der« nann­te. Die Zei­tung, die ihn oder viel­mehr in ihm den Nach­rich­ten­re­dak­teur der Vie Françai­se be­stän­dig an­griff, nann­te ihn den Über­ra­schungs­chef des Herrn Wal­ter und ver­öf­fent­lich­te täg­lich Nie­der­träch­tig­kei­ten, bos­haf­te Be­mer­kun­gen und Ver­leum­dun­gen al­ler Art ge­gen ihn.

Ei­nes Ta­ges sag­te Jaques Ri­val zu Du­roy:

»Sie las­sen sich viel ge­fal­len.«

»Was wol­len Sie,« stam­mel­te der an­de­re, »es sind kei­ne di­rek­ten An­grif­fe.«

Als er ei­nes Nach­mit­tags den Re­dak­ti­ons­saal be­trat, hielt ihm Bois­renard die letz­te Num­mer der »Fe­der« hin.

»Le­sen Sie! Es steht schon wie­der eine un­an­ge­neh­me Be­mer­kung ge­gen Sie dar­in.«

»Wor­über denn?«

»Nichts von Be­deu­tung, über die Ver­haf­tung ei­ner Frau Au­bert durch einen Agen­ten der Sit­ten­po­li­zei.«

Ge­or­ges Du­roy nahm die Zei­tung und las einen Ar­ti­kel mit der Über­schrift: »Du­roy amü­siert sich.«

»Der pro­mi­nen­te Re­por­ter der Vie Françai­se teilt heu­te der Welt mit, dass die Frau Au­bert, de­ren Ver­haf­tung durch einen Be­am­ten der ver­hass­ten Sit­ten­po­li­zei wir ges­tern mel­de­ten, nur in un­se­rer Ein­bil­dung exis­tie­re. Nun wohnt aber die be­tref­fen­de Per­son am Mont­mar­tre 18 Rue d’E­cu­reuil. Wir ver­ste­hen üb­ri­gens voll­kom­men, wel­che Vor­tei­le die Agen­ten der ›Wal­ter­bank‹ dar­an ha­ben kön­nen, die In­ter­es­sen des Po­li­zei­prä­fek­ten, der ihre Ge­schäf­te be­güns­tigt, in Schutz zu neh­men. Was aber den be­tref­fen­den Re­por­ter an­geht, so soll er uns lie­ber mit­tei­len, wo­her er alle sei­ne wun­der­ba­ren Sen­sa­ti­ons­nach­rich­ten be­zieht: To­des­nach­rich­ten, die am nächs­ten Tage de­men­tiert wer­den, Be­rich­te über Schlach­ten, die nicht statt­ge­fun­den ha­ben, oder ein Te­le­gramm über die be­deut­sa­me An­spra­che ir­gend­ei­nes Mon­ar­chen, der über­haupt gar nicht ge­spro­chen hat, kurz, alle die Mit­tei­lun­gen, die so frucht­brin­gend für das Wal­ter­sche Ge­schäft sind. Oder auch ein paar klei­ne In­dis­kre­tio­nen über eine Soirée bei ei­ner viel­ge­nann­ten Dame oder schließ­lich die Lo­b­re­den auf ge­wis­se neue Pro­duk­te, wel­che für ei­ni­ge un­se­rer Kol­le­gen eine so er­gie­bi­ge Ein­nah­me­quel­le bil­den.«

Der jun­ge Mann war be­stürzt und sprach­los; er ver­stand nur, dass et­was für ihn sehr Un­an­ge­neh­mes in dem Ar­ti­kel stand.

Bois­renard fuhr fort:

»Wer hat Ih­nen die­se Nach­richt ge­bracht?«

Du­roy dach­te nach, konn­te sich aber nicht gleich ent­sin­nen. Dann fiel es ihm plötz­lich ein:

»Ja … es war Saint-Po­tin.«

Da­rauf las er den Ab­satz der »Fe­der« noch­mals und wur­de plötz­lich feu­er­rot und em­pört über den Vor­wurf der Be­stech­lich­keit.

»Was,« rief er aus, »man be­haup­tet, ich wür­de be­zahlt für …«

Bois­renard un­ter­brach ihn:

»Ja, Gott, es ist sehr un­an­ge­nehm für Sie, denn Sie wis­sen, der Chef ist in sol­chen Sa­chen sehr pein­lich. So et­was könn­te sich sonst wie­der­ho­len …«

Saint-Po­tin trat ge­ra­de her­ein; Du­roy eil­te ihm ent­ge­gen:

»Ha­ben Sie den Ar­ti­kel in der Fe­der ge­le­sen?«

»Ja­wohl, und ich kom­me eben von der Frau Au­bert. Sie exis­tiert tat­säch­lich, ist aber nie ver­haf­tet wor­den. Dies Gerücht ist gänz­lich un­be­grün­det.«

Du­roy ging nun­mehr zum Chef, der ihn et­was kühl und miss­trau­isch emp­fing. Herr Wal­ter hör­te sich den Fall an und sag­te:

»Ge­hen Sie selbst zu der Frau hin und de­men­tie­ren Sie es in ei­ner Wei­se, dass man nicht wie­der so et­was über Sie schreibt; ich mei­ne die Fol­gen; sie kön­nen sehr pein­lich sein für die Zei­tung, für mich und auch für Sie. Mehr noch als das Weib Cäsars muss der Jour­na­list über je­den Ver­dacht er­ha­ben sein.«

Du­roy stieg mit Saint-Po­tin in eine Drosch­ke und rief dem Kut­scher zu:

»18 Rue de l’E­cu­reuil am Mont­mar­tre.«

Es war ein rie­si­ges Miets­haus, in dem sie sechs Stock­wer­ke hin­auf­klet­tern muss­ten. Eine alte Frau in ei­ner wol­le­nen Ja­cke öff­ne­te ih­nen die Tür:

»Was wol­len Sie denn wie­der von mir?« frag­te sie, als sie Saint-Po­tin er­blick­te.

Er er­wi­der­te:

»Der Herr hier ist Po­li­zei­in­spek­tor und möch­te gern Nä­he­res über Ihre An­ge­le­gen­heit er­fah­ren.«

Sie ließ sie her­ein­tre­ten und er­zähl­te:

»Es wa­ren seit­dem noch zwei Her­ren von ei­ner Zei­tung hier, ich weiß aber nicht von wel­cher.«

Dann wand­te sie sich zu Du­roy:

»Also der Herr wünscht es zu wis­sen?«

»Ist es wahr, dass Sie von ei­nem Agen­ten, der Sit­ten­po­li­zei fest­ge­nom­men wur­den?« frag­te Du­roy.

Sie warf die Hän­de hoch:

»Nie im Le­ben, mein lie­ber Herr, nie im Le­ben! So lag die Sa­che: Ich habe einen Schläch­ter, er ist ein ganz gu­ter Schläch­ter, aber er wiegt die Ware nicht rich­tig ab. Ich habe es meh­re­re Male be­merkt, doch nichts ge­sagt, aber neu­lich las­se ich mir zwei Pfund Ko­te­letts ge­ben, weil näm­lich mei­ne Toch­ter und Schwie­ger­sohn zum Es­sen kom­men woll­ten, und da seh ich, wie er mir eine Men­ge Kno­chen­ab­fäl­le zu­wiegt. Es wa­ren zwar Ko­te­lett­kno­chen, aber nicht von mei­nen Ko­te­let­ten. Ich hät­te ja ein Ra­gout dar­aus ma­chen kön­nen, das ist wahr. Aber wenn ich Ko­te­letts ver­lan­ge, so will ich nicht die Kno­chen­ab­fäl­le der an­de­ren ha­ben. Ich will sie also nicht neh­men, und da schimpft er auf mich: ›Al­te Rat­te‹, sagt er; und ich ant­wor­te ihm: ›Al­ter Gau­ner.‹ Kurz, ein Wort gab das an­de­re und wir ha­ben uns so be­schimpft, dass bald etwa hun­dert Per­so­nen vor dem La­den stan­den, die lach­ten und lach­ten im­mer­fort. End­lich kam ein Po­li­zei­be­am­ter und führ­te uns bei­de zum Re­vier, da­mit wir uns vor dem Kom­missar ver­ant­wor­ten soll­ten. Wir gin­gen hin und wur­den bald ent­las­sen, ohne uns je­doch mit­ein­an­der aus­zu­söh­nen. Jetzt kau­fe ich mein Fleisch wo an­ders und gehe auch nicht mal an der Tür vor­bei, da­mit es nicht wie­der Krach gibt.«

Sie schwieg und Du­roy frag­te:

»Ist das al­les?«

»Das ist die gan­ze Wahr­heit, mein gu­ter Herr.«

Die Alte bot ihm ein Glas Jo­han­nis­beer­wein an, das er je­doch dan­kend ab­lehn­te, und ver­lang­te, dass das Fal­schwie­gen des Schläch­ters in dem Be­richt er­wähnt wur­de. Sie kehr­ten auf die Re­dak­ti­on zu­rück, und Du­roy schrieb fol­gen­de Er­wi­de­rung:

»Ein an­ony­mer Schmie­rer aus der Fe­der scheint mit mir Streit zu su­chen we­gen ei­ner al­ten Frau, die nach sei­ner Be­haup­tung von ei­nem Agen­ten der Sit­ten­po­li­zei ver­haf­tet wor­den ist. Ich be­strei­te das. Ich war per­sön­lich bei die­ser Frau Au­bert, die min­des­tens sech­zig Jah­re alt ist. Sie hat mir selbst ge­nau über ih­ren Streit mit dem Schläch­ter, der ihr die Ko­te­letts an­geb­lich falsch ge­wo­gen hät­te, er­zählt, wor­auf bei­de vor den Po­li­zei­kom­missar ge­führt wur­den.

Das ist die gan­ze Wahr­heit.

Was die üb­ri­gen Ver­däch­ti­gun­gen des Re­dak­teurs der Fe­der an­geht, so über­ge­he ich sie mit tiefs­ter Ver­ach­tung. Man ant­wor­tet grund­sätz­lich nicht auf sol­che Din­ge, wenn sie an­onym sind.

Ge­or­ges Du­roy.«

Herr Wal­ter und Jaques Ri­val, die so­eben er­schie­nen, fan­den bei­de die No­tiz voll­kom­men aus­rei­chend, und es wur­de be­schlos­sen, dass sie am sel­ben Tage an den Schluss der Lo­kal­nach­rich­ten ge­setzt wür­de.

Du­roy ging früh­zei­tig nach Hau­se, er war er­regt und un­ru­hig. Was wür­de der an­de­re ant­wor­ten? Wer konn­te es sein? Wozu die­ser scham­lo­se An­griff? Bei der rück­sichts­lo­sen Art der Jour­na­lis­ten konn­ten aus die­ser dum­men Ge­schich­te böse, sehr böse Fol­gen ent­ste­hen. Er schlief schlecht. Als er am nächs­ten Mor­gen die No­tiz in der Zei­tung las, fand er sie ge­druckt viel her­aus­for­dern­der und ag­gres­si­ver als im Ma­nu­skript. Er hät­te, so schi­en es ihm, ge­wis­se Aus­drücke mä­ßi­gen kön­nen.

Den gan­zen Tag über war er wie im Fie­ber und schlief auch die fol­gen­de Nacht schlecht.

Er stand beim Mor­gen­grau­en auf, um sich die Num­mer der Fe­der zu kau­fen, die die Ant­wort auf sei­ne Ent­geg­nung brin­gen soll­te.

Es war wie­der käl­ter ge­wor­den; es fror. Das Was­ser in den Rinn­stei­nen war ge­fro­ren, es schi­en aber, als flie­ße es und bil­de­te um die Bür­ger­stei­ge Eis­bän­de.

Die Zei­tun­gen wa­ren bei den Händ­lern noch nicht zu ha­ben, und Du­roy ent­sann sich je­nes Ta­ges, als zum ers­ten Male sei­ne »Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­gers« er­schie­nen wa­ren. Hän­de, Füße und na­ment­lich die Fin­ger­spit­zen schmerz­ten ihn vor Käl­te und er be­gann im Krei­se um den Kiosk her­um­zu­lau­fen, in dem die Ver­käu­fe­rin über ih­ren klei­nen Ofen ge­bückt saß, so­dass nichts wei­ter zu se­hen war als die Na­sen­spit­ze und ein paar rote Ba­cken un­ter ei­ner wol­le­nen Ka­pu­ze.

End­lich schob der Zei­tungs­trä­ger den di­cken Bal­len durch die Öff­nung und Du­roy er­hielt so­fort sei­ne Fe­der.

Mit ra­schen Bli­cken such­te er zu­nächst sei­nen Na­men, fand aber an­fangs nichts. Schon woll­te er er­leich­tert auf­at­men, da sah er eine No­tiz zwi­schen zwei fet­ten Stri­chen:

»Herr Du­roy von der Vie Françai­se will uns be­rich­ti­gen und lügt da­bei selbst. Er gibt we­nigs­tens zu, dass eine Frau Au­bert tat­säch­lich exis­tiert und dass ein Be­am­ter sie zum Po­li­zei­re­vier ge­bracht hat. Er braucht hin­ter dem Wort ›Be­am­ter‹ noch die zwei Wor­te ›der Sit­ten­po­li­zei‹ hin­zu­zu­fü­gen und die Sa­che ist rich­tig. Aber lei­der ist es mit der Ehr­lich­keit ei­ni­ger Jour­na­lis­ten ge­ra­de so weit her wie mit ih­rem Ta­lent. Hier­mit zeich­ne ich:

Louis Lan­gre­mont.«

Ge­or­ges Herz klopf­te hef­tig, und er ging nach Hau­se, um sich um­zu­zie­hen, ohne recht zu ver­ste­hen, was er ei­gent­lich tat. Also, man hat­te ihn be­schimpft, und zwar der­art, dass es kein Zu­rück mehr gab. Und warum? We­gen nichts. We­gen ei­ner al­ten Frau, die sich mit ih­rem Schläch­ter ge­zankt hat­te. Er zog sich rasch an und be­gab sich so­fort zu Herrn Wal­ter, ob­gleich es kaum acht Uhr war. Herr Wal­ter war schon auf und las die Fe­der.

»Nun ja«, sag­te er mit ei­nem erns­ten Ge­sicht, als er Du­roy er­blick­te. »Sie kön­nen nicht mehr zu­rück.«

Der jun­ge Mann er­wi­der­te nichts, und der Chef fuhr fort:

»Su­chen Sie so­fort Ri­val auf, er wird Ihre In­ter­es­sen ver­tre­ten.«

Du­roy mur­mel­te ein paar un­ver­ständ­li­che Wor­te und ging di­rekt zu Jaques Ri­val, der noch schlief.

Als es klin­gel­te, sprang er aus dem Bett und las schnell die No­tiz.

»Ver­dammt,« rief er, »da müs­sen wir ran. Wen wer­den Sie als zwei­ten Se­kun­dan­ten wäh­len?«

»Ich weiß das wirk­lich nicht!«

»Bois­renard? — Was mei­nen Sie?«

»Gut, Bois­renard.«

»Sind Sie ein gu­ter Fech­ter?«

»Gar nicht!«

»Ver­flucht! Und wie steht es mit dem Pis­to­len­schie­ßen?«

»Schie­ßen kann ich et­was.«

»Gut. Sie wer­den sich üben, wäh­rend ich mich mit al­lem wei­te­ren be­fas­se. War­ten Sie eine Mi­nu­te.«

Er ging in sein An­klei­de­zim­mer und kam bald ge­wa­schen, ra­siert und in ele­gan­ter Toi­let­te zu­rück. »Kom­men Sie mit!« sag­te er.

Er wohn­te im Erd­ge­schoss ei­nes klei­nen Hau­ses und führ­te Du­roy in den Kel­ler hin­ab, einen rie­si­gen Kel­ler, der in einen Fecht- und Schieß­platz um­ge­wan­delt war. Sämt­li­che Öff­nun­gen nach der Stra­ße hat­te er ver­stop­fen las­sen. Er zün­de­te eine Rei­he Gas­flam­men an, die bis zum Ende des zwei­ten Kel­lers reich­ten. Im Hin­ter­grun­de stand eine ei­ser­ne, blau und rot an­ge­mal­te Fi­gu­ren­schei­be ei­nes Man­nes. Dann leg­te er zwei Pis­to­len nach dem neues­ten Hin­ter­la­der­sys­tem auf den Tisch und be­gann mit kur­z­er, schar­fer Stim­me zu kom­man­die­ren wie auf dem Kampf­platz:

»Fer­tig?

Feu­er — eins — zwei — drei!«

Du­roy ge­horch­te wil­len­los; er hob den Arm, ziel­te, schoss, und da er die Pup­pe mehr­mals in den Bauch traf, denn er hat­te in sei­ner Kind­heit oft mit ei­ner al­ten Sat­tel­pis­to­le sei­nes Va­ters auf die Spat­zen im Hof ge­schos­sen, so er­klär­te Jaques Ri­val be­frie­digt:

»Gut — sehr gut — sehr gut — es wird ge­hen. Schie­ßen Sie so bis Mit­tag. Hier lie­gen Pa­tro­nen. Ha­ben Sie kei­ne Angst, sie zu ver­brau­chen. Ich hole Sie zum Früh­stück ab und tei­le Ih­nen al­les Nä­he­re mit.«

Und er ver­schwand.

Du­roy blieb al­lein; er schoss noch ein paar­mal, dann setz­te er sich hin und be­gann nach­zu­den­ken. Wie tö­richt war doch die gan­ze Ge­schich­te. Was be­wies ein Duell? War ein Schuft kein Schuft mehr, wenn er sich ge­schla­gen hat­te? Was hat­te ein be­lei­dig­ter Ehren­mann da­von, sein Le­ben ge­gen einen Gau­ner aufs Spiel zu set­zen? Sei­ne Ge­dan­ken schweif­ten im Dun­keln her­um, und er dach­te dar­an, was Nor­bert de Va­ren­ne ihm von der Geis­te­s­ar­mut der Men­schen, von der Be­schränkt­heit ih­res Ge­sichts­krei­ses und von ih­rer tö­rich­ten Kin­der­mo­ral ge­sagt hat­te.

Und er sag­te ganz laut: »Wahr­haf­tig, er hat­te recht.«

Dann ver­spür­te er Durst; er hör­te hin­ter sich Was­ser trop­fen, er­blick­te einen Dusch­ap­pa­rat und ging hin, um aus der hoh­len Hand zu trin­ken. Dann ver­fiel er wie­der in Ge­dan­ken. Es war so trü­be hier im Kel­ler, so düs­ter und trau­rig wie in ei­nem Grab, und das fer­ne, dump­fe Rol­len der Wa­gen hör­te sich an wie das Na­hen ei­nes Stur­mes. Wie spät moch­te es sein? Die Stun­den ver­stri­chen hier un­ten, wie sie in ei­nem Ge­fäng­nis ver­strei­chen muss­ten, ohne dass ir­gend­ein an­de­res Zei­chen ih­ren Wech­sel an­kün­det, au­ßer dem Er­schei­nen des Ker­ker­meis­ters, der das Es­sen bringt. Und so war­te­te er sehr lan­ge.

Plötz­lich hör­te er Stim­men und Schrit­te und Jaques Ri­val er­schi­en in Beglei­tung von Bois­renard. So­bald er Du­roy er­blick­te, rief er:

»Al­les in Ord­nung.«

Du­roy glaub­te zu­nächst, die An­ge­le­gen­heit sei durch einen Ent­schul­di­gungs­brief bei­ge­legt; er at­me­te er­leich­tert auf und stam­mel­te:

»Ah … ich dan­ke Ih­nen.«

Ri­val fuhr fort:

»Der Lan­gre­mont scheint einen di­cken Kopf zu ha­ben, er hat alle un­se­re Be­din­gun­gen an­ge­nom­men. Fün­f­und­zwan­zig Schritt, ein­ma­li­ger Ku­gel­wech­sel mit Auf­he­ben der Pis­to­le. Man hat dann viel mehr Si­cher­heit im Arm als beim Sen­ken der Waf­fe. Ge­ben Sie acht, Bois­renard, was ich Ih­nen ge­sagt habe.«

Er er­griff eine Pis­to­le und schoss, wäh­rend er dem an­de­ren aus­ein­an­der­setz­te, um wie viel si­che­rer man zie­len konn­te, wenn man die Pis­to­le hob. Dann sag­te er:

»Jetzt wol­len wir früh­stücken ge­hen, es ist zwölf Uhr schon vor­über.«

Und sie gin­gen in ein be­nach­bar­tes Re­stau­rant. Du­roy war ganz still ge­wor­den. Er zwang sich zu es­sen, da­mit es nicht aus­se­hen soll­te, als ob er Angst hät­te; dann ging er mit Bois­renard im Lau­fe des Ta­ges in die Re­dak­ti­on und tat zer­streut und me­cha­nisch sei­ne Ar­beit; alle fan­den ihn sehr mu­tig. Spät am Nach­mit­tag kam Jaques Ri­val zu ihm, und sie ver­ab­re­de­ten, dass Du­roy von sei­nen Se­kun­dan­ten am nächs­ten Mor­gen um sie­ben Uhr ab­ge­holt wer­den soll­te, um nach Bois du Vé­si­net zu fah­ren, wo das Duell statt­fin­den soll­te.

Das war al­les so un­er­war­tet ge­kom­men, so ganz ohne sei­ne Teil­nah­me, ohne dass er ein Wort ge­spro­chen hat­te, ohne dass er sei­ne Mei­nung äu­ßer­te, ohne dass er et­was an­neh­men oder ver­wei­gern konn­te, und mit solch ei­ner Ge­schwin­dig­keit, dass er ver­le­gen und ver­wirrt blieb, ohne recht zu wis­sen, was vor­ging.

Er speis­te mit Bois­renard und ging dann ge­gen neun Uhr abends nach Hau­se. So­bald Du­roy al­lein war, ging er ei­ni­ge Zeit mit großen, leb­haf­ten Schrit­ten in sei­nem Zim­mer auf und ab. Er war zu auf­ge­regt, um an et­was zu den­ken. Ein ein­zi­ger Ge­dan­ke füll­te ihn aus:

— Mor­gen ein Duell — ohne dass die­se Vor­stel­lung in ihm et­was an­de­res er­weck­te, als eine ge­wis­se, star­ke Er­re­gung. Er war Sol­dat, er hat­te auf die Ara­ber ge­schos­sen, al­ler­dings ohne große per­sön­li­che Ge­fahr, so wie man auf der Jagd auf ein Wild­schwein schießt.

Schließ­lich hat­te er ge­han­delt, wie er han­deln muss­te. Er hat­te sich so ge­zeigt, wie er soll­te. Man wür­de von. ihm spre­chen, ihn lo­ben — ihn be­glück­wün­schen. Dann sprach er laut vor sich hin, wie man in großer, see­li­scher Er­re­gung spricht:

»Was für ein Vieh ist die­ser Mensch!«

Er setz­te sich und be­gann nach­zu­den­ken. Er be­trach­te­te die Vi­si­ten­kar­te sei­nes Geg­ners, die ihm Ri­val ge­ge­ben hat­te, da­mit er sei­ne Adres­se be­hielt. Zum zwan­zigs­ten Mal las er: Louis Lan­gre­mont, 176, Rue Mont­mar­tre. Wei­ter nichts.

Er be­trach­te­te die­se Buch­sta­ben, die ihm ge­heim­nis­voll vor­ka­men, die ihn be­un­ru­hig­ten. »Louis Lan­gre­mont.« Wer war die­ser Mann? Wie alt? Wel­cher Ge­stalt? Wel­ches Ge­sicht? War es nicht em­pö­rend, dass ein Frem­der, ein Un­be­kann­ter ohne je­den Grund sein Le­ben zer­stö­ren konn­te, nur durch die Lau­ne ei­ner al­ten Frau, die sich mit ih­rem Schläch­ter ge­zankt hat­te. Und er wie­der­hol­te noch­mals: »Was für ein Vieh!«

Und mit ei­nem star­ren Blick guck­te er die Kar­te an. Ein Zorn ge­gen die­ses Stück Pa­pier er­füll­te ihn, ein Zorn, in den sich ein selt­sa­mes, ban­ges Ge­fühl ein­misch­te. Die­se Ge­schich­te war zu dumm. Er er­griff eine her­um­lie­gen­de Na­gel­sche­re und stieß da­mit mit­ten in den ge­druck­ten Na­men, als ob er ihn da­mit er­dol­chen wol­le. Also, er soll­te sich schla­gen, und zwar mit Pis­to­len. Wa­rum hat­te er nicht den De­gen ge­wählt? Er wäre dann auf alle Fäl­le mit ei­ner leich­ten Ver­wun­dung da­von­ge­kom­men, wäh­rend man bei ei­ner Pis­to­le nie im Voraus wis­sen konn­te.

»Ich muss fest blei­ben«, sag­te er.

Der Klang sei­ner Stim­me er­schreck­te ihn, und er blick­te sich um. Er trank ein Glas Was­ser und ging zu Bett. Er lösch­te das Licht und schloss die Au­gen.

Er konn­te nicht ein­schla­fen, es war ihm heiß un­ter sei­ner De­cke, ob­wohl es im Zim­mer sehr kalt war.

Er hat­te Durst.

»Soll­te ich mich etwa fürch­ten?« dach­te er, in­dem er auf­stand, um Was­ser zu trin­ken.

Wa­rum klopf­te sein Herz so wild bei je­dem be­kann­ten Geräusch in sei­nem Zim­mer? Wenn sei­ne Kuckucks­uhr schlug, fuhr er beim lei­sen Knar­ren der Fe­der je­des Mal zu­sam­men; er fühl­te sich be­engt und muss­te ein paar Au­gen­bli­cke den Mund öff­nen, um Luft zu be­kom­men.

»Soll­te ich Angst ha­ben?« be­gann er zu phi­lo­so­phie­ren.

Nein, si­cher hat­te er kei­ne Angst, denn er war ent­schlos­sen, bis zum Ende zu ge­hen, da er den fes­ten Wil­len hat­te, zu kämp­fen ohne zu zit­tern. Aber er fühl­te sich so tief er­regt, dass er sich frag­te: »Kann man trotz sei­nes Wil­lens Angst ha­ben?« Und die­ser Zwei­fel, die­se schreck­li­che Be­fürch­tung er­griff ihn. Wenn die­se Macht stär­ker als sein Wil­le war, ihn ge­wal­tig und un­wi­der­steh­lich lähm­te, was wür­de dann ge­sche­hen? Ja, was konn­te dann pas­sie­ren?

Si­cher wür­de er auf den Kampf­platz ge­hen, weil er das woll­te. Aber wenn er zit­tern wür­de? Wenn er be­sin­nungs­los wür­de?

Und er dach­te über sei­ne Stel­lung, über sei­nen Ruf, über sei­ne Zu­kunft nach.

Und ein merk­wür­di­ges Ver­lan­gen, auf­zu­ste­hen und in den Spie­gel zu schau­en, über­kam ihn. Er zün­de­te das Licht an. Als er sich in dem Spie­gel be­ob­ach­te­te, kam er sich ganz fremd vor, und es war ihm, als hät­te er sich nie ge­se­hen. Sei­ne Au­gen ka­men ihm rie­sig vor und er war blass, blass, si­cher sehr blass.

Blitz­schnell ging ihm ein Ge­dan­ke durch den Kopf: »Mor­gen um die­se Zeit bin ich viel­leicht schon eine Lei­che!« Und sein Herz be­gann ra­send zu klop­fen.

Er ging zu sei­nem Bett und sah sich, auf dem Rücken lie­gend, un­ter der­sel­ben De­cke, die er eben ver­las­sen hat­te. Er hat­te das hoh­le Ge­sicht ei­nes To­ten und sei­ne Hän­de la­gen weiß und un­be­weg­lich da.

Eine Furcht vor sei­nem Bett er­griff ihn und, um es nicht mehr zu se­hen, öff­ne­te er das Fens­ter und guck­te hin­aus. Die kal­te Nacht­luft ließ sei­nen gan­zen Kör­per zit­tern und schwer at­mend wich er vom Fens­ter zu­rück.

Es fiel ihm ein, Feu­er zu ma­chen. Er schür­te es lang­sam an, ohne sich um­zu­dre­hen. Sei­ne Hän­de zit­ter­ten ner­vös, wenn er einen Ge­gen­stand an­fass­te. Sein Kopf brann­te, sei­ne Ge­dan­ken wa­ren schmerz­haft und ver­wor­ren. Er fühl­te sich be­rauscht, als ob er Wein ge­trun­ken hät­te, und im­mer­fort frag­te er sich: »Was soll ich tun? Was soll aus mir wer­den?«

Er be­gann wie­der auf und ab zu ge­hen, un­un­ter­bro­chen, me­cha­nisch.

»Ich muss ener­gisch sein, sehr ener­gisch.«

Dann sag­te er sich: »Ich muss an mei­ne El­tern schrei­ben, für den Fall, dass mir et­was pas­siert.«

Er setz­te sich wie­der hin, nahm einen Bo­gen Pa­pier und schrieb. »Lie­ber Papa, lie­be Mama …«

Aber die­se ein­fa­che An­re­de fand er zu ver­trau­lich, bei ei­nem so tra­gi­schen Vor­fall. Er zer­riss das ers­te Blatt und be­gann von Neu­em:

»Mein lie­ber Va­ter, mei­ne lie­be Mut­ter. Mit Ta­ge­s­an­bruch habe ich ein Duell, und da es ge­sche­hen kann, dass …«

Has­tig stand er auf und trau­te sich nicht wei­ter zu schrei­ben.

Die­ser Ge­dan­ke zer­schmet­ter­te ihn: »Ich wer­de ein Duell ha­ben.« Es war un­ver­meid­lich. Was ging nun in ihm vor? Er woll­te sich schla­gen; die­se Ab­sicht war fest; und trotz­dem schi­en es ihm, als hät­te er nicht ein­mal so viel Wil­lens­kraft, um zum Kampf­platz zu ge­hen. Von Zeit zu Zeit klap­per­ten sei­ne Zäh­ne mit lei­sem, har­tem Geräusch und er frag­te sich: »Ob mein Geg­ner schon ein Duell ge­habt hat? Ist er ein gu­ter Schüt­ze? Ist er als sol­cher be­kannt und ge­schätzt?« Er hat­te nie sei­nen Na­men ge­hört. Aber wenn die­ser Mann kein gu­ter Pis­to­len­schüt­ze wäre, wür­de er kaum ohne wei­te­res, so ohne je­des Zau­dern die­se ge­fähr­li­che Waf­fe an­neh­men.

Dann mal­te sich Du­roy ihr Zu­sam­men­tref­fen aus, die Hal­tung sei­nes Geg­ners und sei­ne ei­ge­ne. Er zer­mar­ter­te sich das Ge­hirn mit den ge­rings­ten Ein­zel­hei­ten des Kamp­fes, und plötz­lich sah er vor sei­nem Ge­sicht das klei­ne schwar­ze Loch des Pis­to­len­lau­fes, aus dem die Ku­gel kom­men wür­de.

Und plötz­lich er­griff ihn eine furcht­ba­re Angst, er be­kam einen An­fall wil­der Verzweif­lung. Sein gan­zer Kör­per zit­ter­te und beb­te. Er press­te die Zäh­ne zu­sam­men, um nicht zu schrei­en. Er hat­te ein Be­dürf­nis, sich auf der Erde zu wäl­zen, et­was zu bei­ßen, zu ver­nich­ten.

Er be­merk­te plötz­lich ein Glas auf sei­nem Ka­min, und es fiel ihm ein, dass er in sei­nem Schran­ke eine fast vol­le Fla­sche Schnaps ste­hen hat­te, denn noch von sei­ner Sol­da­ten­zeit her hat­te er die Ge­wohn­heit, je­den Mor­gen ein Gläs­chen zu trin­ken.

Er er­griff die Fla­sche, setz­te sie an den Mund und trank gie­rig, in lan­gen Zü­gen. Er stell­te sie erst hin, als ihm der Atem aus­blieb. Sie war zum Drit­tel leer. Eine glü­hen­de Hit­ze ver­brann­te ihm plötz­lich den Ma­gen, er­goss sich durch sei­ne Glie­der, und durch die Be­täu­bung be­kam er neu­en Mut.

»Das ist das rich­ti­ge Mit­tel«, sag­te er sich. Und da ihm sehr warm wur­de, öff­ne­te er das Fens­ter.

Der Tag grau­te still und kalt. Die Ster­ne schie­nen zu ster­ben und in dem tie­fen Ei­sen­bahn­ein­schnitt ver­bli­chen die grü­nen, ro­ten und wei­ßen Si­gnal­lich­ter. Die ers­ten Lo­ko­mo­ti­ven ver­lie­ßen den Schup­pen und fuh­ren pfei­fend da­von, um die ers­ten Züge zu ho­len. Die an­de­ren pfif­fen grell in der Fer­ne, wie­der­hol­ten ih­ren Mor­gen­ruf, wie die Häh­ne auf dem Lan­de.

»Ich wer­de viel­leicht das al­les nicht mehr se­hen«, dach­te Du­roy. Nun fühl­te er, dass er von Neu­em weich wur­de. Da nahm er sich mit Ge­walt zu­sam­men. »Ich darf an nichts den­ken bis zum Mo­ment der Be­geg­nung. Das ist das ein­zi­ge Mit­tel, um den Mut nicht zu ver­lie­ren.«

Er be­gann sich an­zu­klei­den. Beim Ra­sie­ren guck­te er in den Spie­gel, und es über­kam ihn noch­mals eine Schwä­che, als er dar­an dach­te, dass er viel­leicht zum letz­ten Male sein Ge­sicht sähe.

Da trank er einen Schluck aus der Fla­sche und zog sich schnell an.

Es fiel ihm sehr schwer, über die nächs­te Stun­de hin­weg­zu­kom­men. Er ging auf und ab durch das Zim­mer und zwang sich mit Ge­walt zur äu­ße­ren Ruhe und Kalt­blü­tig­keit. Als er an sei­ner Tür klop­fen hör­te, wäre er fast auf den Rücken ge­fal­len, so hef­tig fuhr er vor Schreck zu­sam­men. Das wa­ren sei­ne Zeu­gen. Also, es war Zeit.

Sie wa­ren in Pel­ze gehüllt. Ri­val drück­te sei­nem Kli­en­ten die Hand und er­klär­te:

»Es ist eine si­bi­ri­sche Käl­te. Geht es gut?« frag­te er.

»Ja, sehr gut.«

»Sind Sie ru­hig?«

»Ja, sehr ru­hig.«

»Also, es wird schon ge­hen. Ha­ben Sie et­was ge­trun­ken und ge­ges­sen?«

»Ja, ich brau­che nichts mehr.«

Für das Er­eig­nis hat­te sich Bois­renard ein gelb-grü­nes aus­län­di­sches Or­dens­bänd­chen an­ge­legt, das Du­roy noch nie bei ihm ge­se­hen hat­te. Sie gin­gen hin­un­ter.

In dem Lan­dau­er saß ein Herr und war­te­te auf sie. Ri­val stell­te vor:

»Dok­tor Le Bru­ment.«

»Ich dan­ke«, mur­mel­te Du­roy und drück­te ihm die Hand.

Dann woll­te er sich auf die Vor­der­bank set­zen, aber er fühl­te et­was Har­tes. Das war der Pis­to­len­kas­ten, wie er zu sei­nem Ent­set­zen be­merk­te.

»Nein, nein, der Duel­lant und der Arzt auf den Rück­sitz!« wie­der­hol­te Ri­val noch­mals.

Du­roy ver­stand ihn end­lich und sank ne­ben dem Dok­tor aufs Pols­ter. Als die bei­den Se­kun­dan­ten ein­ge­stie­gen wa­ren, fuhr der Kut­scher los. Er wuss­te schon, wo­hin er fah­ren soll­te.

Aber die Pis­to­len­kis­te be­läs­tig­te alle, am meis­ten Du­roy, der sie lie­ber nicht ge­se­hen hät­te. Man ver­such­te, sie hin­ter die Rücken zu stel­len, sie stör­te aber furcht­bar; dann stell­te man sie zwi­schen Ri­val und Bois­renard — sie fiel im­mer run­ter. Schließ­lich leg­te man sie auf den Bo­den.

Die Fahrt ver­lief sehr ein­tö­nig, ob­gleich der Arzt An­ek­do­ten er­zähl­te. Ri­val ant­wor­te­te al­lein dar­auf, Du­roy hät­te gern Geis­tes­ge­gen­wart ge­zeigt, er fürch­te­te aber, aus der Rol­le zu fal­len und sei­ne Auf­re­gung zu ver­ra­ten; ihn quäl­te die Angst, er könn­te zu zit­tern be­gin­nen.

Der Wä­gen hat­te bald frei­es Feld er­reicht. Es war ge­gen neun Uhr früh an ei­nem je­ner rau­en Win­ter­mor­gen, wo die gan­ze Na­tur glän­zend, hart und sprö­de ist wie ein Kris­tall. Die Bäu­me im Rau­reif sa­hen aus, als ob sie Eis ge­schwitzt hät­ten; der Bo­den dröhn­te un­ter den Schrit­ten. Die tro­ckene Luft trug weit die lei­ses­ten Geräusche, und der blaue Him­mel fun­kel­te wie ein Spie­gel. Die Son­ne warf auf die er­fro­re­ne Erde ihre hel­len Strah­len, die nicht zu wär­men ver­moch­ten.

Ri­val sag­te zu Du­roy:

»Ich habe die Pis­to­len bei Gas­ti­ne Re­net­te ge­kauft. Er hat sie selbst ge­la­den; der Kas­ten ist ver­sie­gelt. Üb­ri­gens wird das Los ent­schei­den, ob die­se oder die un­se­res Geg­ners be­nutzt wer­den.«

Du­roy ant­wor­te­te me­cha­nisch:

»Ich dan­ke Ih­nen.«

Dann gab Ri­val In­struk­tio­nen bis ins kleins­te, denn sein Schutz­be­foh­le­ner soll­te in kei­nem Fal­le ir­gend­ei­nen Feh­ler be­ge­hen. Al­les, was er sag­te, wie­der­hol­te er da­bei meh­re­re Male.

»Wenn ge­fragt wird: Sind Sie fer­tig, mei­ne Her­ren? so müs­sen Sie mit lau­ter Stim­me ant­wor­ten: Ja!

Beim Kom­man­do ›Feu­er!‹ he­ben Sie rasch den Arm und schie­ßen, ehe bis drei ge­zählt wird.«

Du­roy wie­der­hol­te es in Ge­dan­ken:

»Bei dem Kom­man­do ›Feu­er‹ hebe ich den Arm. — Bei dem Kom­man­do ›Feu­er‹ hebe ich den Arm. — Bei dem Kom­man­do ›Feu­er‹ hebe ich den Arm.« —

Er lern­te es aus­wen­dig, wie Schul­kin­der ihre Auf­ga­ben ler­nen, in­dem sie die­sel­ben bis zur Be­wusst­lo­sig­keit vor sich hin­spre­chen, um sie recht fest dem Ge­dächt­nis ein­zu­prä­gen.

Der Wa­gen kam in einen Wald, bog nach rechts in eine Al­lee ein und dann wie­der nach rechts. Plötz­lich öff­ne­te Ri­val die Wagen­tür und rief dem Kut­scher zu:

»Dort den klei­nen Weg hin­ein.«

Nun fuhr der Wa­gen auf ei­nem Weg mit zwei tie­fen Glei­sen, der rechts und links von ei­nem dich­ten Un­ter­holz um­ge­ben war, des­sen al­tes, vor­jäh­ri­ges Laub von Eis be­deckt war und zit­ter­te.

Du­roy mur­mel­te im­mer noch: »Bei dem Kom­man­do ›Feu­er‹ hebe ich den Arm.« Und er dach­te, dass ir­gend­ein Un­fall mit dem Wa­gen viel­leicht noch al­les gut­ma­chen könn­te. Wie gern hät­te er ihn um­ge­wor­fen! Wel­ches Glück, wenn er sich ein Bein brä­che!

Doch Du­roy be­merk­te bald am Ende ei­ner Lich­tung einen an­de­ren Wa­gen, der dort hielt, und vier Her­ren, die auf und ab gin­gen, um sich die Füße zu wär­men.

Er muss­te sei­nen Mund auf tun, so schwer wur­de ihm das At­men.

Die Se­kun­dan­ten stie­gen zu­erst aus, dann der Arzt und zu­letzt der Duel­lant. Ri­val nahm den Pis­to­len­kas­ten und schritt mit Bois­renard den bei­den Frem­den ent­ge­gen, die auf sie zu­ka­men. Du­roy sah, wie sie sich et­was fei­er­lich be­grüß­ten, dann in der Lich­tung auf und ab gin­gen und bald auf den Bo­den, bald zu den Bäu­men hin­auf blick­ten, als such­ten sie et­was, was fal­len oder fort­flie­gen könn­te. Dann zähl­ten sie die Schrit­te ab und stie­ßen mit großer Mühe ein paar Stö­cke in die ge­fro­re­ne Erde. Dann tra­ten sie zu ei­ner Grup­pe zu­sam­men und los­ten »Kopf oder Schrift« wie spie­len­de Kin­der.

Der Dok­tor Le Bru­ment frag­te Du­roy:

»Füh­len Sie sich wohl? Ha­ben Sie ir­gend­ei­nen Wunsch?«

»Nein, ich brau­che nichts. Dan­ke sehr.«

Es war ihm, als sei er ver­rückt ge­wor­den, als schlie­fe, als träum­te er, und et­was Über­na­tür­li­ches sei über ihn ge­kom­men und um­gä­be ihn.

Hat­te er Furcht? Vi­el­leicht! Er wuss­te es nicht.

Al­les war so selt­sam und ei­gen­ar­tig um ihn her­um ge­wor­den.

Jaques Ri­val kam zu­rück und sag­te zu ihm lei­se mit be­frie­dig­ter Stim­me:

»Al­les ist fer­tig. Wir ha­ben Glück mit un­se­ren Pis­to­len.«

Du­roy war das völ­lig gleich­gül­tig.

Man zog ihm den Man­tel aus. Er ließ es ge­sche­hen. Man be­fühl­te ihm die Gehrock­ta­schen, um sich zu ver­ge­wis­sern, dass er kein Pa­pier oder eine schüt­zen­de Brief­ta­sche dar­in trü­ge.

Er wie­der­hol­te für sich wie ein Ge­bet: »Bei dem Kom­man­do ›Feu­er‹ hebe ich den Arm.«

Nun führ­te man ihn zu ei­nem der Stö­cke, die in den Bo­den ge­bohrt wa­ren und gab ihm eine Pis­to­le in die Hand. Da sah er dicht vor sich einen Men­schen ste­hen, einen klei­nen, kahl­köp­fi­gen, dick­bäu­chi­gen Mann mit ei­ner Bril­le. Das war sein Geg­ner. Er sah ihn ganz deut­lich; doch er dach­te nur an das eine: »Bei dem Kom­man­do ›Feu­er‹ hebe ich den Arm und schie­ße.« Eine Stim­me er­tön­te in der tie­fen Stil­le, eine Stim­me, die ganz aus der Fer­ne zu kom­men schi­en:

»Sind Sie fer­tig, mei­ne Her­ren?«

Ge­or­ges rief:

»Ja.«

Da­rauf kom­man­dier­te die­sel­be Stim­me:

»Feu­er!«

Er hör­te nichts mehr, er sah nichts mehr, er über­leg­te nichts mehr. Er fühl­te nur, wie er den Arm er­hob und mit al­ler Kraft auf den Hahn drück­te.

Er hör­te nichts, aber er sah so­fort an der Mün­dung sei­nes Pis­to­len­lau­fes eine leich­te Rauch­wol­ke. Und da der Mann ihm ge­gen­über noch in der­sel­ben Hal­tung ste­hen­blieb, so er­blick­te er über dem Kopf des Geg­ners eine zwei­te klei­ne Rauch­wol­ke.

Sie hat­ten alle bei­de ge­schos­sen. Es war aus.

Sei­ne Se­kun­dan­ten be­fühl­ten und be­tas­te­ten ihn, knöpf­ten ihm den Rock auf und frag­ten ängst­lich:

»Sind Sie nicht ver­wun­det?«

Er ant­wor­te­te auf gut Glück:

»Nein, ich glau­be nicht!«

Üb­ri­gens war Lan­gre­mont eben­so un­ver­letzt wie sein Geg­ner, und Jaques Ri­val mur­mel­te in sehr miss­ver­gnüg­tem Ton:

»Mit die­sen ver­fluch­ten Pis­to­len ist es im­mer die­sel­be Ge­schich­te: man knallt vor­bei oder schießt sich tot. Ein ekel­haf­tes Zeug.«

Du­roy rühr­te sich nicht. Er war er­starrt vor freu­di­ger Über­ra­schung: Al­les war vor­über. Man muss­te ihm die Waf­fe ab­neh­men, die er noch fest und krampf­haft in der Hand hielt. Jetzt war ihm zu­mu­te, als hät­te er mit der gan­zen Welt ge­kämpft. Es war vor­über! Wel­ches Glück! Er fühl­te sich plötz­lich so tap­fer, dass er am liebs­ten noch je­man­den ge­for­dert hät­te.

Die Se­kun­dan­ten hat­ten noch eine Be­spre­chung. Sie ver­ab­re­de­ten eine Zu­sam­men­kunft, um das Pro­to­koll auf­zu­neh­men. Dann stieg man wie­der in den Wa­gen, und der Kut­scher, der auf dem Bock lach­te, knall­te mit der Peit­sche und fuhr da­von.

Sie früh­stück­ten alle vier auf dem Bou­le­vard und plau­der­ten über das große Er­eig­nis des Ta­ges. Du­roy schil­der­te sei­ne Ein­drücke:

»Es hat mir gar nichts ge­macht, ganz und gar nichts. Sie müs­sen das auch üb­ri­gens be­merkt ha­ben.«

Ri­val ant­wor­te­te:

»Ja, Sie ha­ben sich wa­cker ge­hal­ten.«

Als das Pro­to­koll auf­ge­nom­men war, leg­te man es Du­roy vor, da­mit er es in den Lo­kal­nach­rich­ten ver­öf­fent­lich­te. Er war sehr er­staunt, zu le­sen, dass er zwei Ku­geln mit Herrn Louis Lan­gre­mont ge­wech­selt hät­te, und et­was be­un­ru­higt frag­te er Ri­val:

»Wir ha­ben doch nur ein­mal ge­schos­sen?«

»Na­tür­lich ein­mal,« lä­chel­te der an­de­re, »je­der eine Ku­gel, macht zwei Ku­geln.«

Und Du­roy, der die Er­klä­rung ein­leuch­tend fand, er­hob wei­ter kei­nen Wi­der­spruch. Va­ter Wal­ter um­arm­te ihn:

»Bra­vo! Bra­vo! Sie ha­ben die Fah­ne der Vie Françai­se ver­tei­digt. Bra­vo!«

Abends be­such­te Du­roy alle an­ge­se­hens­ten Zei­tun­gen und die wich­tigs­ten Bou­le­vard­ca­fes. Zwei­mal traf er da­bei mit sei­nem Geg­ner zu­sam­men, der sich gleich­falls über­all zeig­te. Sie grüß­ten sich nicht. Wäre ei­ner von ih­nen ver­wun­det ge­we­sen, so hät­ten sie sich die Hän­de ge­drückt. Üb­ri­gens schwor je­der von ih­nen mit volls­ter Über­zeu­gung, er hät­te die Ku­gel des an­de­ren pfei­fen ge­hört.

Am nächs­ten Mor­gen er­hielt Du­roy ge­gen elf Uhr ein blau­es Brief­chen:

»O Gott, wel­che Angst hab’ ich aus­ste­hen müs­sen. Kom­me so­fort zur Rue Con­stan­ti­no­ple, mein Liebs­ter, da­mit ich Dich um­ar­me. Wie tap­fer Du bist — ich lie­be Dich. — Clo.«

Er ging als­bald hin. Sie fiel ihm um den Hals und be­deck­te ihn mit Küs­sen.

»Ach, Lieb­ling, wenn du wüss­test, wie auf­ge­regt ich war, als ich heu­te Mor­gen in den Zei­tun­gen las! Oh, er­zäh­le mir, sage mir al­les, ich will es wis­sen.«

Er muss­te alle Ein­zel­hei­ten er­zäh­len. Sie sag­te:

»Was für eine schlim­me Nacht musst du vor dem Duell ver­bracht ha­ben?«

»Kei­nes­wegs; ich habe gut ge­schla­fen.«

»Ich hät­te kein. Auge zu­ge­tan. Und wie ist es auf dem Kampf­platz ver­lau­fen?«

Er gab einen dra­ma­ti­schen Be­richt:

»Wir stan­den uns ge­gen­über, nur zwan­zig Schritt von­ein­an­der ent­fernt, kaum vier­mal so weit wie die­ses Zim­mer. Jaques frag­te, ob wir fer­tig wä­ren, dann kom­man­dier­te er: ›Feu­er!‹ Ich er­hob so­fort den Arm, ziel­te gut, aber ich mach­te den Feh­ler, auf sei­nen Kopf zu zie­len. Mei­ne Waf­fe ging et­was schwer, und ich bin an leicht schie­ßen­de Pis­to­len ge­wöhnt, so­dass der Schuss durch den Wi­der­stand des Hah­nes zu hoch ging. Sehr weit kann er aber nicht fehl­ge­gan­gen sein. Üb­ri­gens schießt der Ha­lun­ke auch nicht schlecht. Sei­ne Ku­gel fuhr mir dicht an der Schlä­fe vor­über. Ich habe den Wind­hauch ver­spürt.«

Sie saß auf sei­nen Kni­en und hielt ihn mit ih­ren Ar­men um­schlun­gen, als woll­te sie an der Ge­fahr teil­neh­men; sie flüs­ter­te:

»Mein ar­mer Lieb­ling! Mein ar­mer Lieb­ling!«

Als er mit sei­ner Er­zäh­lung fer­tig war, sag­te sie:

»Oh, du weißt nicht; ich kann nicht mehr ohne dich le­ben. Ich muss dich se­hen, aber so­lan­ge mein Mann in Pa­ris ist, geht das gar nicht so leicht. Mor­gens hät­te ich oft eine Stun­de frei, ehe du auf­ge­stan­den bist, und ich könn­te dich um­ar­men kom­men, aber ich will nicht wie­der in die­ses scheuß­li­che Haus. Was ma­chen wir nur?«

Er hat­te plötz­lich einen Ein­fall und frag­te:

»Was zahlst du hier Mie­te?«

»Hun­dert Fran­cs.«

»Gut; ich über­neh­me die Woh­nung auf mei­ne Rech­nung und zie­he hier­her um. Mei­ne alte passt nicht mehr für mei­ne neue Stel­lung.«

Sie dach­te ein paar Au­gen­bli­cke nach, dann sag­te sie:

»Nein, das will ich nicht!«

»Wa­rum denn nicht?« frag­te er er­staunt.

»Da­rum.«

»Das ist kein Grund. Die Woh­nung passt mir glän­zend. Ich bin hier und ich blei­be hier.«

Er be­gann zu la­chen:

»Üb­ri­gens ist sie ja auf mei­nen Na­men ge­mie­tet.«

Doch sie wei­ger­te sich nach wie vor:

»Nein, nein, ich will nicht!«

»Wa­rum nicht? Sag’s doch!«

Da flüs­ter­te sie ihm lei­se ins Ohr:

»Weil du Wei­ber hier­her bräch­test, und das will ich nicht!«

Er war ent­rüs­tet:

»So was täte ich nie im Le­ben, ich ver­spre­che es dir.«

»Du tust es ja doch.«

»Ich schwö­re es dir.«

»Wirk­lich?«

»Wahr­haf­tig. Mein Ehren­wort. Das ist un­ser Heim hier, es ge­hört nur uns.«

Sie um­arm­te ihn lei­den­schaft­lich:

»Dann ist es mir recht, mein Lieb­ling. Aber du musst wis­sen, wenn du mich be­trügst, nur ein­mal be­trügst, dann ist es zwi­schen uns aus, end­gül­tig aus, und für im­mer!«

Er schwor noch­mals und ver­wahr­te sich ge­gen ih­ren Ver­dacht, und sie ver­ab­re­de­ten, er soll­te noch am sel­ben Tage um­zie­hen, da­mit sie ihn be­su­chen konn­te, wenn sie an der Tür vor­bei­käme.

Da­rauf sag­te sie zu ihm:

»Je­den­falls kom­me Sonn­tag zu uns zum Es­sen. Mein Mann fin­det dich rei­zend.«

Er fühl­te sich ge­schmei­chelt:

»Ah, wirk­lich?«

»Ja, du hast sein Herz ge­won­nen. Und dann noch eins: du hast mir doch er­zählt, du wä­rest auf dem Lan­de auf ei­nem Schloss auf­ge­wach­sen, nicht wahr?«

»Ja. Aber was …?«

»Dann musst du auch et­was von Land­wirt­schaft ver­ste­hen?«

»Ja.«

»Nun gut, dann un­ter­hal­te dich mit ihm über Gar­ten­bau und Ern­te, er liebt das sehr.«

»Gut, ich wer­de es mir mer­ken.«

Dann ver­ließ sie ihn, nach­dem sie ihn end­los ge­küsst hat­te. Das Duell hat­te ihre Lie­be nur noch mehr ent­flammt.

Du­roy aber dach­te auf dem Wege zur Re­dak­ti­on: »Was ist sie doch für ein wun­der­li­ches Ding. Wie ein Vo­gel! Man weiß nie, was sie will und was sie möch­te. Und die­se merk­wür­di­ge Ehe! Wel­cher Toll­kopf hat die­sen Al­ten mit die­sem leicht­sin­ni­gen We­sen zu­sam­men­ge­kop­pelt? Wie ist die­ser Herr In­spek­tor auf den Ge­dan­ken ge­kom­men, die­ses Stu­den­ten­mä­del zu hei­ra­ten? Ein Rät­sel. War es viel­leicht Lie­be? Wer weiß?!«

Dann kam er zu dem Schluss: »Je­den­falls ist sie eine rei­zen­de Ge­lieb­te. Und ich wer­de mich hü­ten, mit ihr zu bre­chen.«

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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