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VI.

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Es war am nächs­ten Mor­gen ein trau­ri­ges Er­wa­chen für Ge­or­ges Du­roy. Er zog sich lang­sam an, setz­te sich ans Fens­ter und be­gann über das Vor­ge­fal­le­ne nach­zu­den­ken. Er fühl­te sich am gan­zen Kör­per wie zer­schla­gen, als ob er ges­tern eine Men­ge Stock­hie­be er­hal­ten hät­te. End­lich trieb ihn die Not­wen­dig­keit, ir­gend­wo Geld auf­zu­trei­ben, fort und er be­gab sich zu Fo­res­tier.

Sein Freund emp­fing ihn in sei­nem Ar­beits­zim­mer, die Füße am Ka­min­feu­er: »Na, warum so früh?«

»Eine sehr wich­ti­ge An­ge­le­gen­heit. Ich habe eine Ehren­schuld.«

»Beim Spiel?«

Er über­leg­te und ge­stand: »Ja, beim Spiel.«

»Wie viel?«

»Fünf­hun­dert Fran­cs.«

Er brauch­te nur zwei­hun­dert­und­vier­zig.

Fo­res­tier frag­te miss­trau­isch:

»Wem schul­dest du sie?«

Du­roy wuss­te nicht gleich, was er ant­wor­ten soll­te: »Ei­nem … ei­nem Herrn … ei­nem Herrn de Car­le­ville.«

»So … wo wohnt er denn?«

»Er wohnt in der … in der …«

Fo­res­tier lach­te: »In der Stra­ße, wo sich Hun­de und Kat­zen gute Nacht sa­gen, nicht wahr? Den Herrn ken­ne ich, mein Lie­ber. Wenn du zwan­zig Fran­cs willst, so viel ste­hen dir noch zur Ver­fü­gung, mehr aber nicht.«

Du­roy nahm die zwan­zig Fran­cs.

Dann ging er von Tür zu Tür zu al­len sei­nen Be­kann­ten, und um fünf Uhr hat­te er glück­lich acht­zig Fran­cs zu­sam­men­ge­bracht. Ihm fehl­ten noch zwei­hun­dert Fran­cs; da ent­schloss er sich kurz, das Geld für sich zu be­hal­ten und mur­mel­te: »Um die­ses Frau­en­zim­mer wer­de ich mir kei­ne grau­en Haa­re wach­sen las­sen. Ich wer­de es be­zah­len, wenn ich kann.«

Vier­zehn Tage lang leb­te er spar­sam, re­gel­mä­ßig und zu­rück­ge­zo­gen. Er hat­te den Kopf voll ener­gi­scher Ent­schlüs­se, dann aber er­griff ihn ein großes Ver­lan­gen nach Lie­be. Es war ihm, als wä­ren Jah­re ver­gan­gen, seit er eine Frau be­ses­sen hat­te, und wie ein Ma­tro­se, der toll wird, wenn er wie­der an Land geht, er­reg­te ihn je­der Wei­ber­rock, dem er be­geg­ne­te.

Da ging er ei­nes Abends nach Fo­lies-Ber­gè­re, in der Hoff­nung, Ra­hel dort zu tref­fen. In der Tat sah er sie gleich beim Ein­tritt, denn sie ver­ließ die­ses Lo­kal nie. Lä­chelnd ging er auf sie zu und woll­te ihr die Hand rei­chen; aber sie maß ihn von Kopf bis zu den Fü­ßen:

»Was wün­schen Sie von mir?«

Er ver­such­te zu la­chen: »Ach, mach’ doch kei­ne Fa­xen!«

Da dreh­te sie ihm hef­tig den Rücken und sag­te:

»Ich ver­keh­re nicht mit Lum­pen!«

Sie hat­te die gröbs­te Be­lei­di­gung aus­ge­sucht. Er fühl­te, wie das Blut ihm zu Kopf stieg und ging al­lein nach Hau­se.

Fo­res­tier, der krank und elend war und im­mer­fort hus­te­te, mach­te ihm auf der Re­dak­ti­on das Le­ben so schwer wie mög­lich. Es schi­en, als zer­brä­che er sich den Kopf, um ihm die pein­lichs­ten und un­an­ge­nehms­ten Auf­trä­ge zu ge­ben. Ei­nes Ta­ges sag­te er in ei­nem Au­gen­blick ner­vö­ser Er­re­gung nach ei­nem schwe­ren Hus­ten­an­fall zu Du­roy, als er ihm eine ver­lang­te Aus­kunft nicht ver­schaf­fen konn­te: »Wahr­haf­tig, du bist noch düm­mer, als ich ge­glaubt hat­te.«

Der an­de­re hät­te ihn fast geohr­feigt, doch er nahm sich zu­sam­men, ging fort und brumm­te: »War­te nur, dich krie­ge ich noch.« Da­bei flog ihm blitz­schnell ein Ge­dan­ke durch den Kopf und er füg­te hin­zu: »Ich set­ze dir Hör­ner auf, Al­ter.« Dann ging er und rieb sich die Hän­de vor Ver­gnü­gen über die­sen Plan.

Er woll­te schon am nächs­ten Tage mit der Aus­füh­rung be­gin­nen und mach­te zu­nächst Frau Fo­res­tier einen Be­such.

Er fand sie le­send auf dem Sofa lie­gen. Sie reich­te ihm die Hand, ohne sich zu rüh­ren. Sie wand­te ihm nur den Kopf zu und sag­te:

»Gu­ten Tag, Bel-Ami!«

Es war ihm, als ob er eine Ohr­fei­ge be­kam.

»Wa­rum nen­nen Sie mich so?«

Sie ant­wor­te­te lä­chelnd: »Ich habe ver­gan­ge­ne Wo­che Ma­da­me de Ma­rel­le ge­trof­fen, und ich habe er­fah­ren, wie man Sie bei ihr ge­tauft hat.«

Das lie­bens­wür­di­ge Ge­sicht der jun­gen Dame be­ru­hig­te ihn et­was. Wes­halb hät­te er auch Angst ha­ben sol­len.

Sie fuhr fort:

»Sie ver­wöh­nen sie! Mich be­sucht man aber nur, wenn es ei­nem ge­ra­de ein­fällt, am sechs­und­drei­ßigs­ten ei­nes Mo­nats, nicht wahr?«

Er nahm ne­ben ihr Platz und be­trach­te­te sie mit völ­lig neu­em In­ter­es­se, wie ein Samm­ler ein sel­te­nes Kunst­werk. Sie war be­zau­bernd, ihre Haa­re wa­ren blond, von zar­tem, war­mem Gold­ton, und sie schi­en wie zur Lie­be ge­schaf­fen zu sein. Er dach­te: »Sie ist si­cher­lich schö­ner als die an­de­re.« Er zwei­fel­te nicht an sei­nem Er­folg, er brauch­te nur die Hand aus­zu­stre­cken — so schi­en es ihm — und sie zu neh­men, wie man eine Frucht pflückt.

Er sag­te ent­schlos­sen:

»Es war bes­ser, dass ich Sie nicht be­sucht habe.«

»Wie­so? Wa­rum?« frag­te sie, ohne ihn zu ver­ste­hen.

»Wa­rum? Ah­nen Sie es denn nicht?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Weil ich ver­liebt in Sie bin … Oh, nur ein biss­chen, ein klein we­nig … und weil ich es nicht ganz wer­den will.«

Sie schi­en we­der er­staunt, noch ver­letzt, noch ge­schmei­chelt; sie lä­chel­te wei­ter mit dem­sel­ben gleich­gül­ti­gen Lä­cheln und ant­wor­te­te ru­hig:

»Ach, Sie hät­ten trotz­dem ru­hig kom­men kön­nen; in mich war noch nie je­mand lan­ge ver­liebt.«

Er war er­staunt, mehr so­gar über den Ton als über den In­halt; er frag­te:

»Wa­rum?«

»Weil das zweck­los ist, und ich es gleich zu ver­ste­hen gebe. Hät­ten Sie Ihre Be­fürch­tung frü­her ver­ra­ten, so hät­te ich Sie be­ru­higt und Sie im Ge­gen­teil ge­be­ten, mich recht oft zu be­su­chen.

Er rief pa­the­tisch aus:

»Vor­aus­ge­setzt, dass man ab­so­lut Herr ist über sei­ne Ge­füh­le!«

Sie wand­te sich zu ihm um:

»Mein lie­ber Freund. Für mich ist ein ver­lieb­ter Mann aus der Rei­he der Le­ben­den aus­ge­schal­tet. Er wird zum Idio­ten, und nicht nur das, son­dern auch ge­mein­ge­fähr­lich. Mit de­nen, die in mich ver­liebt sind — oder die es sich ein­bil­den und be­haup­ten —, bre­che ich je­den nä­he­ren Ver­kehr ab, denn ers­tens lang­wei­len sie mich und zwei­tens sind sie mir auch ver­däch­tig, wie ein tol­ler Hund, der in je­dem Au­gen­blick einen An­fall krie­gen kann. Ich set­ze sie da­her so lan­ge in geis­ti­ge Qua­ran­tä­ne, bis ihre Krank­heit vor­über ist. Mer­ken Sie sich das. Ich weiß ge­nau, dass für Sie die Lie­be nur eine Art Hun­ger ist, wäh­rend sie für mich im Ge­gen­teil eine Art von … von … von See­len­ge­mein­schaft sein müss­te, wie sie es aber lei­der im Be­wusst­sein der Män­ner gar nicht gibt. Sie hal­ten sich an die Wor­te und ich an den In­halt. Aber … bit­te, se­hen Sie mir mal ins Ge­sicht.«

Sie lä­chel­te nicht mehr, ihr Ge­sichts­aus­druck war ru­hig und kühl. Sie fuhr fort und leg­te Nach­druck auf je­des Wort:

»Ich wer­de nie, nie Ihre Ge­lieb­te sein! Ver­ste­hen Sie mich? Es ist da­her völ­lig zweck­los, und es wäre für Sie so­gar schlimm, wenn Sie wei­ter die­sen Wunsch he­gen … Und nun, wo … die Ope­ra­ti­on voll­zo­gen ist … wol­len wir Freund­schaft schlie­ßen — wol­len Sie? — Rich­ti­ge wah­re Freund­schaft ohne Hin­ter­ge­dan­ken?«

Nun be­griff er, dass an­ge­sichts die­ser un­wi­der­ruf­li­chen Ent­schei­dung je­der Ver­such frucht­los wäre. Er zog so­fort die Kon­se­quen­zen dar­aus; er hielt ihr bei­de Hän­de hin, auf­rich­tig ent­zückt, eine so be­deut­sa­me Ver­bün­de­te für sei­ne Tä­tig­keit und sein Le­ben zu fin­den.

»Ich bin der Ih­ri­ge, gnä­di­ge Frau, in wel­cher Form es auch sei!« An dem Ton sei­ner Stim­me hör­te sie, dass er es auf­rich­tig mein­te, und sie gab ihm ihre Hand.

Er küss­te sie, rich­te­te sich wie­der auf und sag­te schlicht:

»Weiß Gott, wenn ich eine Frau wie Sie ge­fun­den hät­te, wie glück­lich wäre ich ge­we­sen, sie zu hei­ra­ten.«

Die­ses Mal war sie ge­rührt und ge­schmei­chelt. Sei­ne Wor­te lieb­kos­ten sie, wie alle Kom­pli­men­te, die ins Herz der Frau tref­fen, und sie warf ihm rasch einen je­ner dank­ba­ren Bli­cke zu, die die Män­ner zu ih­ren Skla­ven ma­chen.

Da er nicht recht wuss­te, wie er die Un­ter­hal­tung fort­set­zen soll­te, leg­te sie ihre Hand auf sei­nen Arm und sag­te mit sanf­ter Stim­me:

»Ich will gleich mein Amt als Freun­din an­tre­ten. Sie sind recht un­ge­wandt, mein Lie­ber.«

Sie zau­der­te und frag­te dann:

»Darf ich ganz of­fen spre­chen?«

»Ja.«

»Ganz und gar?«

»Ja.«

»Nun also! Be­su­chen Sie doch Frau Wal­ter; sie hält von Ih­nen viel; Sie müs­sen sich Mühe ge­ben, ihr zu ge­fal­len. Da kön­nen Sie Ihre Kom­pli­men­te an­brin­gen, ob­gleich sie eine an­stän­di­ge Frau ist; ver­ste­hen Sie mich wohl, sie ist durch­aus an­stän­dig! Bil­den Sie sich nichts ein … set­zen Sie kei­ne Hoff­nun­gen auf ir­gend­wel­che Strei­che. Füh­ren Sie sich bei ihr gut ein und Sie kön­nen dort viel er­rei­chen. Ich weiß, Sie neh­men bei der Zei­tung vor­läu­fig eine un­ter­ge­ord­ne­te Stel­lung ein. Aber fürch­ten Sie nichts; man emp­fängt dort alle Re­dak­teu­re mit dem glei­chen Wohl­wol­len. Ge­hen Sie hin, glau­ben Sie mir!«

Er sag­te lä­chelnd:

»Ich dan­ke Ih­nen, Sie sind ein En­gel … ein Schutz­en­gel!«

Dann ging die Un­ter­hal­tung auf an­de­re Din­ge über. Er blieb lan­ge bei ihr, denn er woll­te ihr be­wei­sen, dass er gern bei ihr weil­te; als er sich ver­ab­schie­de­te, frag­te er sie noch­mals:

»Also ab­ge­macht, wir sind Freun­de?«

»Ab­ge­macht!«

Und da er die Wir­kung sei­nes letz­ten Kom­pli­ments be­merkt hat­te, so un­ter­strich er es noch mit den Wor­ten: »Soll­ten Sie ein­mal Wit­we wer­den, bit­te ich, mich vorzu­mer­ken.«

Dann aber ging er schnell hin­aus, da­mit sie nicht erst die Zeit fand, böse zu wer­den.

Die Sa­che mit dem Be­such bei Frau Wal­ter war Du­roy et­was pein­lich, denn er war ja nicht auf­ge­for­dert, sich bei ihr vor­zu­stel­len, und er woll­te kei­ne Takt­lo­sig­keit be­ge­hen. Al­ler­dings zeig­te ihm der Chef viel Wohl­wol­len, und wuss­te sei­ne Ar­beit hoch zu schät­zen und zog ihn mit Vor­lie­be zu schwie­ri­gen Auf­trä­gen her­an; warum soll­te er nicht die Ge­le­gen­heit wahr­neh­men, sich auch in sein Haus ein­zu­füh­ren?

Ei­nes Ta­ges stand er früh auf, ging in die Markt­hal­le und kauf­te für zwölf Fran­cs zwan­zig Stück pracht­vol­ler Bir­nen. Er ver­pack­te sie sorg­fäl­tig in ei­nem Körb­chen, um den An­schein zu er­we­cken, als kämen sie von weit her, übergab sie dem Por­tier im Hau­se sei­nes Chefs und leg­te noch sei­ne Kar­te bei, auf der ge­schrie­ben stand:

»Ge­or­ges Du­roy bit­tet Ma­da­me Wal­ter er­ge­benst, ihr ei­ni­ge Früch­te sen­den zu dür­fen, die er heu­te früh aus der Nor­man­die er­hal­ten hat.«

Am nächs­ten Tage fand er in sei­nem Brief­kas­ten in der Re­dak­ti­on ein Ku­vert mit der Kar­te der Frau Wal­ter, die Herrn Ge­or­ges Du­roy herz­lichst dank­te und ihm mit­teil­te, dass sie je­den Sonn­abend zu Hau­se sei.

Am nächs­ten Sonn­abend mach­te er sei­nen Be­such. Herr Wal­ter be­wohn­te auf dem Bou­le­vard Ma­les­her­bes ein Dop­pel­haus, das ihm selbst ge­hör­te und des­sen Hälf­te er als prak­ti­scher und spar­sa­mer Ge­schäfts­mann ver­mie­te­te. Ein Pfört­ner mit di­cken Bei­nen in wei­ßen St­rümp­fen, in ei­ner präch­ti­gen Schwei­zer Li­vree mit gol­de­nen Knöp­fen und schar­lach­ro­ten Auf­schlä­gen, der zwi­schen den bei­den Tor­ein­fahr­ten haus­te, öff­ne­te das Tor so­wohl für den Haus­wirt als auch für den Mie­ter und ver­lieh durch sei­ne Hal­tung den bei­den Ein­gän­gen das stol­ze Aus­se­hen ei­nes rei­chen und vor­neh­men Pri­vat­hau­ses.

Die Ge­sell­schafts­räu­me la­gen im ers­ten Stock. Zu­erst kam man in ein Vor­zim­mer mit Go­bel­ins und Por­tie­ren. Zwei Die­ner sa­ßen schläf­rig auf Ses­seln. Ei­ner von ih­nen nahm Du­roy den Über­zie­her ab, der an­de­re er­griff sei­nen Spa­zier­stock, öff­ne­te eine Tür, ging dem Gas­te ein paar Schrit­te vor­aus, trat dann zur Sei­te und ließ ihn vor­bei, in­dem er sei­nen Na­men in ein lee­res Zim­mer hin­ein­rief. Der jun­ge Mann fühl­te sich zu­erst sehr un­si­cher und sah sich nach al­len Sei­ten um, bis er zu­letzt in ei­nem Spie­gel meh­re­re sit­zen­de Men­schen er­blick­te, die ziem­lich weit zu sein schie­nen. Er ging zu­erst nach der ver­kehr­ten Rich­tung, da der Spie­gel sei­ne Au­gen ge­täuscht hat­te, dann durch­schritt er zwei lee­re Sa­lons und kam in ein klei­nes Bou­doir mit blaus­ei­de­nen Ta­pe­ten, die mit gol­de­nen Knöp­fen ver­ziert wa­ren. Hier sa­ßen vier Da­men um einen run­den Tisch und plau­der­ten bei ei­ner Tas­se Tee.

Trotz der Si­cher­heit, die Du­roy sich durch sei­nen Auf­ent­halt in Pa­ris und vor al­len Din­gen durch sei­nen Re­por­ter­be­ruf, der ihn im­mer wie­der mit her­vor­ra­gen­den Men­schen in Berüh­rung brach­te, er­wor­ben hat­te, fühl­te er sich durch die gan­ze Ins­ze­nie­rung sei­nes Empfangs und die großen lee­ren Sa­lons, die er durch­wan­dern muss­te, et­was ver­schüch­tert. Er stam­mel­te:

»Ma­da­me, ich habe mir ge­stat­tet …«, und such­te da­bei mit den Au­gen die Frau des Hau­ses.

Sie reich­te ihm die Hand, die er mit ei­ner Ver­beu­gung er­griff, und sag­te zu ihm:

»Es ist sehr lie­bens­wür­dig von Ih­nen, Herr Du­roy, mich zu be­su­chen.« Und sie wies ihn auf einen Ses­sel, auf den er, statt sich hin­zu­set­zen, hin­ab­fiel, da er ihm viel hö­her zu sein schi­en, als er tat­säch­lich war.

Die Da­men, die einen Au­gen­blick ge­schwie­gen, hat­ten ihre Un­ter­hal­tung wie­der auf­ge­nom­men. Man sprach über die plötz­lich ein­ge­tre­te­ne Käl­te, die aber noch nicht stark ge­nug war, um Schlitt­schuh lau­fen zu kön­nen, und die auch nicht im­stan­de war, die herr­schen­de Ty­phus­epi­de­mie zu ver­scheu­chen. Jede Dame äu­ßer­te ihre Mei­nung über das Auf­tre­ten des hef­ti­gen Fros­tes in Pa­ris, dann plau­der­te man dar­über, wel­che Jah­res­zeit ei­gent­lich die an­ge­nehms­te war und kram­te alle jene ba­na­len Be­grün­dun­gen aus, die in den Köp­fen sich ab­la­gern, wie Staub auf den Mö­beln.

Die Tür ging lei­se auf und Du­roy wand­te sich um. Er er­blick­te durch zwei große Wand­schei­ben eine sehr kor­pu­len­te Dame, die nä­her­kam. Gleich­zei­tig er­hob sich im Bou­doir eine der Be­su­che­rin­nen, ver­ab­schie­de­te sich und ging hin­aus. Der jun­ge Mann folg­te ihr mit den Bli­cken durch die an­de­ren Zim­mer und sah, wie auf ih­rem schwar­zen Rücken die Jett­per­len blitz­ten.

Als die Un­ru­he, die die­ser Per­so­nen­wech­sel her­vor­ge­ru­fen, sich ge­legt hat­te, kam man plötz­lich ohne Über­gang auf Marok­ko und den Krieg im Ori­ent zu spre­chen, eben­so auf die schwie­ri­ge Lage Eng­lands im ferns­ten Afri­ka. Die Da­men re­de­ten, als ob sie eine Ge­sell­schafts­ko­mö­die, die sie schon oft wie­der­holt hat­ten, aus­wen­dig her­sag­ten.

Jetzt er­schi­en ein neu­er Gast. Es war eine klei­ne Blon­di­ne mit Löck­chen, die den Auf­bruch ei­ner großen, ha­ge­ren, nicht mehr ganz jun­gen Per­son ver­an­lass­te.

Man sprach nun von den Aus­sich­ten des Herrn Li­net für sei­ne Wahl in die Aka­de­mie. Die neu er­schie­ne­ne Dame war über­zeugt, er wür­de von Herrn Ca­ba­non-Le­bas ge­schla­gen wer­den, dem Ver­fas­ser der schö­nen und form­vollen Be­ar­bei­tung des »Don Qui­chot­te« in Ver­sen für die fran­zö­si­sche Büh­ne.

»Wis­sen Sie, dass sein Stück im nächs­ten Win­ter im Ode­on auf­ge­führt wird?«

»Ach wirk­lich. Ich gehe be­stimmt hin und sehe mir die­sen li­te­ra­ri­schen Ver­such an.«

Frau Wal­ter ant­wor­te­te sehr gra­zi­ös, ver­bind­lich und mit ru­hi­ger Un­par­tei­lich­keit, sie war nie um eine Re­de­wen­dung ver­le­gen, ihre Mei­nung stand im­mer im Voraus fest.

Doch sie merk­te, dass es dun­kel wur­de und ließ die Lam­pe her­ein­brin­gen, wäh­rend sie gleich­zei­tig auf die Un­ter­hal­tung hör­te, die un­un­ter­bro­chen wie ein Was­ser­bach plät­scher­te. Da­bei fiel ihr ein, dass sie ver­ges­sen hat­te, beim Gra­veur die Ein­la­dungs­kar­ten für das nächs­te Di­ner zu be­stel­len.

Sie war et­was zu stark, aber noch schön, und be­fand sich in je­nem ge­fähr­li­chen Al­ter, wo der Nie­der­gang nahe ist. Sie er­hielt ihre Schön­heit durch alle mög­li­chen Be­mü­hun­gen und Maß­re­geln, durch Hy­gie­ne und kos­me­ti­sche Mit­tel. Al­les, was sie tat, war be­son­nen, über­legt und ver­nünf­tig; sie ge­hör­te zu den Frau­en, de­ren Geist ge­rad­li­nig ist wie ein fran­zö­si­scher Gar­ten. Da gibt es nir­gends Über­ra­schun­gen, aber al­les ist nied­lich und rei­zend. Sie hat­te einen fei­nen dis­kre­ten und si­che­ren Ver­stand, der ihr die Fan­ta­sie voll­kom­men er­setz­te, da­bei war sie gü­tig, ru­hig, wohl­wol­lend, weit­her­zig für je­der­mann und für al­les. Sie be­merk­te, dass Du­roy noch nichts ge­sagt hat­te, dass nie­mand mit ihm re­de­te, und dass er sich des­halb et­was un­be­hag­lich zu füh­len schi­en. Die Da­men spra­chen noch im­mer von ih­rem Lieb­lings­the­ma, der Aka­de­mie, da frag­te sie:

»Herr Du­roy, Sie müss­ten doch über die Fra­ge bes­ser ori­en­tiert sein als je­der an­de­re. Wem wür­den Sie den Vor­zug ge­ben?«

Er ant­wor­te­te, ohne zu zau­dern:

»In die­ser Fra­ge, Ma­da­me, wür­de ich nie den strit­ti­gen Punkt über die li­te­ra­ri­schen Ver­diens­te des einen oder des an­de­ren Kan­di­da­ten ins Auge fas­sen, wohl aber ihr Al­ter und ih­ren Ge­sund­heits­zu­stand. Ich wür­de nicht nach ih­ren Aus­sich­ten, son­dern nach ih­ren Krank­hei­ten fra­gen. Ich wür­de mich nicht er­kun­di­gen, ob sie Lope de Vega in fran­zö­si­sche Ver­se über­tra­gen, son­dern nach dem Zu­stand ih­rer Le­bern, Her­zen, Nie­ren und Rücken­mar­ke. Für mich sind eine gute Her­zer­wei­te­rung oder eine Nie­ren­ent­zün­dung und vor al­lem ein hüb­scher An­fang ei­ner Rücken­mark­schwind­sucht hun­dert­mal mehr wert als eine vier­zig Bän­de di­cke li­te­ra­risch-wis­sen­schaft­li­che Ar­beit über den Be­griff der Va­ter­lands­lie­be in der Li­te­ra­tur der wil­den Völ­ker­schaf­ten.«

Ein er­staun­tes Schwei­gen folg­te die­ser Er­klä­rung.

Frau Wal­ter frag­te lä­chelnd: »Wa­rum denn ei­gent­lich?«

Er ant­wor­te­te: »Weil ich bei al­len Din­gen nur da­nach fra­ge, wel­che Freu­de sie den Da­men ma­chen kön­nen. Nun aber in­ter­es­siert man sich in Wirk­lich­keit für die Aka­de­mie doch nur dann, wenn ein Aka­de­mi­ker stirbt. Je mehr da­von ster­ben, de­sto glück­li­cher müs­sen sie sein. Aber da­mit sie bald ster­ben, müss­te man im­mer Alte und Kran­ke er­nen­nen.«

Da die Da­men noch et­was be­trof­fen wa­ren, fuhr er fort: »Üb­ri­gens geht es mir eben­so wie Ih­nen. Ich lese die Pa­ri­ser Nach­rich­ten über den Tod ei­nes Aka­de­mi­kers. Ich stel­le so­fort die Fra­ge: Wer wird an sei­ne Stel­le tre­ten? Und ich stel­le mei­ne Lis­te auf. Das ist ein Spiel, ein hüb­sches, klei­nes Spiel, das man in al­len Pa­ri­ser Sa­lons beim Hin­schei­den ei­nes Uns­terb­li­chen spielt: das Spiel des To­des und der vier­zig Grei­se.«

Man war im­mer noch ei­ni­ger­ma­ßen er­staunt, be­gann aber jetzt zu la­chen, so tref­fend war sei­ne Be­mer­kung.

Nun schloss er, wäh­rend er gleich­zei­tig auf­stand: »Sie, mei­ne Da­men, er­nen­nen die Aka­de­mi­ker, und Sie er­nen­nen sie, um sie ster­ben zu se­hen. Wäh­len Sie also alte, die äl­tes­ten, und nach dem Rest fra­gen Sie nicht.«

Mit gra­zi­öser Hal­tung ging er dann hin­aus.

Als er fort war, frag­te eine der Da­men:

»Wer ist es ei­gent­lich? Ein sehr wit­zi­ger Mensch!«

»Ei­ner un­se­rer Re­dak­teu­re«, er­wi­der­te Frau Wal­ter. »Er hat vor­läu­fig noch kei­ne her­vor­ra­gen­de Stel­lung an der Zei­tung, aber ich bin über­zeugt, dass er bald hoch­kom­men wird.«

Du­roy ging fröh­lich, mit großen, tan­zen­den Schrit­ten den Bou­le­vard Ma­les­her­bes hin­un­ter und mur­mel­te zu­frie­den:

»Ein gu­ter Ab­gang.«

Am Abend söhn­te er sich mit Ra­hel wie­der aus.

Die fol­gen­de Wo­che brach­te ihm zwei Er­eig­nis­se: er wur­de zum Lei­ter des Nach­rich­ten­teils er­nannt und er­hielt eine Ein­la­dung von Frau Wal­ter zum Di­ner. Er be­griff so­fort, dass ein in­ne­rer Zu­sam­men­hang zwi­schen die­sen bei­den Er­eig­nis­sen be­stand.

Die Vie Françai­se war vor al­len Din­gen ein Bör­sen­blatt, denn ihr Be­grün­der war ein Finanz­mann, der die Pres­se und sein De­pu­tier­ten­man­dat nur als Mit­tel zum Zweck be­trach­te­te. Die Gut­mü­tig­keit und wohl­wol­len­de Neu­tra­li­tät al­lem ge­gen­über war für ihn eine Waf­fe, und er spe­ku­lier­te stets un­ter der lä­cheln­den Mas­ke des bra­ven Man­nes. Aber für alle sei­ne Ge­schäf­te be­nutz­te er nur Men­schen, die er vor­her nach je­der Rich­tung hin be­ob­ach­tet und er­probt hat­te, und die er für schlau, ge­schickt und ge­rie­ben hielt. Du­roy schi­en ihm an der Spit­ze des lo­ka­len Nach­rich­ten­diens­tes eine sehr brauch­ba­re Per­sön­lich­keit zu sein.

Bis­her hat­te der Re­dak­ti­ons­se­kre­tär Bois­renard die­sen Pos­ten ver­wal­tet. Er war ein al­ter Jour­na­list, kor­rekt, pünkt­lich und ge­wis­sen­haft wie ein Be­am­ter. Seit drei­ßig Jah­ren war er Re­dak­ti­ons­se­kre­tär von elf ver­schie­de­nen Zei­tun­gen, ohne sei­ne Hand­lungs- und An­schau­ungs­wei­se ir­gend­wie zu än­dern. Er wech­sel­te die Re­dak­tio­nen wie die Re­stau­rants, und er merk­te kaum, dass die Kü­che im­mer eine an­de­re war. Po­li­ti­sche und re­li­gi­öse An­schau­un­gen blie­ben ihm fremd. Er war der Zei­tung, in der er ge­ra­de an­ge­stellt war, er­ge­ben, ar­bei­te­te flei­ßig und wur­de we­gen sei­ner Er­fah­rung ge­schätzt. Trotz­dem hielt er sehr auf sei­ne Be­rufs­eh­re, und er hät­te sich nie zu et­was her­ge­ge­ben, was er von sei­nem jour­na­lis­ti­schen Be­rufs­stand­punkt für un­eh­ren­haft, in­kor­rekt und un­sau­ber ge­hal­ten hät­te. Herr Wal­ter ach­te­te ihn des­halb zwar sehr hoch, aber ge­ra­de an der Spit­ze des lo­ka­len Teils, der sei­ner An­sicht nach das Mark der Zei­tung bil­de­te, hät­te er zu­wei­len doch gern eine an­de­re Per­sön­lich­keit ge­se­hen. Denn hier wur­den die Neu­ig­kei­ten lan­ciert, die Gerüch­te in Um­lauf ge­setzt, durch die man auf das Pub­li­kum und auf die Kur­se ein­wirk­te. Zwi­schen zwei Be­rich­ten über Ge­sell­schafts­aben­de muss man die wich­ti­gen Nach­rich­ten un­auf­fäl­lig ein­schie­ben und sie mehr an­deu­ten als aus­spre­chen. Zwi­schen den Zei­len muss man er­ra­ten las­sen, was man ei­gent­lich will, da muss man eine Neu­ig­keit so zu de­men­tie­ren wis­sen, dass man sie erst recht glaubt, und et­was so be­stä­ti­gen, dass je­der zu zwei­feln be­ginnt. In den Lo­kal­nach­rich­ten muss je­der Tag für Tag we­nigs­tens eine Zei­le fin­den, die ihn in­ter­es­siert, da­mit je­der­mann sie liest. Man muss da­bei an alle und an al­les den­ken, an alle Ge­sell­schafts­krei­se und an alle Be­ru­fe, an Pa­ris und an die Pro­vinz, an die Ar­mee und an die Ma­ler, an die Geist­lich­keit und an die Uni­ver­si­tät, an die Be­am­ten und die Halb­welt­da­men.

Der Mann, der an der Spit­ze des Nach­rich­ten­teils steht und das Heer der Re­por­ter di­ri­giert, muss stets auf dem Pos­ten sein, miss­trau­isch, vor­aus­schau­end, ver­schla­gen, vor­sich­tig und ge­wandt sein, er muss den rich­ti­gen In­stinkt ha­ben, mit ei­ner un­fehl­ba­ren Wit­te­rung be­gabt sein, um die falsche Nach­richt auf den ers­ten Blick zu er­ken­nen, um zu be­ur­tei­len, was ge­sagt und was ver­schwie­gen wer­den muss, um so­fort zu be­grei­fen, was auf das Pub­li­kum wir­ken wird, und es dann so vor­zu­brin­gen, dass die Wir­kung ver­viel­fäl­tigt wird. Bois­renard be­saß zwar eine lan­ge Pra­xis, aber es fehl­te ihm an Über­sicht und Ta­lent. Vor al­len Din­gen ließ er die an­ge­bo­re­ne Spitz­fin­dig­keit ver­mis­sen, um tag­aus, tagein die neu­en Ge­dan­ken des Chefs zu wit­tern.

Du­roy wuss­te die Sa­che glän­zend zu meis­tern, er war eine her­vor­ra­gen­de Er­run­gen­schaft der Re­dak­ti­on die­ses Blat­tes, das nach dem Aus­dru­cke Nor­bert de Va­ren­nes »auf den Strö­mun­gen des Staa­tes und auf den Un­ter­strö­mun­gen der Po­li­tik schwamm«.

Die geis­ti­gen Lei­ter und die ei­gent­li­chen Re­dak­teu­re der Vie Fran­cai­se wa­ren ein hal­b­es Dut­zend De­pu­tier­te, die an al­len Spe­ku­la­tio­nen des Di­rek­tors in­ter­es­siert wa­ren. Man nann­te sie in der Kam­mer die »Wal­ter-Cli­que«, und be­nei­de­te sie, weil sie mit ihm und durch ihn of­fen­bar viel Geld ver­dien­ten. Fo­res­tier war als po­li­ti­scher Re­dak­teur nur der Stroh­mann die­ser Ge­schäfts­leu­te, der Voll­stre­cker der von ih­nen ein­ge­flö­ßten Ide­en. Sie souf­flier­ten ihm sei­ne großen Ar­ti­kel, die er im­mer zu Hau­se schrieb, »um Ruhe zu ha­ben«, wie er sag­te.

Um dem Blatt je­doch einen li­te­ra­ri­schen und ge­sell­schaft­li­chen, pa­ri­se­ri­schen An­strich zu ge­ben, hat­te man ihm zwei be­rühm­te Schrift­stel­ler ver­schie­de­ner Art und ver­schie­de­nen Cha­rak­ters zur Sei­te ge­stellt: Jaques Ri­val, der ak­tu­el­le Plau­de­rei­en schrieb, und Nor­bert de Va­ren­ne, den Dich­ter der neu­en Schu­le und fan­ta­sie­vol­len Er­zäh­lungs­künst­ler. Dann hat­te man aus der großen Schar der »Jour­na­lis­ten für al­les« um bil­li­ges Geld noch ein paar Kri­ti­ker für Kunst, Ma­le­rei, Mu­sik und Büh­ne en­ga­giert und au­ßer­dem einen Re­dak­teur für Ge­richts­ver­hand­lun­gen und einen für Rennsport. Zwei Da­men der Ge­sell­schaft schick­ten un­ter dem Pseud­onym »Rosa Do­mi­no« und »Samt­pföt­chen« ihre Be­rich­te aus der vor­neh­men Welt in die Re­dak­ti­on; sie be­han­del­ten Fra­gen der Mode und der Eti­ket­te und brach­ten al­ler­lei In­dis­kre­tio­nen über be­kann­te Da­men.

Und so schwamm die Vie Françai­se »auf den Strö­mun­gen und Un­ter­strö­mun­gen« der Po­li­tik und der Bör­se, ge­lenkt und ge­lei­tet von al­len die­sen ver­schie­de­nen Hän­den und Köp­fen.

Du­roy be­fand sich ge­ra­de auf dem Hö­he­punkt sei­ner Freu­de über sei­ne Er­nen­nung, als er eine Ein­la­dungs­kar­te er­hielt, auf der stand: »Herr und Frau Wal­ter bit­ten Herrn Ge­or­ges Du­roy, ih­nen die Ehre zu er­wei­sen, am Don­ners­tag, den 20. Ja­nu­ar, bei ih­nen zu spei­sen.«

Die­se neue Gunst, die mit der an­de­ren so hübsch zu­sam­men­traf, er­füll­te ihn mit sol­cher Freu­de, dass er die Ein­la­dung küss­te, als wäre sie ein Lie­bes­brief ge­we­sen. Dann be­gab er sich zum Kas­sie­rer, um die wich­ti­ge Ge­halts­fra­ge zu be­spre­chen.

Der Nach­rich­ten­re­dak­teur er­hielt im All­ge­mei­nen mo­nat­lich eine be­stimm­te Sum­me, von der er sei­ne Re­por­ter und ihre mehr oder we­ni­ger wich­ti­gen Nach­rich­ten zu ho­no­rie­ren hat­te.

Für Du­roy wa­ren zu­nächst zwölf­hun­dert Fran­cs mo­nat­lich aus­ge­setzt, und er nahm sich vor, da­von einen gu­ten Teil für sich zu be­hal­ten.

Auf sei­ne drin­gen­den Vor­stel­lun­gen hat­te der Kas­sie­rer ihm end­lich vier­hun­dert Fran­cs Vor­schuss ge­ge­ben. Zu­erst heg­te Du­roy tat­säch­lich die Ab­sicht, an Ma­da­me de Ma­rel­le die zwei­hun­dert­und­vier­zig Fran­cs, die er ihr schul­de­te, zu­rück­zu­ge­ben. Er über­leg­te sich aber, dass ihm dann nur hun­dert­und­sech­zig Fran­cs ver­blie­ben, eine Sum­me, die gänz­lich un­zu­rei­chend war, um sei­ne neue Stel­lung in ge­büh­ren­der Wei­se zu be­strei­ten, und er ver­schob die Rück­ga­be auf spä­te­re Zei­ten. Zwei Tage lang be­schäf­tig­te er sich mit der Ein­rich­tung, denn er über­nahm einen be­son­de­ren Tisch nebst Brief­fä­chern in dem all­ge­mei­nen Re­dak­ti­ons­saal. Er saß an dem einen Ende des Saa­l­es, wäh­rend Bois­renard mit sei­nem trotz vor­ge­schrit­te­ner Jah­re ra­ben­schwar­zen Haar, den Kopf über ein Blatt Pa­pier ge­beugt, an dem an­de­ren Ende ar­bei­te­te.

Der lan­ge Tisch in der Mit­te des Saa­l­es war für die flie­gen­den Re­por­ter re­ser­viert. Ge­wöhn­lich diente er als Sitz­bank; man saß ent­we­der am Ran­de mit her­un­ter­hän­gen­den Bei­nen, oder in der Mit­te: nach tür­ki­scher Art; so sa­ßen die Re­por­ter oft­mals auf die­sem Ti­sche zu fünft oder zu sechst und spiel­ten hart­nä­ckig Fang­ball. Du­roy hat­te an die­sem Spiel gleich­falls Ge­schmack ge­fun­den und be­gann, dank der An­lei­tung von Saint-Po­tin, ziem­lich gut zu spie­len.

Fo­res­tier, der im­mer lei­den­der wur­de, hat­te ihm sein zu­letzt ge­kauf­tes Bil­bo­quet aus An­til­len­holz an­ver­traut, das ihm selbst ein biss­chen zu schwer war, und Du­roy schwang mit kräf­ti­ger Hand die große schwar­ze Ku­gel am Ende der Schnur, wo­bei er lei­se zähl­te: »Eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs —«

Er hat­te zum ers­ten Male zwan­zig Tref­fer hin­ter­ein­an­der an dem Tage, wo er bei Ma­da­me Wal­ter spei­sen soll­te. »Heu­te ist ein gu­ter Tag,« dach­te er, »ich habe Er­folg«; denn die Ge­wandt­heit im Fang­ball­spiel ver­lieh in der Re­dak­ti­on der Vie Fran­cai­se eine Art Vor­rang.

Er ver­ließ zei­tig die Re­dak­ti­on, um sich in Ruhe um­klei­den zu kön­nen. Wäh­rend er die Rue de Londres ent­lang­schritt, sah er vor sich plötz­lich eine klei­ne Dame, die ih­rer gan­zen Hal­tung nach Ma­da­me de Ma­rel­le sein muss­te. Er fühl­te, wie es ihm heiß zu Kopf stieg und sein Herz be­gann laut zu klop­fen. Er ging über den Fahr­damm, um sie im Pro­fil se­hen zu kön­nen. Sie blieb ste­hen, um gleich­falls hin­über­zu­ge­hen. Er hat­te sich ge­täuscht; er at­me­te auf.

Schon oft hat­te er sich die Fra­ge vor­ge­legt, wie er sich be­neh­men soll­te, wenn er ihr be­geg­ne­te? Soll­te er sie grü­ßen oder soll­te er so tun, als sehe er sie nicht?

»Ich wer­de sie nicht se­hen«, dach­te er.

Es war kalt; in den Rinn­stei­nen war das Was­ser ge­fro­ren. Die Trot­toire la­gen grau und tro­cken im La­ter­nen­licht.

Als der jun­ge Mann nach Hau­se kam, sag­te er sich: »Ich muss eine neue Woh­nung ha­ben. Mit der geht es nicht mehr.« Er fühl­te sich ner­vös und lus­tig. Er wäre im­stan­de ge­we­sen, über die Dä­cher zu klet­tern, und er wie­der­hol­te im­mer laut vor sich hin, in­dem er von sei­nem Bett zum Fens­ter ging: »Das Glück kommt! Das Glück kommt! Ich muss an Papa schrei­ben.«

Von Zeit zu Zeit hat­te er nach Hau­se ge­schrie­ben, und die­se Brie­fe brach­ten im­mer Freu­de in das klei­ne nor­man­ni­sche Wirts­haus, das dicht an der Stra­ße lag, hoch oben auf dem Hü­gel, von dem man Rou­en und das wei­te Tal der Sei­ne über­se­hen konn­te.

Von Zeit zu Zeit er­hielt er auch ein blau­es Brief­chen, des­sen Adres­se mit zit­tern­der Hand ge­schrie­ben war, und er las im­mer die glei­chen Zei­len am An­fan­ge des vä­ter­li­chen Brie­fes:

»Mein lie­ber Sohn! Aus die­sem Brie­fe sollst Du er­fah­ren, dass es Dei­ner Mut­ter und mir gut geht. Es gibt nicht viel Neu­es bei uns. Trotz­dem möch­te ich Dir mit­tei­len … usw.«

Und im In­nern sei­nes Her­zens be­wahr­te er In­ter­es­se für die Er­eig­nis­se, wel­che in sei­nem Dorf vor­ka­men, für die Nach­bar­schaft, für den Stand der Äcker und Ern­ten! Und er wie­der­hol­te, wäh­rend er sei­ne wei­ße Kra­wat­te kno­te­te:

»Ich muss mor­gen an Papa schrei­ben. Wie hät­te sich der Alte ge­freut, wenn er mich heu­te Abend sähe!«

Und plötz­lich stand vor sei­nen Au­gen die klei­ne, ver­räu­cher­te Kü­che sei­nes El­tern­hau­ses hin­ter der lee­ren Gast­stu­be; die Kes­sel, die ih­ren gel­ben Schim­mer an den Wän­den ent­lang war­fen, die Kat­ze vor dem Herd, die damp­fen­de Sup­pen­ter­ri­ne mit­ten auf dem al­ten, höl­zer­nen Tisch, und ein Licht, das zwi­schen zwei Tel­lern brann­te.

Er sah auch den Mann und die Frau, sei­nen Va­ter und sei­ne Mut­ter; die bei­den al­ten Bau­ern mit lang­sa­men Be­we­gun­gen, wie sie ihre Sup­pe löf­fel­ten. Er kann­te die kleins­ten Run­zeln ih­rer al­ten Ge­sich­ter, jede Be­we­gung von ih­ren Kör­pern. Er wuss­te so­gar, was sie sich sag­ten, je­den Abend, wenn sie ein­an­der ge­gen­über sa­ßen. »Ich muss sie doch mal wie­der be­su­chen!« dach­te er.

Als er mit sei­ner Toi­let­te fer­tig war, blies er das Licht aus und ging hin­un­ter. Auf dem Bou­le­vard ver­such­ten ein paar Dir­nen ihn an­zu­re­den. Und als hät­ten sie ihn be­lei­digt und ver­kannt, rief er ih­nen mit ver­ächt­li­cher Stim­me zu:

»Lasst mich doch end­lich in Ruhe!« Für wen hiel­ten sie ihn? Konn­ten sie denn die Män­ner nicht un­ter­schei­den? In sei­nem Frack, den er an­ge­zo­gen hat­te, um bei sehr rei­chen, sehr be­kann­ten und sehr ein­fluss­vol­len Leu­ten zu spei­sen, fühl­te er sich als eine neue Per­sön­lich­keit, als wäre er ein Mann der wirk­lich großen Ge­sell­schaft ge­wor­den.

Mit ru­hi­ger Si­cher­heit be­trat er das Vor­zim­mer, das von ho­hen Bron­ze­kan­de­la­bern er­leuch­tet war, und gab mit na­tür­li­cher Hand­be­we­gung Stock und Über­zie­her den bei­den Die­nern, die ihm ent­ge­gen­ka­men.

Alle Räu­me wa­ren hell er­leuch­tet. Frau Wal­ter emp­fing ihre Gäs­te in dem zwei­ten und größ­ten Zim­mer. Sie be­grüß­te ihn mit ei­nem be­zau­bern­den Lä­cheln, und er schüt­tel­te den bei­den Her­ren, die vor ihm ge­kom­men wa­ren, die Hand. Es wa­ren die Ab­ge­ord­ne­ten Fir­min und Lar­oche-Ma­thieu, die heim­li­chen Mit­re­dak­teu­re der Vie Françai­se. Herr Lar­oche-Ma­thieu galt bei der Zei­tung als be­son­de­re Au­to­ri­tät, da sein Ein­fluss, in der Kam­mer sehr be­deu­tend war. Man war auch all­ge­mein über­zeugt, dass er ei­nes Ta­ges Mi­nis­ter wür­de.

Dann kam das Ehe­paar Fo­res­tier. Sie trug ein rosa Kleid, das ihr glän­zend stand. Du­roy sah mit Er­stau­nen, wie in­tim sie mit den bei­den Ab­ge­ord­ne­ten war. Sie plau­der­te über fünf Mi­nu­ten in der Ecke am Ka­min ganz lei­se mit Lar­oche-Ma­thieu. Charles sah sehr ver­än­dert und mit­ge­nom­men aus. Er war seit ei­nem Mo­nat be­trächt­lich ab­ge­ma­gert und hus­te­te un­auf­hör­lich, wo­bei er im­mer­fort sag­te: »Ich müss­te mich end­lich ent­schlie­ßen, den Rest des Win­ters im Sü­den zu ver­brin­gen.«

Nor­bert de Va­ren­ne und Jaques Ri­val ka­men zu­sam­men. Dann öff­ne­te sich eine Tür im Hin­ter­grun­de des Saa­l­es und Herr Wal­ter er­schi­en mit zwei jun­gen Mäd­chen von sech­zehn und acht­zehn Jah­ren, die eine hübsch, die an­de­re häss­lich.

Du­roy wuss­te zwar, dass sein Chef Fa­mi­li­en­va­ter war; trotz­dem war er sehr er­staunt. An die Töch­ter sei­nes Vor­ge­setz­ten hat­te er nur wie an weit ent­le­ge­ne Län­der ge­dacht, die man nie­mals zu Ge­sicht be­kommt. Au­ßer­dem hat­te er sie sich als klei­ne Mäd­chen vor­ge­stellt und sah sie nun fast er­wach­sen vor sich. Bei die­sem An­blick wur­de er in­ner­lich et­was ver­le­gen, eine Ver­le­gen­heit, die man beim Um­ler­nen emp­fin­det.

Sie wur­den ihm vor­ge­stellt, reich­ten ihm die Hand und setz­ten sich dann an einen klei­nen Tisch, der wohl be­son­ders für sie be­stimmt war; dort be­gan­nen sie in ei­nem Hau­fen von Sei­den­knäu­eln zu wüh­len, die in ei­nem Flecht­körb­chen la­gen.

Man er­war­te­te noch je­mand, und die Gäs­te stan­den schwei­gend in klei­nen Grup­pen her­um, in je­ner un­ge­müt­li­chen Stim­mung, die vor dem Es­sen zu herr­schen pflegt, wenn sich dazu Leu­te aus al­len mög­li­chen geis­ti­gen Sphä­ren zu­sam­men­fin­den, nach­dem sie am Tage den ver­schie­dens­ten Be­schäf­ti­gun­gen nach­ge­gan­gen sind.

Du­roy hat­te, weil er sonst nicht wuss­te, was er tun soll­te, sei­ne Au­gen auf die Wand ge­rich­tet. Da rief ihm Herr Wal­ter aus ziem­li­cher Ent­fer­nung zu, of­fen­bar in der Ab­sicht, sei­ne Kunst­samm­lung zur Gel­tung zu brin­gen:

»Sie wol­len mei­ne Ge­mäl­de se­hen?«

Das »mei­ne« wur­de nach­drück­lich be­tont.

»Ich wer­de sie Ih­nen gleich zei­gen.« Und er nahm eine Lam­pe, da­mit sein Gast die Ein­zel­hei­ten bes­ser konn­te.

»Hier sind die Land­schaf­ten«, sag­te er.

In der Mit­te der Wand­flä­che hing ein großes Bild von Guil­le­met, eine nor­man­ni­sche Küs­te im Sturm. Dar­un­ter eine Wald­land­schaft von Har­pignies, dann eine al­ge­ri­sche Ebe­ne von Guil­lau­met mit ei­nem Ka­mel am Ho­ri­zont, ei­nem rie­si­gen, hoch­bei­ni­gen Ka­mel, das ei­nem fan­tas­ti­schen Denk­mal glich.

Herr Wal­ter ging zur nächs­ten Wand und trug fei­er­lich wie ein Ze­re­mo­ni­en­meis­ter vor:

»Die große Kunst.«

Es wa­ren vier Ge­mäl­de: »Ein Be­such im Kran­ken­hau­se« von Ger­vex, »Eine Schnit­te­rin« von Bas­ti­en Le­pa­ge, »Eine Wit­we« von Bou­gue­reau und »Eine Hin­rich­tung« von Jean Paul Lau­rens. Die­ses letz­te Bild stell­te einen Pries­ter aus Ven­dée dar, der von ei­nem Trupp Sol­da­ten an der Mau­er sei­ner ei­ge­nen Kir­che durch Er­schie­ßen hin­ge­rich­tet wur­de.

Ein Lä­cheln glitt über das erns­te Ge­sicht des Haus­herrn, als sie zur nächs­ten Wand ka­men.

»Hier hän­gen die Hu­mo­ris­ten.«

Man sah zu­nächst ein klei­nes Bild von Jean Béraud, das hieß: »Oben und un­ten.« Es stell­te eine hüb­sche Pa­ri­se­rin dar, wel­che die Trep­pe ei­nes Om­ni­bus­ses in vol­ler Fahrt hin­auf­stieg. Ihr Kopf be­fand sich in Höhe des Ver­decks, und die Her­ren, die oben sa­ßen, be­trach­te­ten mit zu­frie­de­ner Mie­ne das nied­li­che Ge­sicht, das zu ih­nen em­por­klet­ter­te, wäh­rend die un­ten auf der Platt­form ste­hen­den, die Bei­ne der jun­gen Frau mit ei­nem Aus­druck von Ver­druss und Be­gier­de an­schau­ten.

Herr Wal­ter hielt die Lam­pe so hoch er konn­te und wie­der­hol­te mit zwei­deu­ti­gem Lä­cheln:

»Wie mei­nen Sie? Ist es nicht drol­lig? Ist es nicht drol­lig?«

Dann er­klär­te er wei­ter:

»Das hier ist ›Die Ret­tung‹ von Lam­bert.«

Mit­ten auf ei­nem ab­ge­deck­ten Tisch saß ein jun­ger Ka­ter und be­ob­ach­te­te ge­spannt und er­staunt eine Flie­ge, die in ein Glas Was­ser ge­ra­ten war. Eine Pfo­te schweb­te in der Luft; das Tier schi­en be­reit zu sein, mit ei­ner ra­schen Be­we­gung das un­glück­li­che In­sekt aus dem Was­ser zu ha­schen. Aber es konn­te sich nicht ent­schlie­ßen! Was wür­de es tun?

Dann zeig­te der Haus­herr ein De­tail­le: »Der Un­ter­richt«. Das Bild stell­te einen Sol­da­ten in der Ka­ser­ne dar, der einen Pu­del im Trom­meln un­ter­rich­te­te. »Das ist so geist­reich!« sag­te er.

Du­roy war be­geis­tert und lach­te zu­stim­mend:

»Wie ent­zückend! Wie ent­zückend! Wie ent­zü …«

Plötz­lich hielt er inne; er hör­te hin­ter sich die Stim­me von Ma­da­me de Ma­rel­le, die so­eben ge­kom­men war. Der Chef fuhr fort, sei­ne Ge­mäl­des­amm­lung zu be­leuch­ten und zu er­klä­ren. Er zeig­te noch ein paar Bil­der und sag­te dann:

»Ich habe noch wel­che in den an­de­ren Räu­men, aber es sind Bil­der von Künst­lern, die noch nicht be­rühmt sind. Die­ses Zim­mer hier ist mein Kunst­sa­lon. Ich kau­fe mo­men­tan sehr vie­le Bil­der von ganz jun­gen Ma­lern. Ich hän­ge sie in mein Pri­vat­zim­mer und war­te ru­hig, bis die Schöp­fer be­rühmt wer­den.«

Dann setz­te er ganz lei­se hin­zu:

»Es ist au­gen­blick­lich die rich­ti­ge Zeit, um Bil­der zu kau­fen. Die Kunst geht bet­teln. Die Ma­ler ha­ben kei­nen Sou … sie müs­sen ver­kau­fen.«

Doch Du­roy sah nichts mehr und hör­te zu, ohne ein Wort zu ver­ste­hen. Ma­da­me de Ma­rel­le war da und stand hin­ter ihm. Was soll­te er tun? Wenn er sie grüß­te, wür­de sie ihm wo­mög­lich den Rücken dre­hen oder ihm ir­gend­ei­ne Be­lei­di­gung ins Ge­sicht wer­fen. Und wenn er sich nicht nä­her­te, was wür­de man dann den­ken?

»Ich will je­den­falls Zeit ge­win­nen«, dach­te er. Er war so auf­ge­regt, dass er einen Au­gen­blick dar­an dach­te, ir­gend­ei­nen Vor­wand zu fin­den, um weg­ge­hen zu kön­nen.

Die Ge­mäl­de­be­sich­ti­gung war zu Ende. Der Chef stell­te die Lam­pe hin und be­grüß­te die Neu­an­ge­kom­me­ne, wäh­rend Du­roy sich von Neu­em in die Bil­der ver­tief­te, als kön­ne er sich vor Be­wun­de­rung von ih­nen nicht los­rei­ßen. In sei­nem Kopf herrsch­te ein voll­kom­me­nes Durchein­an­der. Was soll­te er nun tun? Er hör­te hin­ter sich spre­chen, er un­ter­schied die Stim­men und ver­nahm die Un­ter­hal­tung; plötz­lich rief Frau Fo­res­tier:

»Sa­gen Sie, bit­te, Herr Du­roy.«

Er eil­te zu ihr hin, und sie emp­fahl ihm eine Freun­din, die ein Fest ge­ben woll­te, und er soll­te es in der Vie Françai­se er­wäh­nen.

»Aber selbst­ver­ständ­lich, gnä­di­ge Frau,« stot­ter­te er, »mit größ­tem Ver­gnü­gen.«

Ma­da­me de Ma­rel­le stand jetzt ganz in sei­ner Nähe. Er wag­te nicht mehr, sich um­zu­dre­hen und wie­der fort­zu­ge­hen. Nun glaub­te er den Ver­stand zu ver­lie­ren; sie sag­te ganz laut:

»Gu­ten Tag, Bel-Ami! Sie ken­nen mich wohl gar nicht mehr?«

Has­tig dreh­te er sich her­um; sie stand vor ihm, lä­chelnd, mit fro­hem, lie­bes­trah­len­dem Ge­sichts­aus­druck. Sie reich­te ihm die Hand. Er nahm sie zit­ternd, wo­bei er im­mer noch an eine Hin­ter­list, an eine ver­bor­ge­ne Bos­heit glaub­te. Sie fuhr fröh­lich fort:

»Was ist denn aus Ih­nen ge­wor­den? Was tun Sie? Wa­rum las­sen Sie sich nicht mehr se­hen?«

Er hat­te sei­ne Fas­sung noch nicht wie­der­ge­won­nen und stam­mel­te:

»Ach, ich habe so viel zu tun ge­habt, gnä­di­ge Frau! Herr Wal­ter hat mir einen neu­en Pos­ten an­ver­traut, der mir große Ar­beit macht.«

Sie sah ihm ins Ge­sicht. In ih­rem Blick konn­te er nichts an­de­res ent­de­cken als Wohl­wol­len und Zu­nei­gung.

»Ich weiß es,« er­wi­der­te sie, »das ist aber kein Grund, Ihre Freun­de zu ver­ges­sen.«

Sie wur­den ge­trennt durch den Ein­tritt ei­ner di­cken, de­kolle­tier­ten Dame mit ro­ten Ar­men und ro­ten Wan­gen, die sehr auf­fal­lend ge­klei­det war. Sie ging lang­sam und trat so schwer auf, dass man bei je­der Be­we­gung der ge­wal­ti­gen Ober­schen­kel ihr rie­si­ges Ge­wicht zu spü­ren glaub­te.

Da sie an­schei­nend mit größ­ter Rück­sicht und Zu­vor­kom­men­heit be­han­delt wur­de, wand­te sich Du­roy an Frau Fo­res­tier:

»Wer ist denn die­se Dame?«

»Die Vi­com­tes­se de Per­ce­mur, die un­ter dem Na­men ›Samt­pföt­chen‹ schreibt.«

Er war starr und hät­te am liebs­ten laut auf­ge­lacht:

»Samt­pföt­chen! Das sol­len Samt­pföt­chen sein! Und ich habe mir dar­un­ter eine jun­ge, schö­ne Frau wie Sie ge­dacht. Na, das ist glän­zend, aus­ge­zeich­net!«

Ein Die­ner er­schi­en in der Tür und mel­de­te:

»Es ist an­ge­rich­tet.«

Das Di­ner war zwang­los und lus­tig, ei­nes je­ner Di­ners, bei de­nen man von al­lem re­det und nichts sagt.

Du­roy saß zwi­schen der häss­li­chen Toch­ter des Haus­herrn, Fräu­lein Rose, und Ma­da­me de Ma­rel­le. Die­se Nach­bar­schaft war ihm doch et­was pein­lich, wenn sie auch vor­treff­lich bei Lau­ne zu sein schi­en und un­un­ter­bro­chen plau­der­te. Er war zu­erst be­fan­gen und ver­wirrt, wie ein Mu­si­ker, der den Ton ver­lo­ren hat. All­mäh­lich fand er aber auch sei­ne Si­cher­heit wie­der. Sie sa­hen sich ge­gen­sei­tig im­mer häu­fi­ger an, und ihre Bli­cke be­frag­ten ein­an­der und ver­strick­ten sich so in­nig und ver­liebt wie frü­her. Plötz­lich schi­en es ihm, als ob un­ter dem Ti­sche et­was sei­nen Fuß streif­te. Lang­sam schob er sein Bein vor, bis es an das sei­ner Nach­ba­rin stieß, ohne dass sie vor die­ser Berüh­rung zu­rück­wich. Sie spra­chen da­bei nicht mit­ein­an­der, son­dern je­der be­schäf­tig­te sich sehr eif­rig mit sei­nem an­de­ren Nach­barn.

Du­roys Herz poch­te. Er schob et­was wei­ter sein Knie vor. Er fühl­te einen leich­ten Ge­gen­druck, und er be­griff, dass ihre Lie­be wie­der be­gon­nen hat­te.

Wie wür­den sie mit­ein­an­der spre­chen? Das war gleich­gül­tig; aber ihre Lip­pen zit­ter­ten je­des Mal, wenn ihre Bli­cke sich be­geg­ne­ten. Doch der jun­ge Mann woll­te auch ge­gen die Toch­ter sei­nes Chefs lie­bens­wür­dig sein und re­de­te sie von Zeit zu Zeit an. Sie ant­wor­te­te ganz wie ihre Mut­ter und wuss­te im­mer so­fort, was sie er­wi­dern soll­te. Zur Rech­ten des Herrn Wal­ter saß mit der Hal­tung ei­ner Prin­zes­sin die Vi­com­tes­se de Per­ce­mur; und Du­roy, der sich über die­sen An­blick amü­sier­te, frag­te ganz lei­se Ma­da­me de Ma­rel­le:

»Ken­nen Sie viel­leicht auch die an­de­re, die un­ter dem Na­men ›Ro­ter Do­mi­no‹ schreibt?«

»Ge­wiss. Die Baro­nin de Li­var!«

»Auch so eine Mas­sen­ge­stalt?«

»Nein. Aber ge­nau so ko­misch. Sie ist ein lan­ges Ge­rip­pe von sech­zig Jah­ren, mit falschen Löck­chen und lan­gen Zäh­nen wie eine Eng­län­de­rin und mit An­schau­un­gen aus der Groß­vä­ter­zeit, Toi­let­te des­glei­chen.«

»Wo hat man nur die­se li­te­ra­ri­schen Berühmt­hei­ten auf­ge­ga­belt?«

»Die Em­por­kömm­lin­ge des Bür­ger­tums schwär­men im­mer noch für Ab­fäl­le aus ad­li­gem Ge­schlecht.«

»Sonst liegt kein Grund vor?«

»Kei­ner.«

Am Tisch hat­te jetzt eine po­li­ti­sche De­bat­te zwi­schen dem Chef, den bei­den De­pu­tier­ten, Nor­bert de Va­ren­ne und Jaques Ri­val be­gon­nen; sie dau­er­te bis zum Des­sert.

Als man wie­der im Sa­lon war, nä­her­te sich Du­roy von Neu­em Ma­da­me de Ma­rel­le. Er sah ihr tief in die Au­gen und frag­te:

»Darf ich Sie heu­te nach Hau­se be­glei­ten?«

»Nein.«

»Wa­rum nicht?«

»Weil Herr Lar­oche-Ma­thieu, der mein Nach­bar ist, mich je­des Mal bis zur Haus­tür be­glei­tet, wenn ich hier abends bin.«

»Wann darf ich Sie dann se­hen?«

»Kom­men Sie mor­gen zum Früh­stück.«

Ohne ein wei­te­res Wort trenn­ten sie sich.

Du­roy blieb nicht lan­ge. Er fand die Ge­sell­schaft zu ein­tö­nig. Auf der Trep­pe hol­te er Nor­bert de Va­ren­ne ein, der sich eben­falls emp­foh­len hat­te. Der alte Dich­ter fass­te ihn un­term Arm. Da sie auf so ver­schie­de­nen Ge­bie­ten tä­tig wa­ren, brauch­te er sei­ne Ri­va­li­tät nicht zu fürch­ten und brach­te dem jun­gen Man­ne ein ge­wis­ses vä­ter­li­ches Wohl­wol­len ent­ge­gen.

»Wol­len Sie mich ein Stück­chen nach Hau­se be­glei­ten?« frag­te er.

»Mit größ­tem Ver­gnü­gen, ver­ehr­tes­ter Meis­ter!«

Sie gin­gen lang­sam wei­ter und schrit­ten den Bou­le­vard Mal­her­bes hin­un­ter.

Pa­ris lag in die­ser kal­ten Win­ter­nacht fast men­schen­leer da,. Es war eine Nacht, in der die Ster­ne viel wei­ter ent­fernt schie­nen als sonst und der ei­si­ge Wind­hauch aus der Unend­lich­keit des Wel­talls weit jen­seits der Ster­ne zu kom­men scheint,

An­fangs spra­chen die Män­ner kein Wort; dann äu­ßer­te Du­roy, um doch et­was zu sa­gen:

»Herr Lar­oche-Ma­thieu scheint recht klug und un­ter­rich­tet zu sein.«

»Fin­den Sie?« mur­mel­te der alte Dich­ter.

Über­rascht und zö­gernd er­wi­der­te Du­roy:

»Al­ler­dings, er gilt ja für einen der fä­higs­ten Köp­fe in der Kam­mer.«

»Mög­lich. Un­ter den Blin­den ist der Ein­äu­gi­ge Kö­nig. Die­se gan­ze Ge­sell­schaft, se­hen Sie, ist sehr mit­tel­mä­ßig. Ihr Geist steckt zwi­schen zwei Wän­den — Geld und Po­li­tik. — Es sind al­ber­ne dum­me Jun­gen, mein Lie­ber, mit de­nen man un­mög­lich über et­was re­den kann, was uns am Her­zen liegt. Ihr Geist hat einen Bo­den­satz von Schlamm oder bes­ser ge­sagt von Mist, wie die Sei­ne bei As­nie­res. Es ist weiß Gott schwer, einen Men­schen mit wei­tem Geist zu fin­den, bei dem uns wie am Meer das Emp­fin­den von et­was Großem und Ge­wal­ti­gem über­kommt. Ich kann­te ein paar sol­cher Men­schen, jetzt aber sind sie tot.«

Nor­bert de Va­ren­ne sprach mit kla­rer aber ge­dämpf­ter Stim­me, die laut durch die Nacht tö­nen müss­te, wenn er nicht so in­ner­lich und zu­rück­hal­tend ge­spro­chen hät­te. Er schi­en über­reizt und trau­rig zu sein; er war er­füllt von je­ner Schwer­mut, die die See­len be­fällt und sie zit­tern lässt wie der Frost die Erde. Er fuhr fort:

»Was hat das üb­ri­gens zu sa­gen, ob ei­ner ein biss­chen mehr oder ein biss­chen we­ni­ger Ge­nie hat, zu­letzt kommt ja doch das Ende.«

Er schwieg. Du­roy, der sich in­ner­lich froh und hei­ter fühl­te, sag­te lä­chelnd:

»Sie se­hen heu­te zu schwarz, ver­ehr­tes­ter Meis­ter.«

»Das tu ich stets, mein Jun­ge,« er­wi­der­te der Dich­ter, »und in ein paar Jah­ren wer­den Sie es auch tun. Das Le­ben ist ein Berg; so­lan­ge man hin­auf­steigt, sieht man den Gip­fel und fühlt sich glück­lich. Ist man aber oben, dann er­blickt man mit ein­mal den Ab­grund und das Ende, näm­lich den Tod. Berg­auf geht es lang­sam, doch bergab schnell. In Ihrem Al­ter ist man fröh­lich. Man er­hofft so vie­les, was üb­ri­gens nie ein­tritt. In mei­nen Jah­ren er­war­tet man nichts mehr… als den Tod.«

Du­roy be­gann zu la­chen:

»Ver­dammt! Mir wird es gru­se­lig, wenn ich Sie höre.«

»Nein,« fuhr Nor­bert de Va­ren­ne fort, »Sie ver­ste­hen mich heu­te nicht. Aber spä­ter mal wer­den Sie sich des­sen er­in­nern, was ich Ih­nen jetzt sage. Es kommt ein Tag — und er kommt viel zu früh —, wo man nicht mehr la­chen kann, weil hin­ter al­lem, was man sieht, der Tod steht!

Oh! Sie ver­ste­hen nicht mal die­ses Wort: der Tod! In Ihrem Al­ter be­deu­tet das nichts — in mei­nem ist es schreck­lich. Ja, auf ein­mal da ver­steht man es, man weiß nicht wo­her und man weiß nicht warum, und plötz­lich be­kommt das Le­ben ein an­de­res Ge­sicht. Ich füh­le es schon seit fünf­zehn Jah­ren, wie er an mir zehrt, als ob ich ein Na­ge­tier im Bu­sen trü­ge. Ich mer­ke, wie er mich nach und nach, Mo­nat für Mo­nat, Stun­de für Stun­de, zer­stört, wie ein al­tes Haus, das dem Ein­sturz nahe ist. Er hat mich so völ­lig ent­stellt, dass ich mich nicht mehr wie­der­er­ken­ne. In mir ist nichts mehr von mir selbst, von dem fri­schen, star­ken, strah­len­den Man­ne, der ich mit drei­ßig Jah­ren war, üb­rig­ge­blie­ben. Ich sah, wie er mei­ne schwar­zen Haa­re weiß färb­te, all­mäh­lich, mit ei­ner hin­ter­lis­ti­gen und heim­tücki­schen Lang­sam­keit. Er nahm mir mei­ne straf­fe Haut, mei­ne Mus­keln, mei­ne Zäh­ne, mei­nen gan­zen Kör­per und ließ mir nur eine ver­zwei­fel­te See­le, die ihm auch wohl bald zum Op­fer fal­len wird.

Er hat mich zer­malmt, der Schuft, Se­kun­de für Se­kun­de, lang­sam und all­mäh­lich hat er sein furcht­ba­res Zer­stö­rungs­werk an mei­nem We­sen voll­bracht, und jetzt füh­le ich den Tod in al­lem, was ich tue. Je­der Schritt bringt mich ihm nä­her, jede Be­we­gung, je­der Atem­zug be­schleu­nigt sei­ne ent­setz­li­che Ar­beit. At­men, Schla­fen, Es­sen, Trin­ken, Ar­bei­ten, Den­ken, al­les, was wir tun, ist im Grun­de Ster­ben. Das gan­ze Le­ben ist Ster­ben l

Oh! Sie wer­den es auch er­fah­ren; Sie brau­chen nur eine Vier­tel­stun­de dar­über nach­zu­den­ken, es wird Ih­nen auch klar sein.

Was er­hof­fen Sie von der Lie­be? Noch ein paar Küs­se … und Sie sind im­po­tent.

Und wei­ter was? Geld? Wozu? Um Wei­ber zu be­zah­len? Ein hüb­sches Glück! Um viel es­sen zu kön­nen, dick zu wer­den und Näch­te hin­durch vor Schmer­zen und Qua­len der Gicht zu schrei­en? …

Und was noch? Ruhm? Wozu, wenn man ihn nicht mehr in der Ge­stalt der Lie­be ge­nie­ßen kann? Und dann? Im­mer der Tod zum Schluss! Ich sehe ihn jetzt oft so nahe vor mir, dass ich die Arme aus­stre­cken möch­te, um ihn von mir zu sto­ßen. Er be­deckt die Erde und er­füllt den Raum. Ich ent­de­cke ihn über­all. Die klei­nen Tier­chen, die auf den We­gen zer­tre­ten wer­den, die fal­len­den Blät­ter, das wei­ße Haar im Bart ei­nes Freun­des, al­les zer­reißt mir das Herz und ruft mir zu: ›Da ist er’!

Er verdirbt mir al­les, was ich tue und was ich sehe, was ich esse und was ich trin­ke, al­les, was ich lie­be: den hel­len Mond­schein, den Son­nen­auf­gang, das Rau­schen des Mee­res, das Plät­schern des Ba­ches, und die mil­de Luft der Som­mer­aben­de.«

Er ging lang­sam vor sich hin, et­was au­ßer Atem; er träum­te laut und ver­gaß fast, dass ihm je­mand zu­hör­te.

»Und nie,« fuhr er fort, »nie kehrt ein Men­schen­we­sen wie­der. Nie­mals … Man be­wahrt die Form, in der man eine Bron­ze­sta­tue gießt, je­der Stem­pel lie­fert im­mer wie­der den glei­chen Ab­druck, aber mein Kör­per, mein Geist, mei­ne See­le, mei­ne Wün­sche wer­den nie wie­der­keh­ren. Und doch wer­den Mil­lio­nen und Mil­li­ar­den Men­schen ge­bo­ren, die auf ein paar Qua­drat­zen­ti­me­ter eine Nase, Au­gen, eine Stirn, Ba­cken und einen Mund ha­ben wie ich und auch eine See­le wie ich, aber ich selbst keh­re nie­mals wie­der, ja nicht ein­mal ir­gend­ein er­kenn­ba­rer Teil von mir taucht wie­der auf un­ter die­sen un­zähl­ba­ren We­sen, die un­be­grenzt ver­schie­den sind, trotz­dem sie sich alle fast glei­chen.

An wen sich hal­ten? An wen un­se­re Schmer­zens­ru­fe rich­ten? An wen soll man glau­ben? Alle Re­li­gio­nen sind stumpf­sin­nig mit ih­rer dum­men Kin­der­mo­ral und egois­ti­schen Ver­hei­ßun­gen, die so gren­zen­los tö­richt sind. Der Tod al­lein ist uns ge­wiss.«

Er blieb ste­hen, fass­te Du­roy mit bei­den Hän­den an den Rän­dern sei­nes Pa­le­tot­kra­gens und fuhr mit lang­sa­mer Stim­me fort:

»Den­ken Sie dar­über nach, jun­ger Mann, den­ken Sie dar­über tage-, mo­na­te- und jah­re­lang nach und Sie wer­den eine ganz an­de­re An­schau­ung vom Le­ben und Da­sein ge­win­nen. Ver­su­chen Sie also al­les ab­zu­schüt­teln, was Sie um­gibt; ma­chen Sie die über­mensch­lichs­ten An­stren­gun­gen, um bei le­ben­di­gem Lei­be sich aus Ih­rer Haut, Ihren In­ter­es­sen, Ihren Ge­dan­ken, aus der ge­sam­ten Mensch­heit los­zu­lö­sen und über all das hin­aus­zu­bli­cken, und Sie wer­den be­grei­fen, wie gleich­gül­tig und be­lang­los der Streit zwi­schen Na­tu­ra­lis­ten und Ro­man­ti­kern, so­wie die gan­zen Etats­de­bat­ten sind.«

Er be­schleu­nig­te sei­nen Schritt:

»Aber dann wer­den Sie auch die furcht­ba­re Trüb­sal der Hoff­nungs­lo­sen emp­fin­den. Ver­las­sen und ver­lo­ren wer­den Sie im Un­ge­wis­sen sich ab­quä­len. Sie wer­den, nach al­len Sei­ten um Hil­fe ru­fen und nie­mand wird Ih­nen, ant­wor­ten. Sie wer­den die Arme em­por­stre­cken, Sie wer­den fle­hen, dass man Ih­nen hilft, Sie liebt, trös­tet, ret­tet, und es wird nie­mand kom­men.

Und warum müs­sen wir so lei­den? Ge­wiss, wir sind mehr zum kör­per­li­chen als zum geis­ti­gen Le­ben ge­bo­ren; aber durch un­ser Den­ken ist ein Miss­ver­hält­nis ent­stan­den zwi­schen un­se­rer wach­sen­den Er­kennt­nis und den un­ver­än­der­li­chen Le­bens­be­din­gun­gen.

Se­hen Sie sich die be­schränk­ten Men­schen an. Wenn sie nicht zu­fäl­lig schwe­re Schick­sals­schlä­ge tref­fen, sind sie zu­frie­den und lei­den nicht un­ter dem all­ge­mei­nen Un­glück. Auch die Tie­re ha­ben kein Emp­fin­den da­für.«

Noch­mals blieb er ste­hen und sann eine kur­ze Wei­le nach. Dann sag­te er mit min­der re­si­gnier­ter Stim­me:

»Ich bin ein ver­lo­re­nes Ge­schöpf; ich habe we­der Va­ter noch Mut­ter, noch Bru­der, noch Schwes­ter, noch Weib, noch einen Gott.«

Nach ei­ner Pau­se füg­te er hin­zu:

»Ich habe nur den Reim.«

Und er hob den Kopf zum Fir­ma­ment, an dem das blei­che Voll­mon­dant­litz leuch­te­te und de­kla­mier­te:

»Ver­geb­lich such’ ich die­ses Rät­sels Schlüs­sel

am blei­chen Mond, am wei­ten Ster­nen­him­mel.«

Sie ka­men zur Pont de la Con­cor­de, schwei­gend schrit­ten sie über die Brücke und gin­gen am Palais Bour­bon ent­lang. Nor­bert de Va­ren­ne be­gann von Neu­em:

»Hei­ra­ten Sie, lie­ber Freund, denn Sie wis­sen nicht, was es in mei­nem Al­ter heißt, al­lein zu sein. Heu­te er­füllt mich die Ein­sam­keit mit ei­ner ent­setz­li­chen Angst, die Ein­sam­keit in der Woh­nung, wenn ich abends am Feu­er sit­ze. Dann scheint es mir im­mer, als wäre ich al­lein auf der Welt, um­ge­ben von dunklen Ge­fah­ren und al­ler­lei un­be­kann­ten, schreck­li­chen Din­gen; und die Wand, die mich von mei­nem un­be­kann­ten Nach­bar trennt, ent­fernt mich von ihm so weit wie die Ster­ne, die ich durch das Fens­ter sehe. Mich über­fällt dann eine Art Fie­ber­wahn, der Fie­ber­wahn der Furcht und des Schmer­zes, und das Schwei­gen der Wän­de ent­setzt mich. Es ist so tief und so trau­rig, das Schwei­gen in dem Zim­mer, in wel­chem man ganz al­lein lebt. Es um­fängt nicht bloß den Kör­per, son­dern auch die See­le, und wenn ein Stück Mö­bel kracht, er­bebt ei­nem das Herz, denn man er­war­tet kein Geräusch in die­ser trü­ben Be­hau­sung.«

Nach ei­ner Pau­se setz­te er hin­zu:

»Wenn man alt ist, muss es doch schön sein, Kin­der zu ha­ben!«

Sie wa­ren in der Mit­te der Rue Bourgo­gne an­ge­langt. Vor ei­nem ho­hen Hau­se blieb der Dich­ter ste­hen, klin­gel­te, schüt­tel­te Du­roy die Hand und sag­te:

»Ver­ges­sen Sie das un­nüt­ze Ge­schwätz des Al­ten, jun­ger Freund, und le­ben Sie, wie es Ihrem Al­ter ge­bührt! Adieu!«

Und er ver­schwand in dem fins­te­ren Flur.

Du­roy ging mit be­klom­me­nem Her­zen wei­ter. Ihm war, als hät­te man ihm eine Gru­be voll mensch­li­cher Kno­chen und Schä­del ge­zeigt, und in die­se Gru­be muss­te auch er ei­nes Ta­ges un­wei­ger­lich stür­zen.

Er mur­mel­te:

»Don­ner­wet­ter! Sehr lus­tig muss es da oben bei ihm nicht sein! Ich wür­de es lie­ber vor­zie­hen, beim Vor­bei­marsch sei­ner Ge­dan­ken nicht an­we­send zu sein. Weiß Gott! Nein!«

Er war ste­hen­ge­blie­ben, um eine stark par­fü­mier­te Dame vor­bei zu las­sen, die aus dem Wa­gen stieg und in ihr Haus ging; mit vol­len Zü­gen at­me­te er den Duft der Ver­be­nen und Iris ein, der sich in der Luft ver­flüch­tig­te. Plötz­lich klopf­te sein Herz wie­der laut vor freu­di­ger Hoff­nung, und die Erin­ne­rung an Ma­da­me de Ma­rel­le, die er mor­gen wie­der­se­hen soll­te, er­füll­te ihn von Kopf bis zu Fuß. Al­les lä­chel­te ihm zu und das Le­ben nahm ihn zärt­lich in sei­ne Arme. Wie schön war es, sei­ne Hoff­nun­gen ver­wirk­licht zu se­hen!

Wie in ei­nem Rausch schlief er ein und er­hob sich ziem­lich früh, um noch einen Spa­zier­gang in der Ave­nue du Bois de Bou­lo­gne zu ma­chen, ehe er zum Ren­dez­vous ging.

Der Wind hat­te sich über Nacht ge­dreht, es war mil­der ge­wor­den, so­dass man sich fast im April glau­ben konn­te. Alle stän­di­gen Be­su­cher des Bois wa­ren un­ter­wegs; sie wa­ren dem Lock­ru­fe des hei­te­ren, war­men Him­mels ge­folgt.

Du­roy ging lang­sam und at­me­te be­hag­lich die mil­de Luft in sich ein. Hin­ter der Arc de Triom­phe de L’étoi­le bog er in die große Ave­nue ein, auf der ent­ge­gen­ge­setz­ten Sei­te des Reit­we­ges. Da trab­ten und ga­lop­pier­ten an ihm Da­men und Her­ren vor­bei, die Rei­chen die­ser Erde, die er aber heu­te kaum noch be­nei­de­te. Er kann­te sie fast alle beim Na­men, wuss­te die Höhe ih­res Ver­mö­gens und kann­te die Ge­heim­ge­schich­ten ih­res Le­bens, denn sein Be­ruf hat­te ihn zu ei­ner Art Al­ma­nach al­ler Pa­ri­ser Berühmt­hei­ten und Skan­da­le ge­macht.

Die Da­men rit­ten vor­bei, zier­lich und schlank in ih­ren dunklen Tuch­klei­dern und hat­ten et­was Hoch­mü­ti­ges und Un­nah­ba­res im Aus­druck, wie es Rei­te­rin­nen oft ha­ben.

Du­roy er­laub­te sich den Spaß und sag­te halb­laut die Na­men, Ti­tel und Ei­gen­schaf­ten der Lieb­ha­ber her, die sie ge­habt hat­ten oder die man ih­nen nach­sag­te, so wie man Li­ta­nei­en in ei­ner Kir­che mur­melt, bis­wei­len aber, an­statt zu sa­gen: »Baron de Tan­que­let, Prinz de la Tour En­guer­rand,« mur­mel­te er: »Ge­schmack Les­bos; Loui­se Mi­chot vom Vau­de­ville, Rose Mar­que­tin von der Opéra.«

Die­ses Spiel mach­te ihm viel Ver­gnü­gen; es trös­te­te ihn, er­hei­ter­te ihn und reiz­te ihn auf, un­ter dem An­schein erns­ter und wür­di­ger Tu­gend die tief un­aus­rott­ba­re Ge­mein­heit der Mensch­heit zu ent­de­cken.

Dann sag­te er ganz laut: »Heuch­ler­ban­de!« Und sei­ne Bli­cke such­ten die­je­ni­gen Rei­ter her­aus, über die die schlimms­ten Ge­schich­ten im Um­lauf wa­ren.

Er sah vie­le, die man als Falsch­spie­ler in Ver­dacht hat­te, für die die Klubs je­den­falls eine große und ein­zi­ge Geld­quel­le, und si­cher­lich auch eine ver­däch­ti­ge Geld­quel­le wa­ren.

An­de­re ganz be­rühm­te Per­sön­lich­kei­ten leb­ten aus­schließ­lich von dem Ver­mö­gen ih­rer Frau­en, an­de­re, wie man be­haup­te­te, von dem Gel­de ih­rer Ge­lieb­ten. Vie­le hat­ten ihre Schul­den be­zahlt (eine höchst eh­ren­haf­te Hand­lung), ohne dass man je eine Ah­nung hät­te, wo­her sie das nö­ti­ge Geld auf­ge­trie­ben hat­ten (ein recht ver­däch­ti­ges Ge­heim­nis). Er sah Finanz­män­ner, de­ren ge­wal­ti­ge Ver­mö­gen von ei­nem Dieb­stahl her­rühr­ten, Leu­te, die über­all emp­fan­gen wur­den, selbst in den vor­nehms­ten Häu­sern. Er sah Her­ren, die so ge­ach­tet wa­ren, dass die klei­nen Leu­te ehr­furchts­voll den Hut ab­zo­gen, wenn sie vor­bei ka­men, trotz­dem ihre scham­lo­sen Be­trü­ge­rei­en in öf­fent­li­chen Un­ter­neh­mun­gen für kei­nen, der hin­ter die Ku­lis­sen der großen Welt einen Ein­blick hat­te, ein Ge­heim­nis wa­ren. Hoch­mü­tig und stolz rit­ten sie da­her und blick­ten keck und un­ver­schämt in die Welt hin­ein. Du­roy lach­te im­mer noch und wie­der­hol­te: »Das ist ein rich­ti­ges Gau­ner­pack! Schwind­ler!«

Da kam in schnel­lem Tra­be ein rei­zen­der, of­fe­ner, nied­ri­ger Wa­gen vor­bei, vor den zwei Schim­mel­po­nys mit flat­tern­dem Schweif und Mäh­ne ge­spannt wa­ren. Eine zier­li­che, jun­ge Blon­di­ne kut­schier­te; es war eine be­kann­te Kur­ti­sa­ne; hin­ter ihr sa­ßen zwei Grooms. Du­roy blieb ste­hen; er hat­te Lust, ihr einen zu­stim­men­den Lie­bes­gruß zu­zu­win­ken, ihr Bei­fall zu klat­schen, die­ser Frei­beute­rin der Lie­be, die auf die­ser Spa­zier­fahrt und zu die­ser Stun­de mit­ten un­ter all die­sen ari­sto­kra­ti­schen Heuch­lern ih­ren fre­chen Lu­xus, den sie auf ih­rem La­ger ver­dien­te, zur Schau zu stel­len wag­te. Er fühl­te wohl un­klar, dass es et­was Ge­mein­sa­mes zwi­schen ih­nen gäbe, dass ein na­tür­li­ches Band sie ver­knüp­fe, dass sie von der­sel­ben Na­tur und Den­kart wä­ren und dass sein Er­folg eben­so auf­fal­lend sich ge­stal­ten wür­de.

Er kehr­te lang­sam zu­rück; sein Herz war von in­ner­li­cher Be­frie­di­gung er­wärmt, und er kam et­was vor der fest­ge­setz­ten Zeit an die Tür sei­ner frü­he­ren Ge­lieb­ten.

Sie emp­fing ihn mit hin­ge­hal­te­nen Lip­pen, als ob es nie­mals ein Zer­würf­nis zwi­schen ih­nen ge­ge­ben habe, und sie ver­gaß so­gar auf ei­ni­ge Au­gen­bli­cke die klu­ge Vor­sicht, die sie sonst in ih­rer Woh­nung al­len sei­nen Zärt­lich­kei­ten ent­ge­gen­zu­set­zen pfleg­te. Dann sag­te sie ihm, in­dem sie die ge­dreh­ten En­den sei­nes Schnurr­barts küss­te:

»Du weißt noch gar nicht, mein Lieb­ling, wel­chen Ver­druss ich wie­der habe. Ich freu­te mich schon auf einen wun­der­vol­len Ho­nig­mo­nat mit dir, und nun kommt plötz­lich mein Mann für sechs Wo­chen zu­rück. Er hat Ur­laub ge­nom­men. Ich kann aber nicht sechs Wo­chen le­ben, ohne dich zu se­hen, be­son­ders nach un­se­rem klei­nen Zwist, und ich habe des­halb die Din­ge so ar­ran­giert: Ich lade dich Mon­tag zum Es­sen ein. Ich habe ihm schon von dir er­zählt und wer­de dich ihm vor­stel­len.«

Du­roy war et­was über­rascht und zau­der­te; er hat­te noch nie mit ei­nem Mann ver­kehrt, des­sen Frau sei­ne Ge­lieb­te war. Er fürch­te­te, ir­gen­det­was, eine ge­wis­se Ver­le­gen­heit, ein Blick könn­te ihn ver­ra­ten. Er stam­mel­te:

»Nein, ich möch­te lie­ber dei­nen Mann nicht ken­nen­ler­nen.«

Sie war sehr er­staunt und tat ihre nai­ven Au­gen weit auf, doch sie be­stand dar­auf.

»Wa­rum denn nicht? Wie kann man bloß so ko­misch sein? Das kommt doch alle Tage vor! Ich hat­te dich wirk­lich nicht für so ein­fäl­tig ge­hal­ten.«

Ihre Wor­te ver­letz­ten ihn.

»Nun gut, mei­net­we­gen,« sag­te er, »ich kom­me Mon­tag zum Es­sen.«

Sie setz­te hin­zu:

»Da­mit es na­tür­li­cher aus­sieht, wer­de ich noch Fo­res­tier ein­la­den. Ei­gent­lich macht es mir we­nig Spaß, Gäs­te bei mir zu ha­ben.«

Die Tage bis zum Mon­tag dach­te Du­roy nicht mehr an die be­vor­ste­hen­de Be­kannt­schaft; aber als er die Trep­pe zu Ma­da­me de Ma­rel­le hin­auf­ging, fühl­te er sich selt­sam be­un­ru­higt, nicht weil es ihm wi­der­streb­te, die Hand die­ses Man­nes zu drücken, oder sei­ne Gast­freund­schaft an­zu­neh­men, son­dern er fürch­te­te et­was, wor­über er nicht klar war.

Er wur­de in den Sa­lon ge­führt und er muss­te, wie im­mer, war­ten. Dann öff­ne­te sich die Tür und er er­blick­te einen großen Mann mit weißem Voll­bart, ernst und sehr kor­rekt, der auf ihn zu­kam, und mit pein­li­cher Höf­lich­keit sag­te:

»Mei­ne Frau hat öf­ters von Ih­nen ge­spro­chen, und ich bin ent­zückt, Sie ken­nen­zu­ler­nen.«

Du­roy schritt ihm ent­ge­gen, ver­such­te sei­nem Ge­sicht einen Aus­druck von Herz­lich­keit zu ge­ben und drück­te et­was über­trie­ben ener­gisch die Hand sei­nes Gast­ge­bers. Dann setz­ten sie sich, aber er wuss­te nicht, wie er die Un­ter­hal­tung be­gin­nen soll­te.

Herr de Ma­rel­le leg­te ein Stück Holz ins Feu­er und frag­te:

»Sind Sie schon lan­ge im Jour­na­lis­mus tä­tig?«

»Nein, erst ein paar Mo­na­te«, ant­wor­te­te Du­roy.

»Dann sind Sie aber schnell vor­wärts ge­kom­men.«

»Ja, ziem­lich schnell.« Und er sprach wei­ter, was ihm ge­ra­de durch den Kopf fuhr, mit al­len nichts­sa­gen­den Re­dens­ar­ten, die man so oft un­ter we­nig be­kann­ten Leu­ten an­wen­det. Er be­ru­hig­te sich all­mäh­lich und be­gann, die gan­ze Si­tua­ti­on sehr ko­misch zu fin­den. Er be­trach­te­te die ernst­haf­te und ehr­wür­di­ge Ge­stalt von Herrn de Ma­rel­le, und auf sei­nen Lip­pen zuck­te ein Lä­cheln, wenn er sich sag­te: »Du, ich set­ze dir Hör­ner auf, mein Al­ter, ich set­ze dir Hör­ner auf!« Ihn er­füll­te eine scha­den­fro­he, in­ne­re Ge­nug­tu­ung, die Be­frie­di­gung ei­nes er­folg­rei­chen Die­bes, auf den man kei­nen Ver­dacht hat, eine spitz­bü­bi­sche, köst­li­che Freu­de. Plötz­lich hat­te er das Ver­lan­gen, ein Freund die­ses Man­nes zu wer­den, sein Ver­trau­en zu ge­win­nen und die Ge­heim­nis­se sei­nes Le­bens ken­nen­zu­ler­nen. In die­sem Au­gen­blick trat Ma­da­me de Ma­rel­le ein, be­trach­te­te bei­de mit lä­cheln­dem, un­durch­dring­li­chem Blick und ging dann auf Du­roy zu, der ihr in Ge­gen­wart des Man­nes nicht die Hand zu küs­sen wag­te, wie er es sonst tat.

Sie war ru­hig und lus­tig wie eine Frau, die an al­les ge­wöhnt war und die in ih­rer an­ge­bo­re­nen Ver­dor­ben­heit die­se Be­geg­nung ganz na­tür­lich und ein­fach fand. Dann kam Lau­ri­ne und hielt küh­ler als sonst Du­roy ihre Stirn hin; die Ge­gen­wart ih­res Va­ters mach­te sie schüch­tern.

»Nun,« sag­te die Mut­ter, »heu­te nennst du Herrn Du­roy nicht mehr Bel-Ami?«

Das Kind er­rö­te­te, als hät­te man eine große In­dis­kre­ti­on be­gan­gen, et­was ver­ra­ten, was man nicht sa­gen darf, ein Ge­heim­nis ih­res Her­zens aus­ge­plau­dert.

Als das Ehe­paar Fo­res­tier kam, war man über das Aus­se­hen von Charles ent­setzt. In der letz­ten Wo­che war er furcht­bar blass und ma­ger ge­wor­den und hus­te­te un­auf­hör­lich. Er er­zähl­te, dass sie auf An­ord­nung des Arz­tes nächs­ten Don­ners­tag nach Can­nes füh­ren.

Sie gin­gen früh­zei­tig nach Hau­se und kopf­schüt­telnd sag­te Du­roy:

»Es geht ihm sehr schlecht. Ich glau­be kaum, dass er noch lan­ge le­ben wird.«

»Oh, er ist ver­lo­ren«, er­wi­der­te Ma­da­me de Ma­rel­le mit Über­zeu­gung. »Hat er ein Glück ge­habt, so eine Frau zu fin­den!«

»Hilft sie ihm viel?« frag­te Du­roy.

»Und wie! Sie macht al­les. Sie ist über al­les im Bil­de, sie kennt je­den Men­schen, und tut da­bei so, als sehe sie nie­man­den. Sie setzt durch, was sie will, wie sie will und wann sie will. Oh, sie ist klug, ge­schickt und in­tri­gant wie kei­ne! Für einen Mann, der vor­wärts kom­men will, ist sie ein Schatz.«

»Sie wür­de be­stimmt bald wie­der hei­ra­ten«, sag­te Ge­or­ges.

»Ja,« ant­wor­te­te Ma­da­me de Ma­rel­le, »ich wäre gar nicht er­staunt, wenn sie jetzt schon je­man­den in Sicht hät­te … einen Ab­ge­ord­ne­ten … vor­aus­ge­setzt … dass er nicht nein sagt … denn … denn es gibt schwe­re Hin­der­nis­se … mo­ra­li­scher Art. Üb­ri­gens, was weiß ich?«

Herr de Ma­rel­le brumm­te et­was un­ge­dul­dig:

»Du weißt, ich lie­be nicht, wenn du sol­che An­deu­tun­gen machst. Mi­schen wir uns nie ein in die An­ge­le­gen­hei­ten des an­de­ren, es ge­nügt, wenn man selbst ein ru­hi­ges Ge­wis­sen be­wahrt. Das soll­te für je­den ein Ge­setz sein.«

Du­roy ver­ab­schie­de­te sich et­was ver­wirrt, und un­kla­re Kom­bi­na­tio­nen schwirr­ten durch sei­nen Kopf.

Als er am nächs­ten Tag Fo­res­tiers be­such­te, traf er sie beim Pa­cken. Charles lag auf ei­nem Di­wan, at­me­te schwer und wie­der­hol­te im­mer:

»Ich hät­te vor ei­nem Mo­nat rei­sen sol­len.«

Dann gab er Du­roy eine Rei­he Auf­trä­ge für die Zei­tung, ob­wohl al­les schon mit Herrn Wal­ter ge­re­gelt und be­spro­chen war. Als Ge­or­ges ging, drück­te er ihm leb­haft die Hand und sag­te:

»Also, auf bal­di­ges Wie­der­se­hen, al­ter Freund!«

Ma­da­me Fo­res­tier be­glei­te­te ihn bis zur Tür und er sag­te ihr mit plötz­li­cher Herz­lich­keit:

»Ver­ges­sen Sie nicht un­se­re Ver­ein­ba­rung. Wir sind Freun­de und Ver­bün­de­te, nicht wahr? Also, wenn Sie mich brau­chen, zö­gern Sie nicht, ein Te­le­gramm oder ein Brief — und ich ge­hor­che.«

»Dan­ke, ich wer­de es nicht ver­ges­sen«, flüs­ter­te sie.

Und ihre Au­gen sag­ten ihm: »Dan­ke«, mit ei­nem tie­fen, in­ni­gen Blick.

Als Du­roy die Trep­pe hin­un­ter­ging, be­geg­ne­te er dem Gra­fen Vau­drec, den er schon ein­mal bei ihr ge­se­hen hat­te, und der lang­sam die Trep­pe her­auf­kam. Der Graf schi­en trau­rig zu sein, viel­leicht we­gen der Abrei­se.

Der Jour­na­list woll­te sich als Welt­mann zei­gen und grüß­te ihn au­ßer­or­dent­lich zu­vor­kom­mend.

Der Graf er­wi­der­te sei­nen Gruß höf­lich, aber et­was von oben her­ab.

Am Don­ners­tag abend reis­te das Ehe­paar Fo­res­tier ab.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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