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I

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Ge­or­ges Du­roy hat­te sich wie­der ganz in sei­ne al­ten Ge­wohn­hei­ten ein­ge­lebt.

In sei­ner klei­nen Par­terre­woh­nung in der Rue Con­stan­ti­no­ple leb­te er still und zu­rück­ge­zo­gen, wie ein Mann, der sich auf eine neue Le­bens­füh­rung vor­be­rei­tet. Selbst sei­ne Be­zie­hun­gen zu Ma­da­me de Ma­rel­le hat­ten jetzt einen ehe­li­chen Cha­rak­ter an­ge­nom­men, als ob er sich für das be­vor­ste­hen­de Er­eig­nis ein­üben woll­te. Sei­ne Ge­lieb­te war auch oft sehr er­staunt über die fried­li­che Re­gel­mä­ßig­keit ih­res Zu­sam­men­seins und sag­te ihm la­chend:

»Du bist noch bra­ver und häus­li­cher als mein Mann. Es hat sich wirk­lich nicht ge­lohnt, zu wech­seln.«

Frau Fo­res­tier weil­te noch im­mer in Can­nes. Er er­hielt einen Brief von ihr, worin sie schrieb, dass sie erst Mit­te April zu­rück­käme; von den letz­ten Stun­den ih­res Bei­sam­men­seins schrieb sie nichts. Er war­te­te; er war jetzt fest ent­schlos­sen, sie zu hei­ra­ten und alle Mit­tel an­zu­wen­den, falls sie noch zau­dern soll­te. Er ver­trau­te auf sein Glück und auf die un­wi­der­steh­li­che An­zie­hungs­kraft, die er auf alle Frau­en aus­üb­te, und de­ren er sich wohl be­wusst war.

Ein paar kur­ze Zei­len be­nach­rich­tig­ten ihn, dass die Ent­schei­dungs­stun­de bald schla­gen wür­de.

»Ich bin in Pa­ris, kom­men Sie, mich be­su­chen.

Ma­de­lei­ne Fo­res­tier.«

Nichts wei­ter. Er er­hielt den Brief mit der Neun­uhr­post und kam am sel­ben Tage um drei zu ihr. Sie reich­te ihm bei­de Hän­de und lä­chel­te mit ih­rem rei­zen­den, lie­bens­wür­di­gen Lä­cheln, und ei­ni­ge Se­kun­den lang sa­hen sie ein­an­der tief in die Au­gen.

»Wie lieb war es von Ih­nen, dass Sie mich in mei­ner schreck­li­chen Lage nicht al­lein lie­ßen«, sag­te sie dann lei­se.

»Ich hät­te al­les ge­tan, was Sie mir be­foh­len hät­ten«, er­wi­der­te er.

Da­rauf­hin setz­ten sie sich. Sie er­kun­dig­te sich nach Neu­ig­kei­ten, nach Wal­ters und nach al­len Kol­le­gen auf der Re­dak­ti­on. Sie hat­te oft an die Zei­tung ge­dacht.

»Al­les das fehlt mir sehr«, sag­te sie. »Ich war so ganz und gar Jour­na­lis­tin ge­wor­den. Ich lie­be nun ein­mal die­se Tä­tig­keit.«

Dann schwieg sie. Er glaub­te, sie zu ver­ste­hen; er glaub­te in ih­rem Lä­cheln, in dem Ton ih­rer Stim­me, ja selbst in ih­ren Wor­ten eine Art Auf­for­de­rung zu fin­den. Er hat­te sich zwar vor­ge­nom­men, die Sa­che nicht zu über­stür­zen, aber dann konn­te er nicht mehr an sich hal­ten und stam­mel­te:

»Nun ja … warum … warum wol­len Sie denn nicht die­se Tä­tig­keit un­ter … dem Na­men Du­roy wie­der auf­neh­men?«

Sie wur­de plötz­lich ernst, leg­te die Hand auf sei­nen Arm und sag­te:

»Re­den wir nicht dar­über.«

Doch er ver­stand, dass sie »ja« sag­te; er sank auf die Knie, küss­te lei­den­schaft­lich ihre Hän­de und stot­ter­te im­mer­fort:

»Oh, dan­ke, dan­ke, wie ich Sie lie­be.«

Sie stand auf. Er tat das glei­che und be­merk­te, dass sie sehr bleich war. Da wur­de ihm klar, dass er ihr ge­fal­len hat­te, und viel­leicht schon seit län­ge­rer Zeit. Sie stan­den dicht bei­ein­an­der; er zog sie an sich und drück­te ihr einen lan­gen, zärt­li­chen Kuss auf die Stirn. Sie mach­te sich los, lehn­te sich an sei­ne Brust und fuhr in ernst­haf­tem Tone fort:

»Hö­ren Sie mich an, mein lie­ber Freund, noch bin ich zu gar nichts ent­schlos­sen, aber es wäre nicht un­mög­lich, dass ich ja sag­te. Sie müss­ten mir aber ab­so­lu­te Ver­schwie­gen­heit ver­spre­chen, bis ich Sie da­von ent­bin­de.«

Er schwor es und ging; sein Herz jauchz­te vor Freu­de.

Von da ab be­such­te er sie stets mit großer Vor­sicht und bat sie auch nicht um eine be­stimm­te Zu­sa­ge, denn ihre Art, wie sie über die Zu­kunft sprach, wie sie »spä­ter« sag­te und al­ler­lei Plä­ne ent­warf, in de­nen sie bei­de eine Rol­le spiel­ten, sprach deut­li­cher und doch zar­ter als ein for­mel­les Ja­wort.

Du­roy ar­bei­te­te flei­ßig, gab we­nig aus, ver­such­te et­was Geld zu­rück­zu­le­gen, um bei sei­ner Hei­rat we­nigs­tens et­was Geld zu be­sit­zen. Er wur­de nun eben­so gei­zig, wie er frü­her ver­schwen­de­risch ge­we­sen war.

Der Som­mer ging vor­bei und dann der Herbst, ohne dass je­mand auf den ge­rings­ten Ver­dacht kam, denn sie sa­hen sich sel­ten und so un­auf­fäl­lig wie mög­lich. Ei­nes Abends frag­te ihn Ma­de­lei­ne und sah ihm da­bei tief in die Au­gen:

»Sie ha­ben doch Ma­da­me de Ma­rel­le von un­se­ren Plä­nen noch nichts mit­ge­teilt?«

»Nein, Teu­ers­te, ich ver­sprach Ih­nen, zu schwei­gen und habe kei­ner le­ben­den Men­schen­see­le ein Wort da­von ge­sagt.«

»Nun gut, es wird jetzt Zeit sein, sie dar­auf vor­zu­be­rei­ten. Ich wer­de mei­ner­seits Wal­ters über­neh­men. Also es ge­schieht die­se Wo­che, nicht wahr?«

Er war rot ge­wor­den: »Ja, gut, mor­gen«, sag­te er.

Sie senk­te ihre Au­gen, als wol­le sie sei­ne Ver­wir­rung nicht be­mer­ken, und sag­te:

»Wenn es Ih­nen recht ist, kön­nen wir An­fang Mai hei­ra­ten. Es wür­de sehr gut pas­sen.«

»Ich füge mich Ih­nen mit Freu­den in al­lem.«

»Der zehn­te Mai ist ein Sonn­abend. Er wäre mir be­son­ders lieb, denn es ist mein Ge­burts­tag.«

»Schön, den zehn­ten Mai.«

»Ihre El­tern woh­nen in der Nähe von Rou­en, nicht wahr? So sag­ten Sie mir we­nigs­tens.«

»Ja, dicht bei Rou­en, in Can­te­leu.«

»Was tun sie dort?«

»Sie sind … sie sind klei­ne Rent­ner.«

»Ach, ich freue mich sehr dar­auf, sie ken­nen­zu­ler­nen.«

Er­schro­cken ver­stumm­te er.

»Ja … aber … es sind …«

Dann nahm er sich zu­sam­men und sag­te:

»Mei­ne teu­ers­te Freun­din, es sind Bau­ern, die ein Wirts­haus be­sit­zen, die sich Hän­de und Füße blu­tig ge­ar­bei­tet ha­ben, da­mit ich stu­die­ren konn­te. Ich schä­me mich ih­rer nicht, aber ihre bäu­er­li­che Ein­fach­heit … könn­te Ih­nen viel­leicht doch pein­lich sein.«

Sie lä­chel­te zärt­lich. Ihr Ge­sicht strahl­te von sanf­ter Güte.

»Nein, ich wer­de sie sehr gern ha­ben. Wir wer­den sie be­su­chen. Ich will es. Wir spre­chen nach­her dar­über. Auch mei­ne El­tern wa­ren klei­ne Leu­te. Doch sie sind schon bei­de tot. Ich habe kei­nen Men­schen mehr auf Er­den …« Sie reich­te ihm die Hand und füg­te hin­zu: » … au­ßer Ih­nen!«

Er fühl­te sich ge­rührt und er­grif­fen. Noch nie hat­te eine Frau ihn so be­zau­bert.

»Mir ist noch et­was ein­ge­fal­len,« fuhr sie fort, »aber es ist recht schwer zu er­klä­ren.«

»Was denn?«

»Nun ja, mein Lie­ber, ich bin näm­lich wie alle Frau­en. Ich habe mei­ne klei­nen Schwä­chen. Ich lie­be al­les, was schön glänzt und gut klingt. Ich wür­de so gern einen ad­li­gen Na­men tra­gen. Könn­ten Sie sich ge­le­gent­lich un­se­rer Hei­rat nicht et­was … et­was adeln?«

Dies­mal er­rö­te­te sie, als hät­te sie ihm einen un­pas­sen­den Vor­schlag ge­macht.

Er ant­wor­te­te ein­fach:

»Ich habe schon oft dar­über nach­ge­dacht, aber es scheint wohl nicht so ein­fach zu sein.«

»Wes­halb denn?«

Er lach­te.

»Weil ich nicht lä­cher­lich er­schei­nen will.«

Sie zuck­te die Ach­seln.

»Aber gar nicht, nicht im Ge­rings­ten. Alle Welt tut das und nie­mand lacht dar­über. Zer­le­gen Sie Ihren Na­men ein­fach in zwei Tei­le und nen­nen Sie sich Du Roy! Das geht doch sehr gut.«

Er ant­wor­te­te schnell, wie je­mand, der sich in sol­chen Din­gen gut aus­kennt:

»Nein, das geht nicht. Das Ver­fah­ren ist zu ein­fach, zu ge­wöhn­lich und zu be­kannt. Wohl habe ich schon dar­an ge­dacht, den Na­men mei­ner Hei­mat an­zu­neh­men; zu­nächst als li­te­ra­ri­schen Deck­na­men, ihn dann all­mäh­lich dem mei­ni­gen hin­zu­zu­fü­gen. Spä­ter könn­te ich, wie Sie vor­schla­gen, mei­nen Na­men tei­len.«

»Can­te­leu ist Ihre Hei­mat?«

»Ja.«

Sie über­leg­te.

»Nein, die En­dung ge­fällt mir nicht. Könn­ten wir viel­leicht das Wort et­was än­dern … Can­te­leu?«

Sie nahm eine Fe­der vom Tisch und schrieb ver­schie­de­ne Na­men hin und prüf­te ihr Aus­se­hen. Plötz­lich rief sie:

»Halt! Halt! Ich habe es!«

Sie reich­te ihm ein Stück Pa­pier, auf dem er las:

»Ma­da­me Du­roy de Can­tel.«

Ei­ni­ge Se­kun­den über­leg­te er, dann er­klär­te er ernst:

»Ja, so ist es aus­ge­zeich­net.«

Sie war ent­zückt und wie­der­hol­te mehr­mals:

»Du­roy de Can­tel, Du­roy de Can­tel, Ma­da­me Du­roy de Can­tel. Vor­treff­lich! Fa­bel­haft! Sie wer­den se­hen, wie leicht sich alle Welt dar­an ge­wöhnt. Man muss die Ge­le­gen­heit aus­nut­zen, denn nach­her wür­de es zu spät sein.

Von mor­gen ab zeich­nen Sie Ihre Ar­ti­kel D. de Can­tel. Und die Lo­kal­nach­rich­ten le­dig­lich mit Du­roy. Das kommt in der Pres­se je­den Tag vor, und nie­mand wird sich wun­dern, dass Sie einen Schrift­stel­ler­na­men an­neh­men. So­bald wir ver­hei­ra­tet sind, kön­nen wir das noch ein biss­chen än­dern und un­se­ren Freun­den sa­gen, Sie hät­ten aus Be­schei­den­heit das ›du‹ nicht her­vor­ge­ho­ben in An­be­tracht Ih­rer Stel­lung, oder wir brau­chen auch gar nichts zu sa­gen. Wie heißt Ihr Va­ter mit Vor­na­men?«

»Alex­an­der.«

Sie mur­mel­te zwei-, drei­mal hin­ter­ein­an­der:

»Alex­an­der, Alex­an­der«, und lausch­te auf den Wohl­klang der Sil­ben; dann schrieb sie auf ein lee­res Blatt Pa­pier:

»Herr und Frau Alex­an­der Du Roy de Can­tel beeh­ren sich, die Hoch­zeit ih­res Soh­nes, Herrn Ge­or­ges Du Roy de Can­tel mit Frau Ma­de­lei­ne Fo­res­tier an­zu­zei­gen.«

Sie hielt die Schrift et­was von sich ab und er­klär­te, ent­zückt über die Wir­kung:

»Mit et­was Kon­se­quenz er­reicht man al­les, was man will.«

Als er sich auf der Stra­ße be­fand, war er fest ent­schlos­sen, sich in Zu­kunft nur noch Du Roy oder selbst Du Roy de Can­tel zu nen­nen. Und er fühl­te sich, als wäre ihm eine ganz neue Wür­de über­tra­gen wor­den. Er ging for­scher, trug den Kopf hö­her und den Schnurr­bart stolz ge­wir­belt, wie es ei­nem Edel­mann ge­ziemt. Er hat­te die größ­te Lust, al­len Vor­über­ge­hen­den zu­zu­ru­fen: »Ich hei­ße jetzt Du Roy de Can­tel.«

Aber kaum war er in sei­ner Woh­nung an­ge­langt, da be­gann ihn der Ge­dan­ke an Ma­da­me de Ma­rel­le zu be­un­ru­hi­gen. Er schrieb ihr so­fort und bat sie für mor­gen um eine Zu­sam­men­kunft. »Es wird eine schwe­re Stun­de wer­den,« dach­te er, »ich wer­de einen schreck­li­chen Sturm her­auf­be­schwö­ren.«

In sei­ner ge­wohn­ten Sorg­lo­sig­keit, die ihn alle un­an­ge­neh­men Din­ge des Le­bens ein­fach bei­sei­te schie­ben ließ, wuss­te er sich sehr leicht zu trös­ten und be­gann einen fan­tas­ti­schen Ar­ti­kel über die neu­en Steu­ern zu schrei­ben, durch die das Bud­get ge­deckt wer­den soll­te.

Er for­der­te für die Adelsprä­di­ka­te »de« (von) hun­dert Fran­cs Jahres­steu­er, und für die Ti­tel vom Baron bis zum Fürs­ten fünf­hun­dert bis fünf­tau­send Fran­cs. Und er zeich­ne­te mit: D. de Can­tel.

Am fol­gen­den Tage er­hielt er von sei­ner Ge­lieb­ten ein blau­es Brief­chen, das ih­ren Be­such um ein Uhr an­kün­dig­te.

Er er­war­te­te sie in et­was fie­ber­haf­tem Zu­stan­de. Üb­ri­gens war er fest ent­schlos­sen, die Sa­che schnell und ener­gisch zu er­le­di­gen, gleich al­les her­aus­zu­sa­gen und ihr dann nach der ers­ten Er­re­gung mit al­len mög­li­chen Grün­den zu be­wei­sen, dass er nicht ewig Jung­ge­sel­le blei­ben könn­te; und da Herr de Ma­rel­le durch­aus nicht ster­ben woll­te, so blie­be ihm eben nichts an­de­res üb­rig, als sich nach ei­ner an­de­ren recht­mä­ßi­gen Le­bens­ge­fähr­tin um­zu­se­hen. Trotz­dem fühl­te er sich in­ner­lich er­regt, und als die Klin­gel er­tön­te, be­gann sein Herz laut zu klop­fen.

Sie warf sich ihm in die Arme:

»Gu­ten Tag, Bel-Ami!« rief sie.

Doch sie merk­te so­fort, wie kühl er ihre Be­grü­ßung er­wi­der­te, blick­te ihn an und frag­te:

»Was hast du denn?«

»Set­ze dich,« sag­te er, »wir müs­sen ernst mit­ein­an­der re­den.«

Sie setz­te sich, ohne den Hut ab­zu­neh­men, lüf­te­te nur ih­ren Schlei­er und sah ihn er­war­tungs­voll an.

Er hat­te den Blick ge­senkt und be­gann nun mit lang­sa­mer Stim­me:

»Mei­ne Liebs­te, du siehst, wie schmerz­lich und pein­lich mich das er­regt, was ich dir jetzt sa­gen muss. Ich lie­be dich sehr, ich lie­be dich wirk­lich aus tiefs­tem Her­zen, und der Ge­dan­ke, dir Schmer­zen be­rei­ten zu müs­sen, be­trübt mich mehr als die Nach­richt selbst, die ich dir mit­tei­le.«

Sie wur­de sehr bleich und stam­mel­te zit­ternd:

»Was ist es? Sag’ es schnell.«

Er ver­setz­te in trau­ri­gem, aber ent­schlos­se­nem Tone mit je­ner ge­heu­chel­ten Nie­der­ge­schla­gen­heit, mit der man an­ge­neh­me Un­glücks­nach­rich­ten zu er­zäh­len pflegt:

»Ich will hei­ra­ten.«

Sie stieß einen Seuf­zer aus wie eine Frau, die ohn­mäch­tig wird, einen schmerz­er­füll­ten Seuf­zer, der aus der Tie­fe ih­rer Brust kam. Dann be­gann sie so stark zu schluch­zen, dass sie kein Wort her­vor­brin­gen konn­te.

Als er sah, dass sie nichts er­wi­der­te, be­gann er von. neu­em:

»Du kannst dir nicht vor­stel­len, was ich ge­lit­ten habe, ehe ich zu die­sem Ent­schluss kam. Aber ich habe we­der eine ge­si­cher­te Stel­lung noch Geld. Al­lein bin ich in Pa­ris ver­lo­ren. Ich muss je­man­den ne­ben mir ha­ben, der mir ra­ten, mich trös­ten und mich stüt­zen kann. Ich such­te eine Ge­fähr­tin, eine Ver­bün­de­te, und ich habe sie ge­fun­den!«

Da­rauf­hin schwieg er, in der Hoff­nung, dass sie et­was ant­wor­ten wür­de; er er­war­te­te einen Wu­t­an­fall, hef­ti­ge Be­lei­di­gun­gen und Schimpf­wor­te.

Sie press­te die eine Hand auf ihr Herz, als müss­te sie es hal­ten; sie at­me­te müh­sam und schluchz­te un­un­ter­bro­chen, so­dass ihre Brust wog­te und der Kopf zit­ter­te.

Er er­griff ihre an­de­re Hand, die auf der Leh­ne des Ses­sels lag, doch sie zog sie hef­tig zu­rück. Und wie ge­lähmt mur­mel­te sie:

»Oh … Mein Gott! …«

Er knie­te vor ihr nie­der, wag­te aber nicht, sie zu be­rüh­ren. Ihr Schwei­gen er­reg­te ihn mehr als ein Zorn­aus­bruch es ver­mocht hät­te, und er stam­mel­te:

»Clo, mei­ne lie­be, klei­ne Clo, du musst nur be­den­ken, in wel­cher Lage ich bin. Oh, wenn ich dich hät­te hei­ra­ten kön­nen, wel­ches Glück! Doch du bist ja ver­hei­ra­tet. Was konn­te ich tun? Über­le­ge es dir nur! Ich muss mir eine Stel­lung in der Ge­sell­schaft schaf­fen, und das kann ich nicht, so­lan­ge ich kein Heim ha­be… Es gab Tage, wo ich dei­nen Mann hät­te tö­ten kön­nen …«

Sei­ne Stim­me klang sanft ver­schlei­ert und ver­füh­re­risch, als ob ihr Mu­sik ins Ohr drang.

Er sah zwei große Trä­nen lang­sam in den star­ren Au­gen sei­ner Ge­lieb­ten wach­sen und dann über ihre Wan­gen rin­nen, wäh­rend sich schon wie­der zwei neue zwi­schen den Au­gen­li­dern bil­de­ten.

Er mur­mel­te:

»Oh, wei­ne nicht, Clo, wei­ne nicht, ich bit­te dich dar­um. Du zer­reißt mir das Herz.«

Mit ei­ner star­ken An­stren­gung zwang sie sich zu ei­ner stol­zen und wür­di­gen Hal­tung. Und mit ei­ner zit­tern­den Stim­me, die die Frau­en beim Schluch­zen ha­ben, frag­te sie:

»Wer ist es?«

Er zau­der­te einen Au­gen­blick; dann sah er ein, dass er es sa­gen müss­te:

»Ma­de­lei­ne Fo­res­tier.«

Ma­da­me de Ma­rel­le er­beb­te am gan­zen Lei­be, dann blick­te sie stumm vor sich hin; sie ver­sank in ein tie­fes Nach­den­ken, so­dass sie an­schei­nend ver­ges­sen hat­te, dass er ihr zu Fü­ßen knie­te.

Und in ih­ren Au­gen bil­de­ten sich wie­der große, durch­sich­ti­ge Trä­nen, die lang­sam hin­a­b­roll­ten.

Sie stand auf. Du­roy fühl­te, dass sie ge­hen woll­te, ohne ein Wort des Vor­wurfs oder der Ver­zei­hung, und das ver­letz­te und de­mü­tig­te ihn bis ins Tiefs­te sei­ner See­le. Er woll­te sie zu­rück­hal­ten und um­schlang mit bei­den Ar­men ihr Kleid. Er fühl­te, wie ihre run­den Schen­kel sich un­ter dem Rock spann­ten, um ihm Wi­der­stand zu leis­ten. Er fleh­te sie an:

»Ich be­schwö­re dich, geh nicht so fort!«

Da blick­te sie ihn von oben bis un­ten an, mit dem feuch­ten, ver­zwei­fel­ten Blick, der so be­zau­bernd und so trau­rig war und der den gan­zen Schmerz ei­ner Frau ver­rät:

»Ich habe … ich habe nichts zu sa­gen,« stam­mel­te sie, »… ich kann nichts tun … du … hast recht ge­han­delt … du … du hast gut ge­wählt … was du brauchst …«

Sie mach­te sich mit ei­ner schnel­len Be­we­gung nach rück­wärts von ihm los und ging fort, ohne dass er noch ver­sucht hät­te, sie zu­rück­zu­hal­ten.

Als er al­lein war, stand er auf, be­täubt, als hät­te er einen Schlag auf den Kopf er­hal­ten. Dann nahm er sich zu­sam­men und mur­mel­te:

»Na, so oder so, es ist er­le­digt … we­nigs­tens ohne Sze­ne. Das ist mir ganz recht.«

Und plötz­lich fühl­te er sich wie von ei­ner schwe­ren Last be­freit; das neue Le­ben konn­te be­gin­nen. Auf ein­mal be­gann er mit der Faust ge­gen die Wand zu schla­gen, mit hef­ti­gen Schlä­gen, be­rauscht von Kraft und Er­folg, als kämp­fe er mit dem Schick­sal.

Als Ma­da­me Fo­res­tier ihn frag­te:

»Ha­ben Sie Ma­da­me de Ma­rel­le be­nach­rich­tigt?« — ant­wor­te­te er ru­hig:

»Ja, ge­wiss.«

Sie be­ob­ach­te­te ihn mit ih­rem kla­ren, klu­gen Blick und frag­te:

»War sie sehr er­regt dar­über?«

»Aber nein, nicht die Spur; sie fand es im Ge­gen­teil sehr gut.«

Die Kun­de ver­brei­te­te sich rasch. Die einen wa­ren er­staunt, die an­de­ren be­haup­te­ten, sie hät­ten es vor­aus­ge­se­hen, an­de­re lä­chel­ten und lie­ßen durch­bli­cken, es hät­te sie kei­nes­wegs über­rascht.

Der jun­ge Mann zeich­ne­te jetzt die Feuil­le­tons mit D. de Can­tel, die Lo­kal­be­rich­te mit Du­roy und die po­li­ti­schen Ar­ti­kel, die er von Zeit zu Zeit für das Blatt schrieb, mit du Roy. Er ver­brach­te den hal­b­en Tag bei sei­ner Ver­lob­ten, die ihn mit brü­der­li­cher Ver­traut­heit be­han­del­te, in die sich je­doch eine wirk­li­che, wenn auch zu­rück­hal­ten­de Ver­trau­lich­keit misch­te, eine Art Ver­lan­gen, das ver­bor­gen blieb, aus Furcht, für eine Schwä­che ge­hal­ten zu wer­den.

Sie hat­ten be­schlos­sen, dass die Hoch­zeit in al­ler Stil­le statt­fin­den soll­te, nur in Ge­gen­wart der Trau­zeu­gen, und dass sie noch am sel­ben Abend nach Rou­en ab­rei­sen woll­ten. Am nächs­ten Tage woll­ten sie die al­ten El­tern des Jour­na­lis­ten be­su­chen und ein paar Tage bei ih­nen blei­ben.

Du­roy ver­such­te, sie von die­sem Vor­ha­ben ab­zu­brin­gen, aber es ge­lang ihm nicht, und so füg­te er sich schließ­lich.

Der 10. Mai war ge­kom­men. Das jun­ge Paar be­gab sich zum Stan­des­amt, und da sie die kirch­li­che Trau­ung für über­flüs­sig hiel­ten und kei­nen Men­schen ein­ge­la­den hat­ten, kehr­ten sie nach Hau­se zu­rück, um ihre Kof­fer zu schlie­ßen. Mit dem Zuge um sechs Uhr abends fuh­ren sie vom Bahn­hof Saint-La­za­re nach der Nor­man­die.

Bis zu dem Au­gen­blick, wo sie al­lein im Ei­sen­bahn­zu­ge wa­ren, hat­ten sie kei­ne zwan­zig Wor­te mit­ein­an­der ge­wech­selt. So­bald sie merk­ten, dass der Zug sich in Be­we­gung setz­te, sa­hen sie sich an und be­gan­nen zu lä­cheln, um eine ge­wis­se Ver­le­gen­heit zu ver­ber­gen, von der sie nichts mer­ken las­sen woll­ten.

Der Zug fuhr lang­sam durch den lan­gen Bahn­hof von Ba­ti­gnol­les, dann durch­eil­te er die häss­li­che, fla­che Stre­cke zwi­schen den Forts und der Sei­ne.

Du­roy und sei­ne Frau spra­chen zu­wei­len ein paar un­nüt­ze Wor­te und wand­ten sich dann wie­der dem Fens­ter zu; als sie über die Brücke bei As­nières ka­men, stimm­te sie der An­blick des Flus­ses, der von Boo­ten, Ang­lern und Ru­de­rern wim­mel­te, hei­ter und fröh­lich. Die kräf­ti­ge Mai­son­ne warf ihre schrä­gen Abend­strah­len auf die Boo­te und den ru­hi­gen Fluss, der un­ter der Glut der sin­ken­den Son­ne un­be­weg­lich wie eine Glas­flä­che er­schi­en. Eine Se­gel­jacht mit­ten auf dem Was­ser­spie­gel hat­te ihre zwei großen, wei­ßen Lei­ne­wand­drei­e­cke aus­ge­spannt, um auch den lei­ses­ten Wind­hauch auf­zu­fan­gen, und glich so ei­nem rie­si­gen Vo­gel, der ge­ra­de im Be­griff war, auf­zu­flat­tern.

»Ich schwär­me für die Um­ge­bung von Pa­ris«, mur­mel­te Du­roy. »So herr­lich ge­rös­te­te Fi­sche wie hier habe ich in mei­nem Le­ben nie ge­ges­sen.«

»Und das Boot­fah­ren«, er­wi­der­te sie. »Wie schön ist es, bei Son­nen­un­ter­gang über das Was­ser zu glei­ten.«

Dann schwie­gen sie, als ob sie nicht ge­wagt hät­ten, noch mehr von ih­rem ver­gan­ge­nen Le­ben aus­zu­plau­dern; sie blie­ben stumm und kos­te­ten viel­leicht schon die Poe­sie des Zu­rück­seh­nens.

Du­roy saß sei­ner Frau ge­gen­über. Er er­griff ihre Hand und küss­te sie lang­sam und be­däch­tig.

»Wenn wir zu­rück sind, wol­len wir öf­ters bei Cha­tou es­sen.«

»Wir wer­den so viel zu tun ha­ben,« mein­te sie in ei­nem Ton, als woll­te sie sa­gen: »Man muss das An­ge­neh­me dem Nütz­li­chen op­fern.«

Er hielt noch im­mer ihre Hand und über­leg­te un­ru­hig, auf wel­chem Wege er zu Zärt­lich­kei­ten über­ge­hen konn­te. Vor der Un­wis­sen­heit ei­nes jun­gen Mäd­chens wäre er da­bei we­ni­ger in Ver­le­gen­heit ge­we­sen, aber die raf­fi­nier­te Er­fah­rung und der schnel­le Ver­stand, den er bei Ma­de­lei­ne vor­aus­setz­te, mach­te sei­ne Hal­tung schüch­tern und un­si­cher. Er fürch­te­te, in ih­ren Au­gen lin­kisch und al­bern zu er­schei­nen, zu ängst­lich oder zu bru­tal, zu lang­sam oder zu has­tig vor­zu­ge­hen. Er drück­te lei­se ihre Hand, ohne dass sie den Druck er­wi­der­te.

»Es kommt mir sehr ko­misch vor,« sag­te er, »dass Sie mei­ne Frau sind.«

»Wa­rum?« frag­te sie über­rascht.

»Ich weiß nicht. Ich habe ein selt­sa­mes Ge­fühl; ich möch­te Sie küs­sen und wun­de­re mich, dass ich ein Recht dazu habe.«

Sie hielt ihm ru­hig die Wan­ge hin, und er küss­te sie, wie er eine Schwes­ter ge­küsst hät­te.

Er führ fort:

»Das ers­te Mal, wo ich Sie sah, er­in­nern Sie sich, es war bei dem Di­ner, zu wel­chem mich Fo­res­tier ein­ge­la­den hat­te, da dach­te ich mir: ›Herr­gott, wenn ich nur so eine Frau fin­den könn­te!‹ Nun ist es ge­sche­hen, ich habe sie.«

»Es ist rei­zend«, mur­mel­te sie und sah ihn da­bei mit ih­ren stets lä­cheln­den Au­gen an.

Er dach­te: »Ich bin zu kalt. Ich bin blöd, ich muss ener­gi­scher aufs Ziel ge­hen.« Und er frag­te:

»Wie ha­ben Sie Fo­res­tier ei­gent­lich ken­nen­ge­lernt?«

Sie ant­wor­te­te her­aus­for­dernd und bos­haft:

»Rei­sen wir denn nach Rou­en, um uns von ihm zu un­ter­hal­ten?«

Er wur­de rot.

»Ich bin zu dumm. Aber Sie ma­chen mich ver­le­gen und schüch­tern.«

Sie war ent­zückt:

»Ich? Nicht mög­lich! Aber wes­halb denn?«

Er setz­te sich ganz dicht ne­ben sie. Da rief sie:

»Ach, ein Hirsch!«

Der Zug fuhr durch den Wald von St. Ger­main, und ein er­schreck­ter Reh­bock sprang über eine Lich­tung. Du­roy hat­te sich über sie ge­beugt; wäh­rend sie durch das of­fe­ne Fens­ter hin­aus­blick­te, drück­te er ihr einen lan­gen Lie­bes­kuss auf den Na­cken.

Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke saß sie un­be­weg­lich, dann bog sie den Kopf zu­rück und sag­te:

»Sie kit­zeln mich, jetzt ge­nug.«

Aber er ließ nicht los, son­dern strich lei­se mit er­re­gen­der und an­hal­ten­der Lieb­ko­sung sei­nen ge­kräu­sel­ten Schnurr­bart über ihre wei­ße Haut.

Sie zuck­te zu­sam­men.

»Hö­ren Sie doch nun end­lich auf!«

Er schob sei­ne rech­te Hand um ih­ren Kopf, pack­te und dreh­te ihn zu sich. Dann warf er sich auf ih­ren Mund, wie ein Raub­vo­gel auf sei­ne Beu­te. Sie wehr­te sich, stieß ihn zu­rück; end­lich ge­lang es ihr, sich von ihm los­zu­ma­chen.

»Las­sen Sie es doch!« rief sie im­mer wie­der.

Aber er hör­te nicht zu, er press­te sie in sei­ne Arme, küss­te sie mit be­ben­den, be­gie­ri­gen Lip­pen und ver­such­te, sie auf die Pols­ter­bank zu­rück­zu­wer­fen.

Sie riss sich mit al­ler Ge­walt von ihm los und sprang hef­tig auf:

»Aber wirk­lich, Ge­or­ges, las­sen Sie das doch! Wir sind doch kei­ne Kin­der, dass wir nicht bis Rou­en war­ten kön­nen.«

Mit ro­tem Kopf blieb er sit­zen; die­se ver­nünf­ti­gen Wor­te hat­ten ihn sehr er­nüch­tert; er nahm sich zu­sam­men und sag­te in hei­te­rem Tone:

»Gut, ich wer­de war­ten, aber bis Rou­en spre­che ich kei­ne zwan­zig Wor­te mehr, und be­den­ken Sie, wir fah­ren eben erst an Pois­sy vor­bei.«

»Dann wer­de ich re­den«, sag­te sie.

Und sie setz­te sich ru­hig wie­der ne­ben ihn hin.

Dann be­gann sie klar und deut­lich dar­über zu spre­chen, was sie nach ih­rer Rück­kehr tun wür­den. Sie wür­den die Woh­nung be­hal­ten, die sie mit ih­rem ers­ten Gat­ten ge­teilt hat­te; au­ßer­dem soll­te Du­roy die Stel­lung und das Ge­halt Fo­res­tiers bei der Vie Françai­se er­ben. Üb­ri­gens hat­te sie alle fi­nan­zi­el­len Ein­zel­hei­ten des Haus­halts mit der Si­cher­heit ei­nes er­fah­re­nen Ge­schäfts­man­nes noch vor der Ehe­schlie­ßung ge­re­gelt. Es soll­te Gü­ter­tren­nung herr­schen, und es war für alle mög­li­chen Fäl­le Vor­sor­ge ge­trof­fen, für den Tod oder eine Schei­dung, eben­so wie für die Ge­burt ei­nes oder meh­re­rer Kin­der. Der jun­ge Mann brach­te nach sei­ner Aus­sa­ge vier­tau­send Fran­cs in die Ehe; von die­ser Sum­me hat­te er sich fünf­zehn­hun­dert aus­ge­lie­hen, den Rest hat­te er sich wäh­rend des letz­ten Jah­res er­spart. Die jun­ge Frau brach­te vier­zig­tau­send Fran­cs in die Ehe mit, die ihr, wie sie be­haup­te­te, Fo­res­tier hin­ter­las­sen hat­te. Sie kam wie­der auf ihn zu spre­chen und stell­te ihn als Vor­bild hin: er war ein sehr spar­sa­mer, sehr or­dent­li­cher und flei­ßi­ger Mensch. Er hät­te in kur­z­er Zeit ein Ver­mö­gen er­wor­ben.

Du­roy hör­te gar nicht hin, denn er war zu sehr mit an­de­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt.

Sie hielt bis­wei­len inne, um ir­gend­wel­chen ge­hei­men Ge­dan­ken nach­zu­sin­nen und fuhr dann fort:

»In drei bis vier Jah­ren wer­den Sie wohl im­stan­de sein, jähr­lich drei­ßig­tau­send bis vier­zig­tau­send Fran­cs zu ver­die­nen. So viel hät­te auch Charles ver­die­nen kön­nen, wenn er am Le­ben ge­blie­ben, wäre.«

Ge­or­ges be­gann die Lek­ti­on lang­wei­lig zu fin­den:

»Ich den­ke,« er­wi­der­te er, »wir sind nicht nach Rou­en ge­fah­ren, um da­von zu re­den.«

Sie gab ihm einen leich­ten Klaps auf die Ba­cke und sag­te la­chend:

»Es ist wahr, ich war im Un­recht.«

Er hielt zum Scherz sei­ne Hän­de auf den Kni­en, wie ein klei­ner, ar­ti­ger Jun­ge.

»So se­hen Sie recht kin­disch aus!« sag­te sie.

»Das ist mei­ne Rol­le,« ant­wor­te­te er, »in die Sie mich eben zu­recht­ge­wie­sen ha­ben. Ich wer­de nicht mehr aus ihr her­aus­fal­len.«

»Wie­so?« frag­te sie.

»Weil Sie die Ober­lei­tung über den gan­zen Haus­halt und auch über mei­ne Per­son über­nom­men ha­ben; Sie sind Wit­we und es wird sich auch so ge­hö­ren.«

»Was mei­nen Sie ei­gent­lich da­mit?« frag­te sie er­staunt.

»Dass Sie Er­fah­rung ge­nug be­sit­zen, um mei­ne Un­wis­sen­heit wettz­u­ma­chen, und eine Pra­xis in der Ehe, um mir mei­ne Jung­ge­sel­le­nun­schuld ab­zu­ge­wöh­nen. Das soll es hei­ßen, ja!«

Sie lach­te vor Ver­gnü­gen laut auf und rief:

»Das geht schon zu weit!«

»So liegt die Sa­che. Ich ken­ne die Frau­en nicht … Und Sie ken­nen si­cher die Män­ner, da Sie Wit­we wa­ren … Sie wer­den mei­ne Er­zie­he­rin sein … heu­te Abend schon. Sie kön­nen, wenn Sie wol­len, gleich schon da­mit an­fan­gen!«

Hei­ter und lus­tig rief sie aus:

»Oh! Wenn Sie dar­auf rech­nen …«

»Ge­wiss,« er­wi­der­te er in dem Ton ei­nes Schü­lers, der sei­ne Schul­auf­ga­be wie­der­holt, »dar­auf rech­ne ich. Ich rech­ne so­gar dar­auf, dass Sie mir einen gründ­li­chen Un­ter­richt er­tei­len … in zwan­zig Stun­den … zehn für die An­fangs­grund­la­gen … Vor­le­sen und Gram­ma­tik … zehn für die Ver­voll­komm­nung und die Rhe­to­rik, Ich weiß doch nichts.«

Sehr be­lus­tigt rief sie:

»Du bist zu dumm.«

»Da du mich end­lich zu du­zen an­fängst, will ich dei­nem Bei­spiel fol­gen und dir sa­gen, mein Lieb­ling, dass ich dich von Se­kun­de zu Se­kun­de mehr lie­be und dass ich den Weg bis Rou­en viel zu weit fin­de.«

Er sprach jetzt im Tone ei­nes Schau­spie­lers, mit ko­mi­schem Mie­nen­spiel und Ge­bär­den; das mach­te der jun­gen Frau viel Spaß, denn sie war an die tol­len Scher­ze der Schrift­stel­ler­bo­he­me ge­wöhnt.

Sie sah ihn von der Sei­te an und fand ihn wirk­lich rei­zend. Sie hat­te das Ver­lan­gen, ihm einen Kuss zu ge­ben, als ob sie eine Frucht vom Bau­me es­sen woll­te, wäh­rend der Ver­stand ihr riet, die Mahl­zeit ab­zu­war­ten. Dann sag­te sie, er­rö­tend von den Ge­füh­len, die sie be­stürm­ten:

»Mein klei­ner Schü­ler, glau­ben Sie mir, glau­ben Sie mei­ner großen Er­fah­rung: Küs­se im Ei­sen­bahn­wa­gen tau­gen nichts. Sie ge­hen auf den Ma­gen.«

Dann wur­de ihre Ge­sichts­far­be noch rö­ter und sie mur­mel­te:

»Man muss die Früch­te nie zu früh pflücken.«

Er grins­te, er­regt durch die Zwei­deu­tig­kei­ten, die die­sem hüb­schen Mund ent­quol­len; dann mach­te er das Zei­chen des Kreu­zes, in­dem er die Lip­pen be­weg­te, als ob er ein Ge­bet mur­mel­te:

»Ich habe mich un­ter den Schutz des hei­li­gen An­to­ni­us ge­stellt,« er­klär­te er, »dem Schutz­hei­li­gen ge­gen die Ver­su­chung; ich bin jetzt wie eine Bild­säu­le aus Bron­ze.«

Die Nacht kam her­an und hüll­te die wei­ten Fel­der, die sich rechts der Bahn aus­dehn­ten, in ein durch­sich­ti­ges Dun­kel, ähn­lich ei­nem leich­ten Flor­schlei­er. Der Zug fuhr an der Sei­ne ent­lang, und das jun­ge Paar blick­te in den Fluss, des­sen Ober­flä­che sich wie ge­schlif­fe­nes Me­tall, wie ein lan­ges, glän­zen­des Band ne­ben den Schie­nen hin­zog. Rote Re­fle­xe spie­gel­ten sich fle­cken­wei­se vom Him­mel ab, den die un­ter­ge­hen­de Son­ne mit Pur­pur und Feu­er be­deck­te. Auch die­se leuch­ten­den Stel­len er­lo­schen und wur­den all­mäh­lich dun­kel und düs­ter. Die Fel­der wur­den schwarz, und dar­über schweb­te je­ner un­heim­li­che To­des­schau­er, den jede Däm­me­rung auf die Erde bringt.

Die me­lan­cho­li­sche Abend­stim­mung drang auch durch das of­fe­ne Fens­ter in die See­len des noch eben so hei­te­ren, jun­gen Paa­res und ließ sie ver­stum­men. Sie wa­ren nä­her an­ein­an­der ge­rückt, um den To­des­kampf die­ses schö­nen, hel­len Mai­ta­ges an­zu­se­hen.

In Man­tes wur­de eine klei­ne Öl­lam­pe an­ge­zün­det, die auf den grau­en Stoff­be­zug der Sitz­pols­ter ihr gel­bes, zit­tern­des Licht warf.

Du­roy leg­te einen Arm um die Tail­le sei­ner Frau und press­te sie an sich. Sein hef­ti­ges Ver­lan­gen wur­de im­mer ver­zeh­ren­der; es wur­de zu ei­ner trös­ten­den, zärt­li­chen Lieb­ko­sung, zu ei­ner Lieb­ko­sung, mit der man Kin­der ein­wiegt.

Ganz lei­se flüs­ter­te er:

»Ich wer­de dich sehr lieb­ha­ben, mei­ne klei­ne Made.«

Der zar­te Klang der Stim­me er­reg­te plötz­lich die jun­ge Frau und ein lei­ses Zit­tern lief über ihre Haut. Sie bot ihm ihre Lip­pen, in­dem sie sich über ihn neig­te, denn er hat­te die Wan­ge auf ih­ren war­men Bu­sen ge­legt.

Es war ein lan­ger, tiefer und stum­mer Kuss. Dann sprang er auf und riss sie rasch und wild an sich. Es folg­te ein keu­chen­des Rin­gen und eine hef­ti­ge und un­ge­schick­te Umar­mung. Dann blie­ben sie Arm in Arm lie­gen, bei­de ein we­nig ent­täuscht, müde und im­mer noch zärt­lich, bis das Pfei­fen des Zu­ges die Nähe des Bahn­hofs an­kün­dig­te.

Sie glät­te­te mit den Fin­ger­spit­zen die zer­zaus­ten Haa­re an den Schlä­fen und er­klär­te:

»Es war recht tö­richt; wir sind wie die klei­nen Kin­der.«

Aber er küss­te ihr has­tig und fie­ber­haft die bei­den Hän­de, eine nach der an­de­ren und er­klär­te:

»Ich lie­be dich über al­les, mei­ne klei­ne Made.«

Bis Rou­en sa­ßen sie Wan­ge an Wan­ge ge­lehnt, fast un­be­weg­lich, und blick­ten durch das Fens­ter in die Nacht hin­aus, und sa­hen hin und wie­der die Lich­ter ein­zel­ner Häu­ser vor­über­flie­gen.

Sie wa­ren zu­frie­den, so nahe bei­ein­an­der zu sein und träum­ten von der in­ne­ren An­nä­he­rung und Ve­rei­ni­gung, die sie er­war­te­ten.

Sie stie­gen in ei­nem Ho­tel ab, des­sen Fens­ter nach dem Ufer hin­aus­gin­gen. Nach­dem sie abends ein we­nig ge­ges­sen hat­ten, gin­gen sie zur Ruhe.

Das Zim­mer­mäd­chen weck­te sie am nächs­ten Mor­gen um acht Uhr und stell­te zwei Tas­sen Tee auf den Nacht­tisch.

Du­roy sah sei­ne Frau an und schloss sie in sei­ne Arme mit stür­mi­scher Freu­de ei­nes Man­nes, der einen kost­ba­ren Schatz ge­fun­den hat, und lei­se flüs­ter­te er ihr ins Ohr:

»Mei­ne klei­ne Made, ich füh­le, dass ich dich sehr, sehr, sehr lie­be!«

Sie lä­chel­te ihm zu­frie­den und ver­trau­ens­voll zu, er­wi­der­te sei­ne Küs­se und mur­mel­te:

»Ich dich auch … viel­leicht …«

Der be­vor­ste­hen­de Be­such bei sei­nen El­tern be­un­ru­hig­te Du­roy. Er hat­te sei­ne Frau schon oft ge­warnt und auf al­les vor­be­rei­tet. Jetzt fing er noch ein­mal an:

»Weißt du, es sind Bau­ern, rich­ti­ge Bau­ern vom Lan­de, nicht von der ko­mi­schen Oper.«

Sie lach­te: »Ich weiß es doch, du hast mir oft ge­nug das ge­sagt. Also steh auf, und lass mich auch auf­ste­hen.«

Er sprang aus dem Bett, zog sei­ne St­rümp­fe an und sag­te:

»Wir wer­den es sehr un­be­quem ha­ben. In mei­nem Zim­mer steht nur ein Bett mit ei­nem Stroh­sack. In Can­te­leu kennt man kei­ne Ross­haar­ma­trat­zen.«

Sie schi­en ent­zückt zu sein.

»Umso bes­ser. Es wird so herr­lich sein, mal schlecht ne­ben … ne­ben dir zu schla­fen… und mit dem Hah­nen­schrei auf­zu­wa­chen.«

Sie hat­te einen Mor­gen­rock aus weißem Fla­nell an­ge­zo­gen, den Du­roy so­fort er­kann­te. Die­ser An­blick war ihm un­an­ge­nehm. Wa­rum? Er wuss­te, dass sei­ne Frau ein vol­les Dut­zend sol­cher Mor­gen­klei­der hat­te. Sie konn­te frei­lich nicht ihre Aus­s­teu­er ver­nich­ten, um sich eine neue zu kau­fen. Wie es auch sei, es wäre ihm lie­ber ge­we­sen, dass ihre Wä­sche, ihre Nacht- und Leib­wä­sche nicht die glei­che wäre wie bei dem an­de­ren. Ihm schi­en, als ob der wei­che, war­me Stoff et­was von Fo­res­tiers Berüh­rung be­wahrt ha­ben müss­te.

Er ging ans Fens­ter und steck­te sich eine Zi­ga­ret­te an. Der An­blick des Ha­fens und des brei­ten Stro­mes mit sei­nen Schif­fen und ih­ren schlan­ken Mas­ten, mit sei­nen plum­pen Damp­fern, de­ren La­dung von Dampf­krä­nen mit lau­tem Lärm auf die Kais aus­ge­la­den wur­de, — das al­les pack­te ihn, ob­wohl er es schon lan­ge kann­te. Und er rief:

»O Gott, ist das schön!«

Ma­de­lei­ne kam her­bei, leg­te ihre bei­den Hän­de auf sei­ne Schul­tern, beug­te sich in hin­ge­ben­der Hal­tung zu ihm her­ab. Sie war gleich­falls hin­ge­ris­sen und ent­zückt:

»Oh! Das ist herr­lich! Oh, wie herr­lich! Ich wuss­te gar nicht, dass es hier so vie­le Schif­fe gibt.«

Eine Stun­de spä­ter fuh­ren sie ab; sie woll­ten bei den Al­ten zum Früh­stück sein, denn sie hat­ten sie meh­re­re Tage vor­her be­nach­rich­tigt.

Eine of­fe­ne, alte Drosch­ke fuhr sie lang­sam mit furcht­ba­rem Geras­sel zu­erst eine ziem­lich lang­wei­li­ge Al­lee ent­lang, dann fuh­ren sie über eine Wie­se, die ein Fluss durch­ström­te und stie­gen end­lich lang­sam ein hüg­li­ges Ge­län­de hin­auf.

Ma­de­lei­ne war müde und er­hitzt von der fri­schen Land­luft und der wun­der­vol­len Früh­lings­son­ne, und schlief in ei­ner Ecke des al­ten Wa­gens ein.

Ihr Gat­te weck­te sie:

»Sieh dir das an!« sag­te er.

Sie hat­ten etwa zwei Drit­tel der Stei­gung über­wun­den und mach­ten an ei­nem be­rühm­ten Aus­sichts­punkt halt, wo­hin alle Frem­den ge­führt wur­den. Man über­sah von hier das wei­te Tal, das der brei­te Fluss in vie­len Win­dun­gen durch­ström­te. Man sah ihn in der Fer­ne mit sei­nen vie­len In­seln, bis er kurz vor Rou­en einen wei­ten Bo­gen mach­te. Wei­ter­hin rag­te die Stadt am rech­ten Ufer et­was ver­schwom­men im Mor­gen­ne­bel, in der Fer­ne blitz­ten die Son­nen­fle­cke auf den Dä­chern und den tau­send fei­nen go­ti­schen Kir­chen­türm­chen, über­ragt von der häss­li­chen, selt­sa­men und un­pro­por­tio­nier­ten Bron­ze­spit­ze der Ka­the­dra­le.

Auf der an­de­ren Fluss­sei­te rag­ten rund und oben aus­ge­baucht die noch zahl­rei­che­ren, dün­nen Fa­brik­schorn­stei­ne der großen Vor­stadt Saint-Se­vè­re und spien aus den Zie­gel­säu­len ih­ren schwar­zen Koh­len­qualm in den blau­en Him­mel hin­auf.

Der Kut­scher war­te­te ge­dul­dig, bis sei­ne Fahr­gäs­te sich hin­rei­chend ent­zückt hat­ten. Aus sei­ner lang­jäh­ri­gen Er­fah­rung wuss­te er ziem­lich ge­nau die Dau­er der Be­wun­de­rung bei Rei­sen­den je­des Schla­ges.

Als der Wa­gen sich wie­der in Be­we­gung setz­te, be­merk­te plötz­lich Du­roy ein paar hun­dert Schritt von ihm ent­fernt zwei alte Leu­te, die ih­nen ent­ge­gen­ka­men; er sprang aus dem Wa­gen und rief:

»Da sind sie; ich er­ken­ne sie.«

Es wa­ren zwei Bau­ern, ein Mann und eine Frau, die mit un­re­gel­mä­ßi­gen Schrit­ten da­her­ka­men und sich dann und wann mit den Schul­tern an­s­tie­ßen. Der Mann war klein, rot und un­ter­setzt, mit et­was dickem Bauch, aber kräf­tig trotz sei­nes ho­hen Al­ters. Die Frau war groß, ma­ger, dürr, et­was ge­krümmt und sah mür­risch und ver­grämt aus, wie eine rich­ti­ge Feld­ar­bei­te­rin, die von Kind­heit auf nur Mühe und schwe­re Ar­beit ge­kannt und nie ge­lacht hat­te, wäh­rend der Mann mit sei­nen Ge­nos­sen trank und schwatz­te.

Ma­de­lei­ne war gleich­falls aus­ge­stie­gen und be­trach­te­te die bei­den ar­men Leut­chen mit be­drück­tem Her­zen und ei­ner Schwer­mut, auf die sie nicht vor­be­rei­tet war.

Zu­erst er­kann­ten sie ih­ren Sohn, die­sen schö­nen, ele­gan­ten Herrn nicht, und nie hät­ten sie ge­ahnt, dass die­se schö­ne Dame im hel­len Kleid ihre Schwie­ger­toch­ter sei.

Schwei­gend und has­tig gin­gen sie ih­rem er­war­te­ten Kind ent­ge­gen, ohne auf die Stadt­men­schen, hin­ter de­nen ein Wa­gen fuhr, acht­zu­ge­ben. Sie gin­gen vor­über. Da rief Ge­or­ges Du­roy la­chend:

»Gu­ten Tag, Papa Du­roy!«

Sie blie­ben bei­de ste­hen, zu­erst ver­blüfft, dann ganz blö­de vor Über­ra­schung. Die Alte fass­te sich zu­erst und stam­mel­te, ohne sich zu rüh­ren:

»Das bist du, un­ser Sohn?«

Der jun­ge Mann ant­wor­te­te:

»Aber na­tür­lich bin ich das, Mut­ter Du­roy.«

Und er ging auf sie zu und gab ihr auf bei­de Ba­cken einen herz­li­chen Soh­nes­kuss. Dann drück­te er sei­ne Schlä­fen ge­gen die des Va­ters, der sei­ne Müt­ze ab­ge­nom­men hat­te, eine sei­de­ne, sehr hohe Kap­pe, wie die Vieh­händ­ler in Rou­en sie zu tra­gen pfle­gen.

Dann stell­te Du­roy vor:

»Das ist mei­ne Frau.«

Und die bei­den Bau­ers­leu­te starr­ten Ma­de­lei­ne wie ein Wun­der mit ei­ner ver­bor­ge­nen Furcht an. Der Va­ter schi­en ziem­lich be­frie­digt, wäh­rend in den Au­gen der Mut­ter eine feind­se­li­ge Ei­fer­sucht fun­kel­te.

Der Mann war von Na­tur lus­tig und fröh­lich und durch den Ge­nuss des sü­ßen Ap­fel­wei­nes und Al­ko­hols wur­de sein Froh­sinn noch ge­stei­gert. Er wur­de ke­cker und frag­te mit lis­ti­gem Au­gen­zwin­kern:

»Darf ich ihr wohl auch einen Kuss ge­ben?«

»Aber na­tür­lich!« ant­wor­te­te der Sohn; und Ma­de­lei­ne, der es un­be­hag­lich wur­de, reich­te bei­de Wan­gen den schal­len­den Küs­sen des Bau­ern, der dar­auf­hin sich sei­ne Lip­pen mit der Rück­sei­te sei­ner Hand ab­wisch­te. Auch die Alte küss­te ihre Schwie­ger­toch­ter, doch mit feind­se­li­ger Zu­rück­hal­tung. Nein! das war nicht die Schwie­ger­toch­ter, von der sie träum­te, die di­cke, fri­sche Pächter­s­toch­ter, rot wie ein Ap­fel und rund wie eine Zucht­stu­te. Die Dame da sah nicht recht ge­heu­er aus mit ih­rem Putz und ih­rem Mo­schus­ge­ruch. Für die Alte gab es nur ein Par­füm, und das war Mo­schus.

Man ging nun wei­ter und folg­te der Drosch­ke, auf der das Ge­päck des jun­gen Paa­res stand.

Der Alte nahm den Sohn beim Arm, zog ihn et­was zu­rück und frag­te neu­gie­rig:

»Nun, und wie ge­hen die Ge­schäf­te?«

»Gut, sehr gut!«

»Nu’, das ge­nügt. Umso bes­ser. Sag’ mal, und dei­ne Frau, hat sie Geld?«

»Vier­zig­tau­send Fran­cs!«

Der Va­ter stieß vor Über­ra­schung und Be­wun­de­rung einen lei­sen Pfiff aus und brach­te nichts wei­ter her­vor als: »Don­ner­wet­ter!«, so starr war er über die Sum­me. Dann setz­te er mit erns­ter und ehr­li­cher Über­zeu­gung hin­zu:

»Wahr­haf­tig, es ist eine schö­ne Frau!«

Er fand sie nach sei­nem Ge­schmack, und sei­ner­zeit hat­te er für einen Ken­ner ge­gol­ten.

Ma­de­lei­ne und die Mut­ter gin­gen ne­ben­ein­an­der, ohne ein Wort zu spre­chen. Die bei­den Män­ner hol­ten sie ein.

Das klei­ne Dorf, wo­hin sie nun ge­lang­ten, zog sich längs der Stra­ße hin, etwa zehn Häu­ser auf je­der Sei­te, teils aus Zie­geln, teils aus Lehm ge­baut, die einen mit Stroh, die an­de­ren mit Schie­fer ge­deckt. Links, am Dor­fein­gang be­fand sich das Wirts­haus des al­ten Du­roy »Zur schö­nen Aus­sicht«, eine klei­ne Hüt­te, die aus ei­nem Erd­ge­schoss und ei­ni­gen Bo­den­kam­mern be­stand. Über der Tür war ein Kie­fern­zweig an­ge­bracht, er zeig­te nach al­tem Brauch, dass durs­ti­ge Leu­te ein­tre­ten kön­nen.

Der Tisch war in der Wirts­stu­be ge­deckt oder viel­mehr wa­ren zwei Ti­sche ne­ben­ein­an­der ge­scho­ben und mit ei­ner Ser­vi­et­te be­deckt. Eine Nach­ba­rin, die zur Aus­hil­fe ge­kom­men war, grüß­te mit tiefer Ver­beu­gung, als sie eine so schö­ne Dame ein­tre­ten sah, dann er­kann­te sie Ge­or­ges und rief:

»Herr Je­sus! Bist du es, Klei­ner?«

Er ant­wor­te­te fröh­lich:

»Aber ge­wiss bin ich es, Mut­ter Bru­lin!«

Und er um­arm­te sie, wie er vor­her sei­ne El­tern um­armt hat­te.

Dann wand­te er sich zu sei­ner Frau:

»Komm in un­ser Zim­mer, da kannst du dei­nen Hut ab­le­gen.«

Er führ­te sie rechts durch eine Tür in ein kal­tes, vier­e­cki­ges Zim­mer mit kalk­ge­weiß­ten Wän­den, in dem ein Bett mit baum­wol­le­nen Vor­hän­gen stand; über ei­nem Weih­was­ser­be­cken hing ein Kru­zi­fix; zwei ko­lo­rier­te Bil­der, die Paul und Vir­gi­nie un­ter ei­nem blau­en Pal­men­baum und Na­po­le­on I. auf ei­nem gel­ben Pferd dar­stell­ten, bil­de­ten den ein­zi­gen Schmuck die­ses sau­be­ren, öden Zim­mers. So­bald sie al­lein wa­ren, küss­te er Ma­de­lei­ne:

»Gu­ten Tag, Made; ich freue mich wirk­lich, die Al­ten wie­der­zu­se­hen. In Pa­ris denkt man nicht an sie, und wenn man wie­der bei­sam­men ist, macht das ei­nem doch Freu­de.«

Aber der Va­ter rief, in­dem er mit der Faust an die Tür schlug:

»Kommt! Vor­wärts! Die Sup­pe ist fer­tig!«

Sie muss­ten zu Tisch ge­hen.

Es war eine lan­ge, schlecht zu­sam­men­ge­stell­te Bau­ern­mahl­zeit: eine Wurst nach der Ham­mel­keu­le und ein Eier­ku­chen nach der Wurst. Va­ter Du­roy war durch den Ap­fel­wein und ein paar Glä­ser Schnaps an­ge­hei­tert, und pack­te sei­ne al­ten Ge­schich­ten und Lieb­lings­scher­ze aus, die er für be­son­ders fest­li­che Ge­le­gen­hei­ten auf­be­wahr­te, al­ler­lei schlüpf­ri­ge, un­sau­be­re Aben­teu­er, die an­geb­lich sei­nen Freun­den be­geg­net wa­ren. Ge­or­ges, der sie alle kann­te, grins­te trotz­dem, denn die Luft der Hei­mat und die an­ge­bo­re­ne Lie­be zum Lan­de und zu den ver­trau­ten Win­keln sei­ner Kind­heit, be­rausch­ten ihn eben­so wie all die Erin­ne­run­gen, die wie­der in ihm le­ben­dig wur­den, all die­se Klei­nig­kei­ten, die er wie­der sah: ein Mes­ser­schnitt in der Tür, ein lah­mer Stuhl, der ihn an eine ju­gend­li­che Un­tat er­in­ner­te, der Erd­ge­ruch und der kräf­ti­ge Harz­duft, der aus dem na­hen Wal­de kam und selbst der Ge­ruch des Hau­ses, des Ba­ches und des Dün­ger­hau­fens.

Die Mut­ter Du­roy sprach gar nicht; sie blieb im­mer trau­rig und ernst. Has­s­er­füllt be­ob­ach­te­te sie ihre Schwie­ger­toch­ter. Es war der Hass der al­ten Ar­bei­te­rin und Bäue­rin mit ver­brauch­ten Fin­gern und durch schwe­re Mü­hen ent­stell­ten Glie­dern ge­gen die Städ­te­rin, die ihr Wi­der­wil­len ein­flö­ßte, wie eine Ver­damm­te, Ver­wor­fe­ne, ein un­rei­nes We­sen, das nur für Sün­de und Mü­ßig­gang ge­schaf­fen sei. Alle Au­gen­bli­cke stand sie auf, um das Es­sen her­ein­zu­tra­gen und die Glä­ser zu fül­len mit dem gel­ben her­ben Trank aus der Kar­af­fe oder mit dem ro­ten, schäu­men­den Ap­fel­wein, bei dem der Pfrop­fen knal­lend aus der Fla­sche sprang wie bei ei­ner mous­sie­ren­den Li­mo­na­de.

Ma­de­lei­ne aß we­nig und sprach auch kaum, sie blieb trau­rig sit­zen mit ih­rem ge­wöhn­li­chen Lä­cheln, zu dem sie ihre Lip­pen zwang. Sie war ent­täuscht und tief trau­rig. Wa­rum? Gera­de sie hat­te ja kom­men wol­len; und sie wuss­te schon im Voraus ganz ge­nau, dass es rich­ti­ge klei­ne, arme Bau­ern wa­ren. Wie hat­te sie sich wohl die­se Schwie­ger­el­tern ge­träumt, sie, die sonst nie träum­te.

Wuss­te sie denn das? Kam es da­her, weil Frau­en im­mer et­was an­de­res er­war­ten, als was nach­her kommt? Hat­te sie sich die­se Bau­ern aus der Ent­fer­nung poe­ti­scher vor­ge­stellt? Nein, aber viel­leicht ed­ler, li­te­ra­ri­scher, zärt­li­cher, de­ko­ra­ti­ver. Sie hat­te sie sich doch gar nicht edel­mü­tig ge­wünscht wie in den Ro­ma­nen? Wo­her kam es also, dass sie sich durch die un­zäh­li­gen, kaum sicht­ba­ren Klei­nig­kei­ten, durch die vie­len un­greif­ba­ren Grob­hei­ten und Plump­hei­ten ab­ge­sto­ßen fühl­te? Oder lag es an ih­rem bäu­ri­schen We­sen, an ih­ren Wor­ten, ih­ren Ge­bär­den, und an ih­rem La­chen?

Sie dach­te an ihre ei­ge­ne Mut­ter, von der sie nie zu je­mand sprach. Es war eine ver­führ­te Er­zie­he­rin aus Saint-De­nis, die in Kum­mer und Elend ge­stor­ben war, als Ma­de­lei­ne zwölf Jah­re zähl­te. Ein Un­be­kann­ter hat­te das Mäd­chen er­zie­hen las­sen, zwei­fel­los ihr Va­ter. Wer war er? Sie wuss­te es nicht ge­nau, ob­gleich sie be­stimm­te Ver­mu­tun­gen heg­te.

Das Früh­stück nahm kein Ende. Jetzt ka­men Gäs­te, die dem al­ten Du­roy die Hand schüt­tel­ten und in stau­nen­de Aus­ru­fe aus­bra­chen, als sie den Sohn er­blick­ten; sie be­trach­te­ten die jun­ge Frau von der Sei­te, zwin­ker­ten lis­tig mit den Au­gen, wo­mit sie sa­gen woll­ten:

»Don­ner­wet­ter! Das ist ein fri­sches Weib­chen, die Frau von Ge­or­ges Du­roy.«

Die an­de­ren, die we­ni­ger Be­freun­de­ten, setz­ten sich an die Holz­ti­sche und rie­fen: »Ei­nen Li­ter! — Ei­nen Schop­pen! — Zwei Schnäp­se! — Ei­nen Bit­tern!« Dann be­gan­nen sie Do­mi­no zu spie­len, in­dem sie laut klap­pernd mit den schwarz­wei­ßen Kno­chen­stei­nen auf den Tisch schlu­gen.

Mut­ter Du­roy ging im­mer­fort hin und her, be­dien­te die Kun­den, nahm das Geld von ih­nen und wisch­te mit ih­rem Jam­mer­blick, den Tisch mit dem Zip­fel ih­rer blau­en Schür­ze ab.

Der Rauch der Ton­pfei­fen und der bil­li­gen Zi­gar­ren er­füll­te den Raum. Ma­de­lei­ne be­gann zu hus­ten und frag­te:

»Wol­len wir nicht ge­hen? Ich kann es nicht mehr aus­hal­ten.«

Die Mahl­zeit war noch nicht be­en­det, und der alte Du­roy war un­zu­frie­den. Da stand sie auf und setz­te sich auf einen Stuhl vor der Tür auf der Stra­ße und war­te­te, bis ihr Schwie­ger­va­ter und Gat­te ihre Schnäp­se und Kaf­fee zu Ende ge­trun­ken hat­ten.

Ge­or­ges kam gleich zu ihr her­aus:

»Wol­len wir et­was nach der Sei­ne hin­un­ter?« frag­te er.

Sie nahm den Vor­schlag mit Freu­den an.

»Ach ja, ge­hen wir.«

Sie gin­gen den Berg hin­un­ter, mie­te­ten sich ein Boot in Crois­set und ver­brach­ten den Rest des Nach­mit­tags an den Ufern ei­ner In­sel un­ter den Wei­den. Sie wur­den schläf­rig von der mil­den Früh­lings­wär­me und, ge­wiegt von den leich­ten Wel­len des Flus­ses, schlum­mer­ten sie all­mäh­lich ein.

Als es dun­kel wur­de, stie­gen sie wie­der hin­auf.

Das Abendes­sen beim Schein ei­ner Ker­ze war für Ma­de­lei­ne noch pein­li­cher als das Mit­ta­ges­sen. Der Va­ter Du­roy war halb be­trun­ken und sprach nicht mehr, und die Mut­ter hat­te ih­ren mür­ri­schen Ge­sichts­aus­druck nicht ab­ge­legt.

Das spär­li­che Licht warf auf die grau­en Mau­ern die Schat­ten der Köp­fe mit rie­si­gen Na­sen und maß­lo­sen Ge­bär­den. Von Zeit zu Zeit, so­bald je­mand sich um­dreh­te und sein Ge­sicht der gel­ben, zit­tern­den Flam­me nä­her­te und sein Pro­fil dar­bot, sah man eine Rie­sen­hand eine Ga­bel, die wie eine Heu­ga­bel aus­sah, zum Mun­de füh­ren, der dem Maul ei­nes Un­ge­heu­ers glich.

So­bald die Mahl­zeit zu Ende war, zog Ma­de­lei­ne ih­ren Mann ins Freie hin­aus, um nicht in der düs­te­ren Stu­be blei­ben zu müs­sen, wo es nach al­tem Ta­baks­qualm und ver­schüt­te­tem Wein roch.

Als sie drau­ßen wa­ren, sag­te er:

»Du lang­weilst dich schon.«

Sie woll­te wi­der­spre­chen, aber er un­ter­brach sie:

»Nein, ich habe es wohl be­merkt. Wenn du willst, fah­ren wir schon mor­gen wie­der ab?«

»Ja, ich möch­te gern«, flüs­ter­te sie.

Sie schrit­ten lang­sam vor­wärts. Es war eine mil­de Nacht und in ih­rem tie­fen, lieb­ko­sen­den Schat­ten glaub­te man al­ler­lei leich­tes Geräusch zu hö­ren, ent­we­der eine Art Knis­tern oder ein lei­ses At­men. Sie wa­ren jetzt in eine schma­le Al­lee sehr ho­her Bäu­me ge­langt, rechts und links um­ge­ben von un­durch­dring­li­chem Dickicht.

»Wo sind wir?« frag­te sie.

»Im Wald« ant­wor­te­te er.

»Ist er groß?«

»Sehr groß, ei­ner der größ­ten in Frank­reich.«

Es roch nach Erde, nach Bäu­men und Moos. Der fri­sche und zu­gleich wel­ke Duft des dich­ten Wal­des, der von dem Saft der Knos­pen und den fau­len­den Blät­tern des Dickichts stamm­te, schi­en in die­ser Al­lee so ru­hig und un­be­weg­lich zu schwe­ben. Ma­de­lei­ne blick­te em­por und sah die Ster­ne zwi­schen den Wip­feln der Bäu­me; und ob­wohl kein lei­ses­ter Luft­zug die Baum­zwei­ge be­weg­te, fühl­te sie doch um sich das un­be­stimm­te Rau­schen des Blät­ter­mee­res. Ein selt­sa­mer Schau­er flog über ihre See­le und lief dann über ihre Haut. Eine Angst be­klemm­te ihr Herz. Wa­rum? Sie wuss­te es nicht, aber sie hat­te das Ge­fühl, als wäre sie um­ringt von Ge­fah­ren und ver­lo­ren. Sie fühl­te sich ver­las­sen, ganz al­lein auf die­ser Welt un­ter der grü­nen Wöl­bung, die oben rausch­te.

»Ich fürch­te mich et­was«, mur­mel­te sie. »Ich möch­te zu­rück.«

»Gut, keh­ren wir um.«

»Und … mor­gen rei­sen wir wie­der nach Pa­ris?«

»Ja, mor­gen.«

»Mor­gen früh?«

»Auch schon mor­gen früh, wenn du willst.«

Sie kehr­ten zu­rück. Die bei­den Al­ten hat­ten sich schon zu Bett be­ge­ben. Ma­de­lei­ne schlief schlecht. Sie er­wach­te fort­wäh­rend von den un­ge­wohn­ten Geräuschen der Nacht, dem Schrei der Eule, dem Grun­zen des Schwei­nes, das in ei­nem Stall hin­ter der Wand ein­ge­sperrt war, und dem Krä­hen des Hah­nes, das schon um Mit­ter­nacht be­gann. Beim ers­ten Mor­gen­däm­mern war sie schon auf und rei­se­fer­tig.

Als Ge­or­ges sei­nen El­tern mit­teil­te, dass er schon heu­te ab­rei­sen müss­te, wa­ren sie bei­de be­trof­fen, dann aber be­grif­fen sie, wo­her die­se Ab­sicht kam.

Der Va­ter frag­te ein­fach:

»Wer­den wir dich bald wie­der­se­hen?«

»Aber na­tür­lich. Im Lau­fe des Som­mers.«

»Na, dann umso bes­ser.«

Die Alte brumm­te:

»Ich wün­sche dir, dass du nicht zu be­reu­en brauchst, was du ge­tan hast.«

Er schenk­te ih­nen zwei­hun­dert Fran­cs, um ih­ren Är­ger zu be­sänf­ti­gen, und als die Drosch­ke, die ein Dorf­jun­ge ge­holt hat­te, um zehn Uhr er­schi­en, um­arm­te das jun­ge Paar die al­ten Leu­te und fuhr da­von.

Als sie den Berg hin­un­ter­fuh­ren, sag­te Du­roy la­chend:

»Siehst du, ich habe dich ge­warnt. Ich hät­te dich nicht mit Herrn und Frau Du Roy de Can­tel, Va­ter und Mut­ter zu­sam­men­brin­gen müs­sen.«

Sie be­gann auch zu la­chen und ent­geg­ne­te:

»Ich freue mich jetzt sehr dar­über; es sind bra­ve Leu­te und ich be­gin­ne, sie gern zu ha­ben. Ich will ih­nen aus Pa­ris klei­ne Ge­schen­ke schi­cken.«

Dann sprach sie lei­se vor sich hin: »Du Roy de Can­tel … Du wirst se­hen, kein Mensch wird sich über un­se­re Hoch­zeits­an­zei­ge wun­dern. Wir wol­len über­all er­zäh­len, wir hät­ten eine Wo­che auf dem Gut dei­ner El­tern ver­bracht.«

Sie neig­te sich zu ihm hin und streif­te mit ei­nem Kuss das Ende sei­nes Schnurr­bar­tes:

»Gu­ten Tag, Geo.«

»Gu­ten Tag, Made«, er­wi­der­te er und schlang sei­nen Arm um ihre Hüf­te.

In der Fer­ne sa­hen sie tief un­ten im Tal den großen Fluss wie ein sil­ber­nes Band in der Mor­gen­son­ne leuch­ten, und die Fa­brik­schorn­stei­ne, die ihre schwar­zen Rauch­wol­ken zum Him­mel hin­auf­blie­sen, und alle spit­zen Tür­me, die über der Stadt em­por­rag­ten.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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