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VIII.
ОглавлениеDurch sein Duell war Duroy in die Reihe der Leitartikelschreiber der Vie Française aufgerückt. Doch bereitete es ihm unendliche Mühe, eigene Ideen zu finden; so wählte er sich als Spezialität, gegen den Niedergang der Sitten, gegen die Entartung des Charakters, gegen das Nachlassen des Patriotismus und die Anämie des französischen Ehrgefühls zu donnern. (Das Wort Anämie war seine eigene Erfindung, auf die er sehr stolz war.)
Und wenn Madame de Marelle mit ihrem spöttischen, skeptischen und scharfen Witz, den man Pariser Esprit nennt, sich über seine Tiraden lustig machte und sie mit einem kurzen, vernichtenden Wort abtat, so antwortete er lächelnd:
»Damit bekomme ich einen guten Ruf für spätere Zeiten.«
Er wohnte jetzt in der Rue Constantinople, wohin er seine ganze Einrichtung, die aus einem Koffer, einer Bürste, dem Rasierzeug und der Seife bestand, transportiert hatte. Zwei- oder dreimal in der Woche besuchte ihn dort die junge Frau schon früh am Morgen, bevor er aufgestanden war, zog sich in einer Minute aus und glitt in sein Bett, zitternd vor der draußen herrschenden Kälte.
Duroy dagegen aß jeden Donnerstag abend bei ihr und machte dem Mann den Hof, indem er mit ihm über Landwirtschaft sprach. Und da er selbst auch wirklich das Leben auf dem Lande liebte, so vertieften sie sich häufig so sehr in ihre Unterhaltung, dass sie gar nicht mehr auf ihre gemeinsame Frau achteten, die auf dem Sofa schlummerte.
Auch Laurine schlief ein, bald auf dem Schoß ihres Vaters, bald auf dem Schoß des Bel-Ami.
Und wenn der Journalist gegangen war, dann bemerkte Herr de Marelle mit dem doktrinären Ernst, mit dem er jede Kleinigkeit behandelte:
»Dieser junge Mann ist wirklich sehr sympathisch. Er ist sehr gebildet.«
Der Februar ging zu Ende. Auf den Straßen duftete es bereits wieder nach Veilchen, wenn man morgens an den Karren der Blumenhändlerinnen vorbeikam.
Duroy lebte wie im wolkenlosen Himmel.
Aber eines Abends, als er nach Hause kam, fand er einen Brief mit dem Poststempel »Cannes« vor. Er öffnete ihn und las:
Cannes, Villa Jolie. »Mein lieber Freund! Sie sagten mir, nicht wahr, ich könnte mich unter allen Umständen auf Sie verlassen. Nun also: Ich muss heute einen sehr harten Dienst von Ihnen erbitten: nämlich mir beizustehen und mich in den letzten Stunden vor Charles’ Tode nicht allein zu lassen. Er liegt im Sterben, obgleich er noch aufsteht, aber seine Tage sind gezählt und der Arzt hat mich darauf vorbereitet, dass er kaum diese Woche überleben wird.
Ich habe nicht mehr die Kraft und den Mut, Tag und Nacht diesen Todeskampf mit anzusehen, und ich denke mit Entsetzen an die letzten Augenblicke, die immer näher rücken. Sie sind der einzige, den ich um einen solchen Dienst bitten kann, denn mein Mann hat keine Verwandten mehr. Er war Ihr Freund, er hat Ihnen den Weg zur Zeitung geöffnet. — Kommen Sie, ich bitte Sie darum. Seien Sie überzeugt, dass ich stets Ihre dankbare Freundin bleiben werde.
Madeleine Forestier.«
Ein eigenartiges Gefühl drang wie ein Lufthauch in Georges Herz. Es war ihm, als würde er frei, als täte sich die Welt weit vor ihm auf, und er murmelte: »Gewiss, ich gehe hin. Der arme Charles! Jeder von uns kommt mal an die Reihe.«
Der Chef, dem er von dem Brief der jungen Frau Mitteilung machte, gab brummig seine Einwilligung. Er wiederholte :
»Aber bitte kommen Sie bald zurück, Sie sind hier unentbehrlich.«
Georges Duroy gab dem Ehepaar Marelle durch ein Telegramm von seiner plötzlichen Abreise Kenntnis und fuhr am nächsten Abend um sieben Uhr mit dem Schnellzug nach Cannes. Tags darauf um vier Uhr traf er dort ein.
Ein Dienstmann führte ihn zur Villa Jolie. Sie lag auf halber Höhe in den von weißen Villen belebten Fichtenwäldern, die sich von Le Cannet bis zum Golf Juan hinziehen. Das Haus war klein und niedrig, im italienischen Stil erbaut. Es lag dicht an der Straße, die im Zickzack zwischen den Bäumen hinaufführte, und bei jeder Biegung öffnete sich die wundervollste Aussicht.
Der Diener öffnete die Tür und rief:
»Oh, mein Herr, Madame wartet voller Ungeduld auf Sie.«
Duroy fragte :
»Wie geht es Herrn Forestier?«
»Oh! Nicht gut, mein Herr, er wird nicht mehr lange leben.«
Der Salon, in den der junge Mann geführt wurde, hatte einen hellrosa persischen Stoffbezug mit blauen Verzierungen. Durch das breite, hohe Fenster sah man auf die Stadt und das Meer hinaus.
Duroy murmelte: »Donnerwetter! Ein herrliches Landhaus ist das hier. Wo, zum Teufel, nehmen sie das viele Geld her?«
Er hörte das Rauschen des Kleides und drehte sich um. Frau Forestier streckte ihm beide Hände entgegen:
»Wie lieb von Ihnen, dass Sie gekommen sind, wie lieb!«
Und plötzlich umarmte sie ihn. Dann blickten sie sich an. Sie war etwas blasser und magerer geworden, aber noch immer frisch, und ihr etwas schmaleres und noch zarteres Gesicht stand ihr sehr gut. Sie sagte leise:
»Es ist entsetzlich! Er fühlt, dass er verloren ist, und nun tyrannisiert er mich furchtbar. Ich habe ihm gesagt, dass Sie kommen würden. Wo ist Ihr Gepäck?«
»Ich habe es auf der Bahn gelassen, denn ich wusste nicht, welches Hotel Sie mir raten würden, um in Ihrer Nähe zu sein.«
Sie zauderte einen Moment, dann sagte sie:
»Sie wohnen hier in der Villa, Ihr Zimmer steht übrigens für Sie bereit. Er kann jeden Augenblick sterben, und wenn die Katastrophe nachts erfolgt, wäre ich ganz allein. Ich lasse Ihr Gepäck hierher bringen.«
Er sagte mit einer Verbeugung:
»Wie Sie befehlen!«
»Nun wollen wir hinaufgehen«, sagte sie.
Er folgte ihr, sie öffnete eine Tür im ersten Stock und Duroy sah im hellen, roten Schein der untergehenden. Sonne auf einem Lehnstuhl am Fenster eine Art Leichnam sitzen, der in Tücher eingewickelt war und ihn anstarrte. Er konnte ihn nicht erkennen, er erriet nur, dass es sein Freund sein müsste.
Das Zimmer roch nach Fieber und nach Arzneimitteln, Äther und Teer, dem ganzen, undefinierbaren, dumpfen Geruch einer Stube, wo ein Lungenkranker atmet.
Forestier erhob langsam und mühselig die Hand:
»Da bist du ja,« sagte er, »du kommst, um mich sterben zu sehen! Ich danke dir!«
Duroy zwang sich zu einem Lächeln.
»Dich sterben zu sehen, das wäre auch kein erfreulicher Anblick, diese Gelegenheit hätte ich nicht benutzt, um Cannes zu besuchen. Ich wollte dich nur begrüßen und mich ein bisschen erholen.«
Der andere murmelte:
»Setz dich.«
Und er ließ den Kopf sinken, als wäre er von verzweifelten Gedanken niedergedrückt.
Sein Atem ging schnell und gepresst, und manchmal stieß er einen Seufzer aus, als ob er fühlbar machen wollte, wie krank er wäre.
Seine Frau sah, dass er nicht mehr sprechen würde; sie lehnte sich an das Fenster, wies mit einer Kopfbewegung nach dem Horizont und sagte:
»Schauen Sie, ist das nicht herrlich?«
Der von Villen verdeckte Bergabhang senkte sich vor ihnen bis zur Stadt hinunter, die im Halbkreis die Bucht umgab, rechts vom Hafen mit der Altstadt, über der ein alter Wartturm thronte, bis links zur Landspitze de la Croisette gegenüber den Inseln von Lerins; diese Inseln waren wie zwei grüne Flecke, die auf dem tiefblauen Wasser schwammen, und von oben gesehen, schienen sie flach zu sein wie zwei riesige Blätter.
Und ganz in der Ferne, jenseits der Bucht und des alten Turmes, zeichnete sich auf dem flammend roten Himmel eine lange Reihe bläulicher Berge ab, bald mit runden Gipfeln, bald mit Spitzen, Zähnen und Zacken, die in einen hohen, pyramidenförmigen Berg ausliefen, der mit seinem Fuß mitten in das Meer tauchte.
»Das ist der Esterel«, sagte Frau Forestier.
Hinter den dunklen Gipfeln flammte goldenrot der Himmel. Der Glanz war so feurig, dass das Auge es kaum ertragen konnte.
Duroy empfand unwillkürlich die Pracht dieses Sonnenunterganges. Da er keinen bildlichen Ausdruck für seine Bewunderung fand, murmelte er:
»O ja, es ist fabelhaft!«
Forestier hob jetzt ein wenig den Kopf und sagte zu seiner Frau:
»Ich will etwas frische Luft!«
Sie antwortete:
»Nimm dich in acht; es ist spät, die Sonne geht unter. Du wirst dich erkälten, du weißt doch, wie schädlich das bei deinem jetzigen Gesundheitszustande ist.«
Er machte mit der Hand eine zitternde, schwache Bewegung, die ein Faustschlag auf die Lehne des Sessels sein sollte. Er brummte und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn; es war das Gesicht eines Sterbenden; dabei traten die dünnen Lippen, die eingefallenen Backen und die hervorstehenden Knochen noch mehr hervor.
»Ich sage dir doch, ich ersticke. Was macht dir das aus, ob ich einen Tag früher oder später sterbe, mit mir ist es doch aus.«
Sie öffnete ganz, weit das Fenster.
Der Windzug, der plötzlich hineindrang, umfing sie alle drei wie eine Liebkosung; es war ein milder, weicher, warmer Lufthauch, ein berauschender Hauch des Frühlings, erfüllt von dem Duft der Bäume und Blüten, die dort an der Küste gedeihen. Besonders stark und intensiv machte sich der Harzgeruch und der Duft des Eukalyptus geltend.
Forestier sog die Luft mit kurzen, fieberhaften Atemzügen ein. Er krallte seine Nägel in die Lehne des Armstuhles und sagte mit zischender, wütender Stimme:
»Mach das Fenster zu. Das tut mir weh. Lieber will ich in einem Keller krepieren.«
Langsam schloss die Frau das Fenster. Dann lehnte sie die Stirn an die Scheibe und blickte in die Ferne.
Duroy fühlte sich unbehaglich. Er hätte dem Kranken ein paar tröstende Worte gesagt, um ihn zu beruhigen, aber ihm fiel nichts Passendes ein und er sagte nur:
»Es geht dir also nicht besser, seitdem du hier bist?«
Der andere zuckte verzweifelt und ungeduldig die Achseln:
»Du siehst ja doch!«
Und der Kopf sank ihm wieder auf die Brust.
Duroy fuhr fort:
»Es ist hier übrigens im Vergleich zu Paris einfach wunderbar. Da ist man noch mitten im Winter. Es schneit, hagelt, regnet, und es ist so dunkel, dass man um drei Uhr schon die Lampen anzünden muss.«
»Gibt es was Neues auf der Zeitung?« fragte Forestier.
»Nichts. Man hat als Ersatz für dich den kleinen Lacrin genommen, der vom ›Voltaire‹ kommt. Aber er kann nicht viel. Es ist höchste Zeit, dass. du wiederkommst.«
Der Kranke stammelte:
»Ich? Ich werde bald sechs Fuß unter der Erde Artikel schreiben.«
Immerzu kam ihm diese fixe Idee wie ein Glockenschlag wieder, sie tauchte in jedem Gedanken, in jedem Satze von Neuem auf.
Es folgte nun ein langes, tiefes und schmerzliches Schweigen. Die feuerrote Glut des Sonnenunterganges erlosch nach und nach, und die Berge am Horizont wurden allmählich schwarz unter dem rötlichen Himmel, der immer dunkler wurde. Farbige Schatten, der Beginn der Nacht, über die noch die letzten Lichter des Sonnenscheines zuckten, drangen in das Zimmer und schienen die Wände, Bezüge, Möbel und alle Winkel mit einer aus Tinte und Purpur gemischten Farbe zu überziehen. Der Spiegel über dem Kamin, der den Horizont zurückstrahlte, glich einer blutigen Scheibe.
Frau Forestier rührte sich nicht. Sie stand noch immer mit dem Rücken zum Zimmer, das Gesicht gegen die Fensterscheibe gelehnt.
Forestier begann zu reden, mit abgerissener, keuchender, langsamer Stimme, die sich entsetzlich anhörte.
»Wie viel Sonnenuntergänge werde ich wohl noch erleben? … achtzehn … fünfzehn oder zwanzig … vielleicht auch dreißig, aber nicht mehr. Ihr habt Zeit, ihr anderen … mit mir ist es vorbei … Und alles wird weitergehen … auch nach mir, als sei ich gar nicht fortgegangen.«
Ein paar Minuten blieb er still, dann sprach er weiter:
»Alles, was ich sehe, mahnt mich daran, dass ich es in wenigen Tagen nicht mehr sehen werde … Es ist entsetzlich … Ich werde nichts mehr sehen … nichts von dem, was da ist … nicht die kleinsten Dinge, die man in die Hand nehmen kann … die Gläser, die Teller … die Betten, in denen man so angenehm ruht … die Wagen. Es ist doch so schön, im Wagen abends spazieren zu fahren! … Wie liebte ich das alles.«
Er machte mit den Fingern beider Hände leichte, nervöse Bewegungen, als ob er auf den Armlehnen seines Sessels Klavier spielte. Und jedes Schweigen, das seinen Worten folgte, war noch furchtbarer; man spürte deutlich, dass er währenddessen an die entsetzlichsten Dinge dachte.
Duroy musste plötzlich daran denken, was ihm Norbert de Varenne vor wenigen Wochen gesagt hatte:
»Ich sehe jetzt oft den Tod so nahe vor mir, dass ich die Arme ausstrecken will, um ihn zurückzustoßen. Ich entdecke ihn überall. Die kleinen Tierchen, die auf den Wegen zertreten werden, die fallenden Blätter, das weiße Haar im Bart eines Freundes, alles zerreißt mir das Herz und ruft mir zu: »Da ist er!«
Damals hatte er ihn nicht verstanden, jetzt, wo er Forestier sah, verstand er alles. Und eine ihm noch unbekannte, qualvolle Angst erfasste ihn, als sähe er dort vor sich auf dem Lehnstuhl, wo der keuchende Mann saß, die abscheuliche Gestalt des Todes. Er hatte Lust, aufzustehen, fortzulaufen, um sich zu retten und schleunigst nach Paris zurückzukehren. Oh, wenn er das geahnt hätte, er wäre nicht gekommen!
Die Nacht erfüllte nun das ganze Zimmer, wie eine vorzeitige Trauer für den Todgeweihten. Nur das Fenster blieb noch sichtbar und zeichnete in seinem etwas helleren Viereck den unbeweglichen Schattenumriss der jungen Frau.
Forestier fragte gereizt:
»Nun, wird heute keine Lampe gebracht? Das nennt man einen Kranken pflegen.«
Der Schatten des Körpers verschwand vom Fenster und der laute Ton einer elektrischen Klingel klang durch das Haus.
Alsbald erschien der Diener und stellte eine Lampe auf den Kamin.
Frau Forestier fragte ihren Mann:
»Willst du zu Bett gehen oder kommst du zum Essen hinunter?«
»Ich gehe hinunter«, murmelte er.
Sie mussten fast eine ganze Stunde bis zum Beginn des Essens warten und blieben alle drei unbeweglich sitzen. Sie sprachen nur hin und wieder irgendein gleichgültiges, banales Wort, als brächte es eine schauderhafte Gefahr, wenn das Schweigen zu lange dauerte, damit nicht die stumme Luft, in der der Tod schon lauerte, erstarrte. Schließlich meldete der Diener, dass es angerichtet sei. Das Essen kam Duroy entsetzlich lang vor. Sie sprachen kein Wort, aßen lautlos und zerkrümelten während der Pausen das Brot. Auch der Diener kam und ging, ohne dass man seine Schritte hörte, da Charles das Knarren der Stiefelsohlen nicht vertragen konnte und der Mann deshalb Filzpantoffel trug. Nur das Ticktack der hölzernen Wanduhr unterbrach mit regelmäßigem, mechanischem Ton die schweigende Ruhe.
Sobald das Essen zu Ende war, begab sich Duroy, unter dem Vorwand, müde zu sein, in sein Zimmer und schaute, gelehnt an das Fensterbrett, den Vollmond an, der wie ein riesiger Lampion mitten am Himmel stand, seinen hellen Schein auf die weißen Wände der Häuser warf und sein sanftes Licht wie Silberflitter über das Meer streute. Duroy suchte nach einem Ausweg, der ihm eine möglichst schnelle Abreise gestattete. Er erfand Listen; er dachte an ein Telegramm, das er sich schicken lassen wollte, eine Rückberufung durch Herrn Walter.
Als er am nächsten Morgen erwachte, schienen ihm alle seine Fluchtpläne sehr schwer zu verwirklichen. Frau Forestier ließ sich sicherlich nicht durch seine Vorwände hinters Licht führen, und durch seine Feigheit würde er alles wieder verderben, was er durch seine Ergebenheit gewinnen könnte. Er sagte sich: »Ja, es ist halt langweilig; aber das lässt sich nicht ändern, es gibt nun einmal im Leben unangenehme Zeiten. Und hoffentlich dauert die Geschichte nicht allzu lange.«
Der Himmel war blau, von jenem tiefen, südlichen Blau, das das Herz bei seinem Anblick mit Freude erfüllt. Duroy ging zum Meer hinunter, in der Meinung, dass es früh genug wäre, mit Forestier am Tage zusammen zu sein.
Als er zum Frühstück zurückkam, sagte der Diener:
»Herr Forestier hat schon zwei-, dreimal nach dem gnädigen Herrn gefragt. Vielleicht möchte der Herr zu Herrn Forestier hinaufgehen …«
Er ging hinauf. Forestier schien in einem Sessel zu schlafen. Seine Frau lag ausgestreckt auf dem Sofa und las.
Der Kranke hob den Kopf. Duroy fragte:
»Nun, wie geht es dir? Du siehst heute früh ganz munter aus.«
»Ja, es geht besser, ich fühle mich kräftiger«, murmelte der andere. »Frühstücke schnell mit Madeleine, dann wollen wir eine Wagenfahrt machen.«
Sobald die junge Frau mit Duroy allein war, sagte sie zu ihm:
»Sehen Sie, heute fühlt er sich gerettet. Seit dem frühen Morgen trägt er sich mit allerlei Plänen. Wir fahren nachher nach dem Golf Juan, um Fayencen für unsere Wohnung in Paris einzukaufen. Er will mit aller Gewalt hinaus, aber ich habe eine Todesangst, dass ihm etwas passiert, er kann das Stoßen des Wagens nicht vertragen.«
Als der Landauer vorgefahren war, stieg Forestier Schritt für Schritt die Treppe hinunter, gestützt von seinem Diener. Sobald er aber den Wagen erblickte, wollte er, dass das Verdeck zurückgeschlagen würde.
Seine Frau widersprach ihm:
»Du wirst dich erkälten. Sei nicht töricht.«
Er blieb hartnäckig:
»Nein, nein, es geht mir viel besser. Ich fühl’ es ja.«
Sie fuhren zuerst auf den schattigen Wegen, die sich immer zwischen zwei Gärten durchziehen und die Cannes wie eine Art englischen Park erscheinen ließen. Dann ging es auf der Straße von Antibes am Meer entlang. Forestier erklärte dem Freunde die Gegend, er zeigte die Villa des Grafen von Paris, dann, nannte er noch verschiedene andere. Er war lustig, aber seine Fröhlichkeit war erzwungen und gemacht wie die eines zum Tode Verurteilten. Er hob den Finger, da er nicht mehr die Kraft hatte, den Arm zu heben.
»Sieh her, dort drüben ist die Insel Sainte-Marguerite, und das ist das Schloss, aus dem Bazaine entflohen ist.«
Dann fielen ihm Erinnerungen aus seiner Militärzeit ein, er nannte die Namen mehrerer Offiziere, von denen ihm noch kleine Anekdoten erinnerlich waren. Doch plötzlich bei einer Straßenbiegung tat sich der ganze Golf Juan auf mit seinem weißen Dörfchen im Hintergründe und der Landenge von Antibes am anderen Ende.
Forestier wurde plötzlich von kindlicher Freude ergriffen und stammelte:
»Ach, das Geschwader, du kannst von hier aus das Geschwader sehen!«
Und tatsächlich erblickte man mitten in der weiten Bucht ein halbes Dutzend großer Schiffe; sie glichen Felsen, die mit Ästen bedeckt waren. Sie waren von riesiger, ungeheuerlicher Gestalt mit Auswüchsen, Türmen und Schnäbeln, die sich ins Wasser senkten, als wollten sie sich in den Meeresgrund einbohren. Man begriff gar nicht, wie so etwas sich von der Stelle rühren und bewegen konnte, so schwer und im Grunde eingewurzelt erschienen diese Riesenleiber. Eine runde, hohe, schwimmende Batterie in Gestalt einer Sternwarte erinnerte an die auf Felsenklippen gebauten Leuchttürme.
Ein großer Dreimaster fuhr mit vollen Segeln, die schneeweiß und heiter leuchteten, an den Kriegsschiffen vorüber, in die hohe See hinaus. Neben diesen hässlichen, eisernen Kriegsungetümen sah er hübsch und graziös aus.
Forestier bemühte sich, jedes einzelne Kriegsschiff zu erkennen. Er nannte die Namen:
»Das ist der Colbert, der Suffren, der Admiral Duperré, der Redoutable, die Dévastation, nein, ich irre mich, da drüben ist die Dévastation.«
Sie gelangten zu einer großen Ausstellungshalle, auf der die Inschrift stand: »Kunstfayencen vom Golf Juan«. Der Wagen fuhr um einen Rasenplatz herum und hielt dann vor der Tür.
Forestier wollte zwei Vasen kaufen, um sie in seiner Bibliothek aufzustellen. Da er nicht aus dem Wagen heraussteigen konnte, wurden ihm die Muster eines nach dem anderen gebracht. Er wählte lange und fragte bald seine Frau, bald Duroy um Rat.
»Weißt du, ich stelle sie auf das Möbelstück am Ende meines Arbeitszimmers. Ich werde sie dann immer vor Augen haben. Ich liebe die antike, griechische Form.«
Er prüfte die Muster, ließ sich andere bringen, dann wieder die, die er schon gesehen hatte. Schließlich entschloss er sich, bezahlte und verlangte, dass sie ihm sofort hingeschickt würden.
»Ich kehre in wenigen Tagen nach Paris zurück«, sagte er.
Sie fuhren längs der Meeresküste nach Hause. Plötzlich traf sie ein kalter Luftzug, der aus irgendeinem Seitental kam, und der Kranke begann zu husten. Anfangs war es nur ein kleiner Anfall, aber er wurde stärker, das Husten wurde heftiger und hörte gar nicht mehr auf. Es wurde ein ununterbrochenes Ächzen und ging zuletzt in ein Röcheln über.
Forestier war am Ersticken, und jedes Mal, wenn er aufatmen wollte, zerriss ihm der Husten, der aus seiner Brust herauskam, die Kehle. Nichts konnte ihm die Qual erleichtern, nichts konnte ihn beruhigen, und der Kranke musste aus dem Wagen in sein Zimmer hinaufgetragen werden. Duroy hielt seine Beine und fühlte bei jedem krampf der Lungen das Zucken seiner Füße.
Auch das warme Bett brachte keine Linderung und der Anfall dauerte bis Mitternacht an. Endlich gelang es durch Betäubungsmittel den tödlichen Hustenkrampf einigermaßen zu beruhigen. Und der Kranke blieb bis zum Morgen mit offenen Augen im Bett sitzen. Seine ersten Worte waren, man möchte den Barbier holen, denn er hielt peinlich darauf, jeden Morgen rasiert zu werden. Er stand zu diesem Zwecke auf, musste aber sofort wieder ins Bett gelegt werden, und er begann so kurz und rau und mühsam zu atmen, dass Frau Forestier in ihrer Angst Duroy, der sich zu Bett gelegt hatte, sofort wecken ließ und ihn bat, einen Arzt zu holen.
Er erschien kurze Zeit darauf mit dem Doktor Gavaut, der eine Arzenei verschrieb und ein paar Ratschläge erteilte. Als ihn Duroy hinausbegleitete und ihn nach seiner Meinung fragte, sagte er:
»Das ist der Todeskampf, Morgen früh ist er tot. Bereiten Sie die arme, junge Frau vor und lassen Sie einen Priester holen. Für mich ist hier nichts mehr zu tun, aber selbstverständlich stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«
Duroy ließ Frau Forestier rufen.
»Er wird sterben. Der Doktor rät, nach einem Priester zu schicken. Was wollen Sie tun?«
Sie konnte sich lange nicht entschließen. Dann sagte sie mit langsamer Stimme, nachdem sie sich alles überlegt hatte:
»Ja, es ist besser in mancher Hinsicht. … Ich werde ihn darauf vorbereiten und ihm sagen, dass der Pfarrer ihn sehen möchte … ich weiß noch nicht, irgend was. Also bitte seien Sie so freundlich und holen Sie mir einen Pfarrer. Aber suchen Sie ihn aus. Nehmen Sie einen, der nicht zu viel Mätzchen macht und sich mit der einfachen Beichte begnügt.«
Der junge Mann brachte einen liebenswürdigen, alten Geistlichen mit, der sich den Umständen anzupassen wusste. Er wurde sofort zu dem Sterbenden geführt. Frau Forestier ging hinaus und setzte sich mit Duroy in das Zimmer nebenan.
»Das hat ihn furchtbar ergriffen«, sagte sie. »Als ich vom Priester sprach, nahm sein Gesicht einen entsetzlichen Ausdruck an … als ob … als fühlte er den Hauch des … Sie verstehen mich … Er begriff, dass es zu Ende ging und dass seine Stunden gezählt seien …«
Sie war ganz blass.
»Ich werde den Ausdruck seines Gesichts nie vergessen«, fuhr sie fort. »Sicherlich hat er den Tod in diesem Augenblicke gesehen. Er hat ihn gesehen …«
Sie hörte die Stimme des Priesters; er sprach etwas laut, denn er war schwerhörig.
»Nein, nein, es steht gar nicht so schlimm mit Ihnen. Sie sind krank, Sie sind leidend, aber es droht Ihnen keine Gefahr. Und der Beweis ist, dass ich als Freund und Nachbar zu Ihnen komme.«
Was Forestier antwortete, konnten sie nicht hören. Der Priester fuhr fort:
»Ich will Ihnen nicht das Abendmahl reichen. Darüber wollen wir reden, wenn Sie sich besser fühlen. Wenn Sie aber meinen Besuch benutzen wollen, um zu beichten, so ist es mir recht. Ich bin ein Seelenhirt und benutze jede Gelegenheit, um meine Schafe zu retten.«
Es folgte ein langes Schweigen. Offenbar sprach Forestier mit seiner keuchenden, klanglosen Stimme. Plötzlich sagte der Priester in verändertem Ton, dem Ton einer gottesdienstlichen Handlung:
»Gottes Barmherzigkeit ist unendlich. Sprechen Sie das Confiteor, mein Sohn. Sie haben es vielleicht vergessen, ich will Ihnen helfen. Sprechen Sie mir nach: Confiteor Deo omnipotenti … Beatae Mariae semper virgini …«
Von Zeit zu Zeit machte er eine Pause, damit der Sterbende ihn einholen konnte. Dann sagte er:
»Nun beichten Sie.«
Die junge Frau und Duroy rührten sich nicht mehr.
Sie fühlten sich seltsam verwirrt und von einer ängstlichen Spannung ergriffen.
Der Kranke hatte etwas gemurmelt. Der Priester wiederholte :
»Sie haben sich der sündhaften Nachsicht sträflich gemacht? Welcher Art war sie, mein Sohn?«
Die junge Frau stand auf und sagte kurz :
»Wir wollen in den Garten gehen. Wir dürfen seine Geheimnisse nicht hören.«
Sie gingen und setzten sich auf eine Bank vor der Tür, unter einem blühenden Rosenstrauch, hinter einem Nelkenbeet, das seinen starken, süßen Duft ausströmte.
Nach einer minutenlangen Pause fragte Duroy:
»Wird es lange dauern, bis Sie nach Paris zurückkehren?«
»O nein,« antwortete sie, »sobald hier alles zu Ende ist, fahre ich zurück.«
»Etwa in zehn Tagen?«
»Ja, höchstens.«
»Hat er keine Verwandte?« fragte Duroy.
»Keine. Nur ein paar Vettern. Sein Vater und seine Mutter sind gestorben, als er noch ganz klein war.«
Sie schauten beide einem Schmetterling zu, der auf den Nelken seine Nahrung suchte; er flog von einer Blüte zur anderen und flatterte hastig mit den Flügeln, die sich jedoch langsam bewegten, wenn er auf einer Blume saß. Sie saßen und schwiegen eine lange Zeit. Der Diener kam und teilte mit, dass »der Herr Pfarrer fertig sei«. Sie gingen zusammen hinauf. Forestier schien seit gestern noch magerer geworden zu sein.
Der Priester reichte ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen, mein Sohn. Ich komme morgen früh.«
Und er ging fort.
Sobald er hinaus war, versuchte der Sterbende, der schwer röchelte, seine beiden Hände zu seiner Frau zu erheben und stotterte:
»Rette mich … Rette mich … Geliebte … ich will nicht sterben … ich will nicht sterben … Oh! Rettet mich … Sagt, was ich tun soll, holt den Arzt … Ich nehme alles ein, was er verschreibt … Ich will nicht … ich will nicht …«
Er weinte. Große Tränen rannen aus seinen Augen über die fleischlosen Backen, und die eingefallenen Falten seines Mundes verzogen sich wie die eines betrübten kleinen Kindes.
Und nun sanken seine Hände auf das Bett und bewegten sich hier fortwährend langsam und regelmäßig, als ob sie auf der Decke etwas suchten. Seine Frau begann nun auch zu weinen und stammelte:
»Aber nein, es ist doch nichts. Es ist ein Anfall, morgen geht es dir besser. Du bist sehr müde von der gestrigen Spazierfahrt.«
Forestier atmete so schnell wie ein Hund, der eben gelaufen ist. Die Atemzüge gingen so hastig, dass man sie kaum zählen konnte, und so leise, dass, man sie kaum vernehmen konnte. Er wiederholte immerfort:
»Ich will nicht sterben … Oh, mein Gott … mein Gott … was wird mit mir? Ich werde nichts mehr sehen? Ich werde nichts mehr sehen … nichts … Niemals … Oh, mein Gott …«
Er starrte vor sich hin und sah etwas, was für die anderen unsichtbar blieb, etwas Furchtbares, denn in seinen unbeweglichen Augen spiegelte sich das entsetzlichste Grauen wieder. Seine beiden Hände fuhren mit ihrer schrecklichen, ermüdenden Gebärde fort.
Plötzlich überfiel ihn ein furchtbarer Krampf, der seinen Körper von Kopf bis zu Fuß erbeben ließ. Er stammelte:
»Der Kirchhof … mich … mein Gott …«
Er sprach nichts mehr und blieb unbeweglich, verstört und röchelnd liegen.
Die Zeit verging; die Uhr eines nahegelegenen Klosters schlug zwölf. Duroy verließ das Zimmer, um etwas zu essen. Nach einer Stunde war er wieder da. Madame Forestier wollte nichts zu sich nehmen. Der Kranke hatte sich nicht gerührt. Er fuhr noch immer mit seinen mageren Fingern über die Bettdecke, als ob er sein Gesicht berühren wollte.
Die junge Frau saß in einem Lehnstuhl am Fuße des Bettes. Duroy nahm sich einen anderen und setzte sich neben sie; beide warteten schweigend.
Der Arzt hatte eine Krankenwärterin geschickt; sie saß am Fenster und schlummerte.
Duroy begann auch schläfrig zu werden, als er plötzlich das Gefühl hatte, dass etwas geschehen müsste. Er öffnete die Augen gerade noch früh genug, um zu sehen, wie Forestier die seinen wie zwei erlöschende Lichter schloss, ein kurzes Schlucken bewegte die Kehle des Sterbenden, und in den Mundwinkeln wurden zwei Blutfäden sichtbar, die dann langsam auf das Hemd herabtropften. Die Hände hörten mit ihrer schrecklichen Bewegung auf. Er atmete nicht mehr.
Die Frau begriff, was geschehen war; sie stieß einen Schrei aus und warf sich schluchzend neben dem Bett auf die Knie. Georges machte vor Schreck und Entsetzen mechanisch das Zeichen des Kreuzes. Die Wärterin war erwacht und trat ans Bett heran.
»Es ist vorbei«, sagte sie.
Und Duroy, der seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatte, murmelte mit einem Seufzer der Erleichterung:
»Das hat nicht solange gedauert, wie ich dachte.«
Als die erste Bestürzung vorüber war und die ersten Tränen geflossen waren, beschäftigte man sich mit all den Schritten, die bei einem Todesfall erforderlich sind. Duroy wurde bis in die Nacht hinein in Anspruch genommen.
Als er heimkehrte, war er sehr hungrig. Frau Forestier aß auch ein wenig. Dann setzten sie sich beide in das Trauergemach, um an der Leiche zu wachen.
Zwei Kerzen brannten auf dem Nachttisch neben einer Schale, in der ein Büschel Mimosen schwamm, denn den üblichen Buchsbaumzweig hatte man nirgends auftreiben können.
Sie saßen jetzt allein, der junge Mann und die junge Frau neben ihm, der nicht mehr auf dieser Welt war. Sie sprachen kein Wort und betrachteten ihn nachdenklich.
Georges besonders, den die Finsternis um die Leiche beängstigte, konnte den Blick nicht von ihr wenden. Seine Augen und seine Gedanken wurden angezogen und fasziniert von diesem fleischlosen Gesicht, das in dem zitternden Lichtschein der Kerzen noch hohler erschien. Das war sein Freund Charles Forestier, der gestern noch mit ihm gesprochen hatte! Wie unbegreiflich und grauenvoll war doch das Ende eines menschlichen Wesens. Oh, jetzt dachte er an die Worte Norbert de Varennes, den die Furcht vor dem Tode so quälte: »Nie kehrt ein Mensch wieder. Millionen und Milliarden ähnlicher Wesen werden geboren, die auch Augen, Nase, Mund und Schädel mit einem Gehirn besitzen, aber nie kehrt derselbe Mensch zurück, der dort ausgestreckt im Bette liegt.
Ein paar Jahre lang hatte er gelebt, gegessen, gelacht, geliebt und gehofft, wie jeder andere. Und nun war es mit ihm zu Ende, zu Ende für immer. Was ist ein Menschenleben? Ein paar Tage und weiter nichts. Man kommt auf die Welt, man wächst heran, man wird glücklich, man wartet und dann stirbt man. Fahr wohl! Mann oder Weib, du kommst auf diese Erde nie wieder! Und doch trägt jeder in sich eine fieberhafte, unerfüllbare Sehnsucht nach Ewigkeit; und jeder ist ein kleines Weltall im großen Weltall, und versinkt doch so schnell in das ewige Nichts, um zum Nährboden für neu aufgehende Keime zu werden. Pflanzen, Tiere, Menschen, Sterne und Welten, alles lebt auf, dann stirbt es, um sich in etwas Neues zu verwandeln, und nie kehrt ein Wesen zurück; weder ein Wurm, noch ein Mensch, noch ein Planet!
Ein dumpfes, unendliches Grauen lastete vernichtend auf der Seele Duroys, der Schrecken vor dem grenzenlosen, unvermeidlichen Nichts, das unaufhörlich jedes kurzlebige und schwache Lebewesen zerstört. Und er beugte schon die Stirn vor dieser entsetzlichen dauernden Drohung. Er dachte an die Fliegen, die ein paar Stunden leben, an die Tiere, die Tage, an die Menschen, die ein paar Jahre, und an die Welten, die ein paar Jahrhunderte leben. Welcher Unterschied besteht zwischen ihnen? Ein paar Morgenröten mehr, weiter nichts!
Er wandte die Augen ab, um die Leiche nicht mehr sehen zu müssen.
Madame Forestier saß mit gesenktem Kopf da und schien ebenfalls in schmerzliche Gedanken versunken zu sein. Ihre blonden Haare über dem traurigen Gesicht sahen so schön und reizvoll aus, dass eine süße Empfindung, eine aufblühende Hoffnung das Herz des jungen Mannes berührte. Warum verzweifeln, wenn man noch so viele Jahre vor sich hatte?
Er betrachtete sie aufmerksam. Sie war von ihren Gedanken erfüllt und sah ihn nicht. Er sagte sich: »Das einzig Gute und Schöne im Leben ist: die Liebe! Ein geliebtes Weib in seinen Armen zu halten — das ist das höchste Menschenglück auf dieser Erde.«
Welches Glück hatte der Tote gehabt, dass er eine so kluge und reizende Kameradin gefunden hatte. Wie mochten sie sich wohl kennengelernt haben? Wie war sie dazu gekommen, einen so mittelmäßigen und armen Burschen zu heiraten? Wie war es ihr gelungen, etwas aus ihm zu machen?
Und er dachte über alle Geheimnisse nach, die im Menschenleben verborgen sind. Er erinnerte sich an alle Gerüchte über den Grafen de Vaudrec, der sie angeblich ausgestattet und verheiratet hatte. Was würde sie nun anfangen? Wen würde sie heiraten? Einen Abgeordneten, wie Madame de Marelle meinte, oder einen jungen Mann mit Zukunft, einen neuen verbesserten Forestier? Hatte sie bestimmte Hoffnungen, Pläne, Absichten? Wie gern hätte er das erfahren! Aber warum zerbrach er sich den Kopf über ihre Zukunft? Er dachte darüber nach und es wurde ihm klar, dass seine Beunruhigung aus jenen dunklen, verborgenen Gedanken kam, die man vor sich selbst geheimhält und dann entdeckt, wenn man tief ins Innerste seiner Seele eindringt. Ja. warum sollte er nicht versuchen, sie zu erobern? Wie stark und unüberwindlich würde er an ihrer Seite sein? Wie sicher und schnell würde er vorwärts kommen, und wie weit würde er es bringen? Und warum sollte es nicht gelingen? Er wusste ganz genau, dass er ihr gefiel, dass sie mehr für ihn empfand als bloß Sympathie, dass sie eine Neigung für ihn hegte, wie sie zwischen zwei gleichgearteten Naturen entsteht und ebensosehr auf einem gegenseitigen Gefallen wie auf einem geheimen Einvernehmen beruht. Sie kannte ihn als klug, zäh und entschlossen, sie konnte zu ihm Vertrauen haben.
Hatte sie ihn denn nicht in dieser so schweren Lage zu sich gerufen? Und warum gerade ihn? Lag darin nicht schon eine Art Wahl, eine Art Geständnis? Vielleicht sogar Entschluss? Wenn sie gerade an ihn in dem Augenblick dachte, wo sie Witwe werden sollte, hatte sie da nicht vielleicht auch gedacht, dass er ihr ein neuer Lebensgefährte und Bundesgenosse sein sollte?
Eine ungeduldige Neugier quälte ihn, er wollte sie befragen, ihre Absichten kennenlernen. Übermorgen würde er abreisen, denn er konnte nicht allein in einem Hause mit dieser Frau wohnen. Er musste sich beeilen, er musste noch vor seiner Rückkehr nach Paris ihre Absichten geschickt und feinfühlig ergründen, er durfte sie nicht zurückkehren lassen, damit sie nicht auf Drängen eines anderen nachgäbe und sich endgültig binde.
Tiefes Schweigen herrschte im Zimmer. Man hörte nur das metallische, regelmäßige Ticken der Uhr, die auf dem Kamin stand.
»Sie müssten wohl sehr müde sein?« murmelte er.
»Ja,« sagte sie, »und vor allem tief traurig.«
Der Ton ihrer Stimme klang so seltsam in diesem düsteren Raum, dass sie beide erstaunt waren. Und sie blickten plötzlich das Antlitz des Toten an, als hätten sie erwartet, dass er sich bewegte, sie anredete, wie er es noch vor wenigen Stunden tat.
Duroy sprach weiter:
»Oh! Es ist ein schwerer Verlust für Sie und eine völlige Veränderung in Ihrem Leben, eine wirkliche Umwälzung Ihres ganzen Daseins.«
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, ohne zu antworten.
»Es ist traurig für eine junge Frau, so allein im Leben zu stehen, wie Sie jetzt«, fuhr er fort.
Dann schwieg er wieder. Sie sagte nichts. Er stammelte:
»Jedenfalls wissen Sie, welches Abkommen wir getroffen haben. Sie können über mich verfügen, wie Sie wollen. Ich gehöre Ihnen.«
Sie reichte ihm die Hand und sah ihn mit so sanften, traurigen Augen an, dass er bis ins Innerste seiner Seele ergriffen wurde.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Sie sind überaus gut. Wenn ich für Sie was tun dürfte und könnte, ich würde auch sagen: Verlassen Sie sich auf mich.«
Er hatte ihre Hand ergriffen und behielt sie in der seinen. Er presste sie mit dem heißen Verlangen, sie zu küssen. Endlich entschloss er sich dazu, näherte sie langsam seinem Munde und drückte die zarte, etwas heiße, parfümierte und fieberische Hand an seine Lippen. Als er dann fühlte, dass dieser zärtliche Freundschaftskuss etwas zu lange dauerte, ließ er die kleine Hand wieder fallen. Sie sank langsam zurück auf das Knie der jungen Frau, die in ernstem Ton versetzte:
»Ja, ich werde mich sehr einsam fühlen, aber ich will versuchen, tapfer zu sein.«
Er wusste nicht recht, wie er es ihr begreiflich machen sollte, dass er sehr glücklich sein würde, wenn sie seine Frau werden wollte. Gewiss konnte er es ihr zu dieser Stunde angesichts dieses Toten nicht sagen, doch er hoffte, eine jener vielsagenden, doppelsinnigen, anständigen Redensarten zu finden, die alles durchblicken lassen, ohne etwas direkt auszusprechen.
Doch die Leiche genierte ihn, die starre, kalte Leiche, die vor ihm lag, und die sie zwischen sich fühlten.
Übrigens glaubte er seit einiger Zeit zu bemerken, dass die Luft des geschlossenen Zimmers einen verdächtigen Geruch annahm, der aus jener stillen, zusammengesunkenen Brust zu kommen schien, der erste Hauch der Verwesung, den die Toten auf die Überlebenden ausströmen, der schreckliche Duft, mit dem sie dann bald den engen Raum ihres Sarges erfüllen.
»Können wir nicht das Fenster etwas öffnen?« fragte Duroy, »es scheint mir, dass die Luft schlecht ist.«
Sie antwortete:
»Gewiss, mir ist es auch so vorgekommen;«
Er ging zum Fenster und öffnete es. Ein Hauch der frischen, duftigen Nacht wehte herein und ließ die beiden Kerzen neben dem Bett flackern. Draußen breitete wie am Tage vorher der Mond sein ruhig flutendes Licht auf die weißen Mauern der Villen und die breite, leuchtende Fläche des Meeres. Duroy atmete tief; er fühlte sich jetzt von neuen Hoffnungen erfüllt und belebt vom Herannahen des Glücks.
Er drehte sich um:
»Kommen Sie doch etwas frische Luft schöpfen,« sagte er, »es ist herrlich draußen.«
Ruhig kam sie an ihn heran und lehnte sich neben ihn ans Fenster.
Und mit leiser Stimme flüsterte er:
»Hören Sie mich an und verstehen Sie recht, was ich Ihnen sage. Zürnen Sie mir bitte nicht, dass ich in diesem Augenblick von solchen Dingen mit Ihnen zu sprechen wage, aber übermorgen schon muss ich Sie verlassen, und wenn Sie nach Paris zurückkommen, wird es vielleicht zu spät sein. Sehen Sie … ich bin ein armer Teufel, ich besitze kein Vermögen, und meine Stellung muss ich mir noch erkämpfen, das wissen Sie. Doch ich habe Willenskraft, etwas Verstand — so glaube ich wenigstens — und ich bin auf dem richtigen Wege. Bei einem Manne, der sich schon durchgesetzt hat, weiß man, woran man ist, bei einem Anfänger weiß man nicht, wie weit man kommt. Das ist vielleicht schlimmer, vielleicht besser. Als ich einmal bei Ihnen war, sagte ich Ihnen, dass. es mein höchster Traum wäre, einmal eine Frau wie Sie zu heiraten. Heute sage ich Ihnen das noch einmal. Antworten Sie mir noch nicht, lassen Sie mich ausreden. Ich richte an Sie keine Frage, der Ort und die Zeit würden schlecht dazu passen. Mir liegt nur daran, dass Sie wissen, wie glücklich Sie mich mit einem einzigen Wort machen können, dass ich ganz nach Ihrem Belieben Ihr brüderlicher Freund und auch Ihr Gatte sein werde, dass ich mit Leib und Seele Ihnen gehöre. Ich will nicht, dass Sie mir jetzt schon antworten, und noch weniger, dass dieser Gegenstand hier erörtert wird. Wenn wir uns in Paris wiedersehen werden, werden Sie mir Ihren Entschluss mitteilen. Bis dahin kein Wort mehr. Einverstanden?«
Er hatte gesprochen, ohne sie anzublicken, als streue er seine Worte in die Nacht hinaus. Und sie schien ihn nicht gehört zu haben, so unbeweglich war sie geblieben, und sie starrte mit ruhigem Blick in die weite Mondlandschaft hinaus. So blieben sie lange nebeneinander, Schulter an Schulter, schweigsam und nachdenklich stehen.
Schließlich murmelte sie:
»Es wird kühl.«
Und sie drehte sich um und trat an das Bett. Er folgte ihr.
Wie er näher herantrat, merkte er, dass der Körper Forestiers tatsächlich Leichengeruch ausströmte. Er rückte seinen Sessel weiter ab, denn lange hätte er diesen Geruch nicht ertragen können.
»Er muss gleich morgen früh in den Sarg gelegt werden«, sagte er.
»Ja, es ist schon abgemacht,« erwiderte sie, »der Tischler kommt gegen acht Uhr.«
»Armer Charles!« seufzte Duroy, und sie stieß auch einen Seufzer der schmerzlichen Ergebung aus.
Sie blickten jetzt nicht so oft zu ihm hinüber, sie hatten sich an die Tatsache gewöhnt, dass er nun tot sei, und begannen, sich in Gedanken schon mit seinem Verschwinden abzufinden, mit dem, was sie eben noch so schmerzlich ergriffen und entsetzt hatte, weil sie auch nur sterbliche Menschen waren.
Sie sprachen jetzt nicht mehr und fuhren fort, auf anständige Weise an der Leiche zu wachen, und versuchten, nicht einzuschlafen. Aber gegen Mitternacht schlief Duroy doch ein. Als er aufwachte, sah er, dass Madame Forestier gleichfalls schlummerte. Er setzte sich dann möglichst bequem zurecht, schloss die Augen wieder und brummte:
»O Gott, im Bett ist es doch bequemer.«
Ein plötzliches Geräusch ließ ihn auffahren. Die Wärterin trat ein; es war heller Tag. Die junge Frau, die in ihrem Lehnstuhl gegenüber saß, schien genau so überrascht zu sein wie er. Sie war etwas bleich, aber noch immer frisch, hübsch und reizend, trotz der sitzend verbrachten Nacht.
Duroy warf einen Blick auf den Toten und rief jetzt zitternd:
»Oh! Sein Bart!«
Der Bart war allerdings in seinem entstellten Gesicht in wenigen Stunden umso viel gewachsen, wie sonst nicht an mehreren Tagen. Starr und verblüfft standen sie angesichts dieses Lebens nach dem Tode, wie vor einem grauenhaften Wunder, als drohe ihnen hier eine übernatürliche Macht mit der Auferstehung vom Tode, einer naturwidrigen und entsetzlichen Erscheinung, die den Verstand verwirrt und unbegreiflich bleibt. Sie gingen alle beide bis elf zur Ruhe. Dann wurde Charles in den Sarg gelegt und sofort fühlten sie sich erleichtert und beruhigt.
Während sie sich beim Frühstück gegenübersaßen, hatten sie beide Lust, von tröstenden, froheren Dingen zu reden und ins Leben zurückzukehren, denn den Todesfall hatten sie nun hinter sich.
Durch die weitgeöffneten Fenster drang die milde, warme Frühlingsluft herein und trug den Duft der Nelken mit sich, die vor der Tür blühten.
Madame Forestier schlug Duroy einen kleinen Spaziergang durch den Garten vor, und sie wanderten langsam um die kleinen Rasenplätze herum und atmeten entzückt die milde Luft ein, die nach Tannenbäumen und Eukalyptus duftete.
Plötzlich sprach sie, ohne ihn anzusehen, genau so wie er es in der Nacht getan hatte. Sie brachte die Worte langsam mit ernsthafter, tiefer Stimme heraus:
»Hören Sie mich an, lieber Freund. Ich habe es mir reiflich überlegt … jetzt schon … was Sie mir vorgeschlagen haben, und ich will Sie nicht abreisen lassen, ohne Ihnen wenigstens ein Wort der Erwiderung mit auf den Weg zu geben. Ich sage Ihnen übrigens weder ja noch nein. Wir werden warten und sehen; wir werden uns besser kennenlernen. Denken Sie über alles richtig nach. Lassen Sie sich nicht zu rasch hinreißen. Wenn ich jetzt schon über diese Dinge spreche, bevor der arme Charles noch begraben ist, so tue ich es, weil ich will, dass Sie sich über mich im Klaren sind, damit Sie sich nicht länger solchen Gedanken hingeben, wenn Sie nicht so … geartet sind, dass Sie mich verstehen und mich so nehmen, wie ich bin. — Verstehen Sie mich wohl? Für mich ist die Ehe keine Kette — sondern ein Bündnis. Ich beanspruche stets volle Freiheit in meinen Handlungen, meinen Unternehmungen, meinem Ein- und Ausgehen, in allem. Ich vertrage weder Kontrolle, noch Eifersucht, noch Auseinandersetzungen über mein Benehmen. Natürlich würde ich mich verpflichten, den Namen des Mannes, den ich heirate, niemals bloßzustellen, ihn weder verächtlich noch lächerlich zu machen. Dafür müsste sich der Mann verpflichten, mich als seine ebenbürtige Bundesgenossin zu behandeln, nicht aber als eine Untergebene und gehorsame Gattin. Ich weiß, meine Ansichten sind nicht die allgemein gültigen, aber ich ändere sie trotzdem nicht. So. — Ich füge noch hinzu: Antworten Sie mir heute nicht, es wäre überflüssig und unpassend. Wir werden uns wiedersehen und werden uns später mal darüber unterhalten. — Nun machen Sie noch einen Spaziergang, ich muss zu ihm zurück. Auf Wiedersehen heute Abend.«
Er küsste ihr lange die Hand und ging, ohne ein Wort zu sagen.
Abends trafen sie sich nur zur Mahlzeit. Dann gingen sie auf ihre Zimmer, denn sie waren beide ganz zerschlagen vor Müdigkeit.
Charles Forestier wurde am nächsten Morgen ohne jeden Prunk auf dem Friedhof von Cannes beerdigt. Georges Duroy wollte den Schnellzug nach Paris nehmen, der um halb zwei abfuhr. Madame Forestier hatte ihn zur Bahn begleitet. In Erwartung des Zuges gingen sie ruhig auf dem Bahnsteig auf und ab und unterhielten sich von gleichgültigen Dingen.
Der Zug lief ein. Er war ganz kurz; ein richtiger Schnellzug, der nur fünf Wagen hatte.
Der Journalist belegte einen Platz und stieg dann noch einmal aus, um noch ein paar Augenblicke mit ihr zu plaudern. Er wurde plötzlich traurig; er bedauerte schmerzlich, sie verlassen zu müssen, als ob er sie für immer verlieren könnte.
Der Beamte rief: »Marseille, Lyon, Paris einsteigen.«
Duroy stieg ins Kupee und lehnte sich zur Tür hinaus, um ihr noch ein paar Worte sagen zu können. Die Lokomotive pfiff und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.
Der junge Mann lehnte sich zum Wagenfenster hinaus und sah die junge Frau, die unbeweglich auf dem Bahnsteig stand und ihm nachblickte. Und plötzlich, als er sie fast aus seinen Augen verloren hatte, warf er ihr mit beiden Händen eine Kusshand zu.
Sie gab ihm den Gruß zurück, zaudernd und nur angedeutet.