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V.

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So wa­ren zwei Mo­na­te ver­gan­gen. Der Sep­tem­ber rück­te her­an, aber das schnel­le Glück, das Du­roy er­hofft hat­te, schi­en nur sehr lang­sam her­an­zu­kom­men. Am meis­ten quäl­te ihn die ge­sell­schaft­li­che Be­deu­tungs­lo­sig­keit sei­ner Stel­lung, und er sah kei­nen Weg, auf dem er zu den Hö­hen hin­auf­klet­tern konn­te, wo man An­se­hen, Macht und Geld fin­det.

Der un­be­deu­ten­de Be­ruf ei­nes Re­por­ters um­fing ihn wie eine Fes­sel; er war dar­in wie ver­mau­ert und konn­te nicht hin­aus. Zwar ach­te­te man sei­ne Tüch­tig­keit, aber man schätz­te ihn nach sei­ner Stel­lung. Selbst Fo­res­tier, dem er tau­send Diens­te leis­te­te, lud ihn zum Di­ner nicht mehr ein und be­han­del­te ihn wie einen Un­ter­ge­be­nen, ob­wohl er ihn noch freund­schaft­lich duz­te.

Frei­lich ge­lang es Du­roy von Zeit zu Zeit, auch einen klei­nen Ar­ti­kel in sei­nem Blat­te an­zu­brin­gen, und da er durch sei­ne Lo­kal­nach­rich­ten einen flot­ten Zei­tungs­stil und Schreibart ge­lernt hat­te, was ihm bei der Ab­fas­sung sei­nes zwei­ten Ar­ti­kels über Al­gier ab­so­lut fehl­te, so lief er kei­ne Ge­fahr mehr, dass sei­ne Ar­ti­kel ab­ge­wie­sen wür­den. Aber von da bis zu ei­nem aus ei­ge­nen Ge­dan­ken­gän­gen und ei­ge­ner Fan­ta­sie ge­schaf­fe­nen Feuil­le­ton oder ei­nem erns­ten po­li­ti­schen Auf­satz be­stand ein eben­so großer Un­ter­schied wie zwi­schen ei­nem Kut­scher und ei­nem selbst­kut­schie­ren­den Herrn, der in den Ave­nues du Bois de Bou­lo­gne spa­zie­ren fährt. Was ihn be­son­ders de­mü­tig­te, war, dass ihm die Tü­ren der Ge­sell­schaft ver­schlos­sen blie­ben und dass er kei­nen Ver­kehr hat­te, wo er als Gleich­be­rech­tig­ter auf­tre­ten konn­te, und vor al­len Din­gen, dass er kei­ne nä­he­ren, in­ti­men Be­zie­hun­gen zu Da­men hat­te, ob­gleich ihn meh­re­re be­kann­te Schau­spie­le­rin­nen mit auf­fal­len­der Lie­bens­wür­dig­keit emp­fan­gen hat­ten.

Er wuss­te üb­ri­gens aus Er­fah­rung, dass alle Frau­en, ob sie nun den gu­ten oder schlech­ten Ge­sell­schafts­krei­sen an­ge­hör­ten, eine merk­wür­di­ge Zu­nei­gung und eine spon­ta­ne Sym­pa­thie für ihn ver­spür­ten. Die Tat­sa­che je­doch, dass er ge­ra­de die­se We­sen, von de­nen doch sei­ne Zu­kunft ab­hän­gen konn­te, nicht kann­te, mach­te ihn un­ge­dul­dig und ner­vös wie ein Renn­pferd, dem man nicht freie Bahn gibt.

Oft ge­nug hat­te er dar­an ge­dacht, Frau Fo­res­tier zu be­su­chen, doch die Erin­ne­rung an die letz­te Be­geg­nung de­mü­tig­te ihn und hielt ihn da­von zu­rück, und au­ßer­dem er­war­te­te er, dass ihn der Mann ein­la­den wür­de. Dann fiel ihm wie­der Ma­da­me de Ma­rel­le ein; sie hat­te ihn ja ge­be­ten, er möch­te sie doch mal be­su­chen. So ging er ei­nes Nach­mit­tags, an dem er nichts an­de­res zu tun hat­te, zu ihr hin.

»Ich bin bis drei Uhr im­mer zu Hau­se«, hat­te sie ge­sagt.

Um halb drei klin­gel­te er an der Tür.

Sie wohn­te Rue de Ver­neuil, im vier­ten Stock. Auf das Klin­gel­zei­chen öff­ne­te ein Dienst­mäd­chen mit zer­zaus­tem Haar die Tür; sie setz­te ihre klei­ne Hau­be zu­recht und ant­wor­te­te:

»Ja, die gnä­di­ge Frau ist zu Hau­se, aber ich weiß nicht, ob sie auf ist.«

Sie öff­ne­te die Sa­lon­tür, die nicht ver­schlos­sen war. Du­roy trat ein. Das Zim­mer war ziem­lich groß, aber nicht reich mö­bliert und sah et­was ver­wahr­lost aus. Die al­ten ab­ge­nutz­ten Ses­sel stan­den an der Wand ent­lang, so wie sie das Dienst­mäd­chen hat­te ste­hen las­sen, nir­gends spür­te man die sorg­sa­me Hand der ele­gan­ten Haus­frau, die sich ihr Heim ge­müt­lich zu ge­stal­ten liebt. Vier arm­se­li­ge Bil­der, die einen Kahn auf dem Flus­se, ein Schiff auf dem Mee­re, eine Müh­le in ei­ner Ebe­ne, einen Holz­hau­er im Wal­de dar­stell­ten, hin­gen in der Mit­te der vier Wän­de an Stri­cken ver­schie­de­ner Län­ge, und alle vier hin­gen schief. Man er­riet, dass sie wahr­schein­lich schon lan­ge so schief hin­gen un­ter den nach­läs­si­gen Au­gen der gleich­gül­ti­gen Be­sit­ze­rin.

Du­roy setz­te sich und war­te­te. Er war­te­te lan­ge. End­lich öff­ne­te sich die Tür und Ma­da­me de Ma­rel­le trat ei­lig her­ein. Sie trug ein ja­pa­ni­sches Mor­gen­kleid aus rosa Sei­de, das mit gol­de­nen Land­schaf­ten, blau­en Blu­men und wei­ßen Vö­geln be­stickt war.

»Den­ken Sie, ich war noch im Bett«, rief sie aus. »Das ist aber nett, dass Sie sich auch mal bei mir se­hen las­sen. Ich dach­te be­stimmt, Sie hät­ten mich ver­ges­sen.«

Mit strah­len­dem Ge­sicht streck­te sie ihm bei­de Hän­de ent­ge­gen, und Du­roy, dem die ver­wahr­los­te Ein­rich­tung des Zim­mers sei­ne vol­le Si­cher­heit wie­der­gab, er­griff sie und küss­te die eine Hand, wie er es ein­mal von Nor­bert de Va­ren­ne ge­se­hen hat­te.

Sie bat ihn, Platz zu neh­men. Dann mus­ter­te sie ihn vom Kopf bis zu den Fü­ßen und sag­te: »Sie ha­ben sich sehr zu Ihrem Vor­teil ver­än­dert. Pa­ris hat Ih­nen gut ge­tan. Er­zäh­len Sie mir, was gibt es Neu­es?«

Da­mit be­gan­nen sie zu plau­dern, als ob sie alte Be­kann­te wä­ren. Und sie fühl­ten, wie zwi­schen ih­nen eine un­mit­tel­ba­re Ver­trau­lich­keit ent­stand, ein Über­strö­men von Zu­nei­gung, Herz­lich­keit und ge­gen­sei­ti­gem Ver­ständ­nis, das in we­ni­gen Mi­nu­ten zwei We­sen von glei­cher Art und Cha­rak­ter zu Freun­den macht. Plötz­lich stock­te die jun­ge Frau und rief ganz er­staunt:

»Es ist merk­wür­dig, wie wir über­ein­stim­men. Mir ist’s, als ken­ne ich Sie seit zehn Jah­ren. Wir wer­den si­cher­lich gute Freun­de wer­den. Wol­len Sie?«

»Aber na­tür­lich«, er­wi­der­te er mit viel­sa­gen­dem Lä­cheln.

Er fand sie höchst ver­füh­re­risch in ih­rem wei­chen, leuch­ten­den Ge­wand, viel­leicht we­ni­ger zärt­lich und fein als Frau Fo­res­tier in ih­rem wei­ßen Mor­gen­kleid, we­ni­ger zier­lich und gra­zi­ös, da­für aber ent­zücken­der und auf­rei­zen­der.

Bei Ma­da­me Fo­res­tier mit ih­rem un­ver­än­der­li­chen, zärt­li­chen Lä­cheln, das gleich­zei­tig an­zog und ab­stieß, das zu sa­gen schi­en »Du ge­fällst mir« und auch »Nimm dich in acht«, und des­sen wirk­li­chen Sinn er nie er­ra­ten konn­te, emp­fand er in ers­ter Li­nie das Be­dürf­nis, sich ihr zu Fü­ßen zu le­gen oder die zier­li­chen Spit­zen zu küs­sen, die ihre zar­te Haut be­deck­ten, und lang­sam den war­men, par­fü­mier­ten Duft ein­zuat­men, der von ih­rer Brust ström­te. Bei Ma­da­me de Ma­rel­le emp­fand er ein et­was bru­ta­le­res und be­stimm­te­res Ver­lan­gen, eine Be­gier­de, die sei­ne Fin­ger zu­cken ließ, wenn er die run­den For­men ih­res Kör­pers un­ter der leich­ten Sei­de sah.

Sie sprach im­mer wei­ter, und fast aus je­dem Satz sprüh­te die­ser leich­te, geist­rei­che Witz, den sie so rou­ti­niert be­herrsch­te, wie ein Meis­ter sein Hand­werk be­herrscht und mit ei­nem rech­ten Griff eine schwie­ri­ge Ar­beit mit er­staun­li­cher Ge­wandt­heit aus­führt. Er hör­te zu und dach­te: »Das müss­te man sich mer­ken. Man könn­te die hüb­sche­s­ten Feuil­le­tons schrei­ben, wenn man sie über die Pa­ri­ser Ta­ge­s­er­eig­nis­se plau­dern hört.«

Jetzt klopf­te es ganz lei­se an der Tür. Ma­da­me de Ma­rel­le rief:

»Du kannst her­ein­kom­men, Klei­ne!«

Das klei­ne Mäd­chen er­schi­en, ging di­rekt auf Du­roy zu und reich­te ihm die Hand.

Die Mut­ter mur­mel­te er­staunt:

»Das ist ja eine Erobe­rung. Ich er­ken­ne sie nicht wie­der.«

Der jun­ge Mann küss­te das Kind, setz­te es ne­ben sich und er­kun­dig­te sich ernst und lie­bens­wür­dig nach al­lem, was es in der letz­ten Zeit ge­tan hat­te. Sie ant­wor­te­te mit ih­rer dün­nen Flö­ten­stim­me und mit der erns­ten Mie­ne ei­ner er­wach­se­nen Dame.

Die Uhr schlug drei. Der Jour­na­list er­hob sich.

»Kom­men Sie recht oft,« bat Ma­da­me de Ma­rel­le, »wir plau­dern dann wie heu­te. Sie wer­den mir stets will­kom­men sein. Aber warum sieht man Sie nie mehr bei Fo­res­tiers?«

»Ein Zu­fall,« er­wi­der­te er, »ich hat­te so viel zu tun. Ich hof­fe aber, dass wir uns dem­nächst dort ein­mal wie­der tref­fen wer­den …«

Und er ging, in­ner­lich vol­ler Hoff­nung, ohne recht zu wis­sen, warum.

Fo­res­tier sag­te er nichts über die­sen Be­such, aber die Erin­ne­rung dar­an wich wäh­rend des gan­zen fol­gen­den Ta­ges nicht von ihm; es war mehr als bloß Erin­ne­rung, ein Ge­fühl der un­wirk­li­chen, an­dau­ern­den Ge­gen­wart die­ser Frau. Ihm war es, als hät­te er einen Teil von ihr fort­ge­tra­gen, als wäre das Bild ih­res Kör­pers in sei­nen Au­gen und der Reiz ih­res We­sens in sei­nem Her­zen ge­blie­ben. Und er blieb im Ban­ne die­ser Vor­stel­lung, wie es manch­mal ge­schieht, wenn man schö­ne Stun­den mit ei­nem Men­schen ver­bracht hat. Man meint dann, man wäre von et­was Fremd­ar­ti­gem, Hol­dem, Köst­li­chem voll­stän­dig ein­ge­nom­men, das umso ver­wir­ren­der und rei­zen­der er­scheint, je we­ni­ger wir es deu­ten kön­nen.

Nach ein paar Ta­gen wie­der­hol­te er sei­nen Be­such.

Die Zofe führ­te ihn in den Sa­lon und gleich dar­auf er­schi­en Lau­ri­ne. Sie hielt ihm nicht ihre Hand, son­dern ihre Stirn hin und sag­te:

»Mama lässt Sie bit­ten, et­was zu war­ten. Es wird eine Vier­tel­stun­de dau­ern, denn sie ist noch nicht an­ge­zo­gen. Ich leis­te Ih­nen so­lan­ge Ge­sell­schaft.«

Du­roy, dem das wür­di­ge Be­neh­men der Klei­nen Spaß mach­te, sag­te:

»Vor­treff­lich, mein klei­nes Fräu­lein, ich bin ent­zückt, mit Ih­nen eine Vier­tel­stun­de zu ver­brin­gen. Aber ich muss Sie dar­auf auf­merk­sam ma­chen, dass ich gar nicht so ernst bin; ich spie­le den gan­zen Tag und schla­ge Ih­nen da­her vor, wir spie­len ein biss­chen Ha­schen.«

Die Klei­ne schi­en zu­erst er­staunt, dann lä­chel­te sie wie eine Dame über die­sen Ein­fall, der sie ein biss­chen är­ger­te und ein biss­chen über­rasch­te und mur­mel­te:

»Das Zim­mer ist nicht zum Spie­len ein­ge­rich­tet.«

»Das ist mir ganz egal«, er­wi­der­te er. »Ich spie­le über­all. Also los! Ha­schen Sie mich!«

Und er be­gann um den Tisch her­um­zu­lau­fen; sie folg­te ihm und lä­chel­te, als täte sie das nur aus Höf­lich­keit. Hin und wie­der streck­te sie die Hand aus, um ihn zu ha­schen, ohne sich je­doch zum Lau­fen hin­rei­ßen zu las­sen. Er blieb ste­hen, duck­te sich, und wenn sie mit ih­rem klei­nen, zö­gern­den Schritt an­kam, sprang er in die Höhe, wie ein Teu­fel aus dem Kas­ten, und lief dann bis ans an­de­re Ende des Zim­mers. Sie fand Ge­fal­len dar­an und fing an zu la­chen; sie lief nun eif­rig hin­ter ihm her und kreisch­te halb fröh­lich, halb ängst­lich auf, wenn sie ihn ge­fasst zu ha­ben glaub­te. Er schob die Stüh­le hin und her, um ihr Hin­der­nis­se in den Weg zu le­gen. Bald ließ er sie eine Mi­nu­te lang um einen und den­sel­ben Stuhl her­um­lau­fen, bald sprang er von ei­nem zum an­de­ren. Lau­ri­ne lief jetzt rich­tig und gab sich ganz dem Ver­gnü­gen die­ses Spie­les hin. Mit ro­si­gem Ge­sicht­chen und echt kind­li­cher Be­geis­te­rung stürz­te sie bei je­der Flucht, bei je­der List und je­dem Schein­ma­nö­ver ih­res Spiel­ge­fähr­ten mit Schwung hin­ter ihm her.

Jetzt glaub­te sie ihn end­lich fas­sen zu kön­nen, da er­griff er sie mit bei­den Ar­men, hob sie bis zur De­cke em­por und rief:

»Ge­fan­gen, ge­fan­gen!«

Die Klei­ne stram­pel­te ent­zückt mit den Bein­chen, um sich zu be­frei­en, und lach­te da­bei aus vol­lem Her­zen.

Als Ma­da­me de Ma­rel­le ein­trat, war sie ver­blüfft:

»Aber Lau­ri­ne! … du spielst? Sie sind ja ein Zau­be­rer, mein Herr!«

Er setz­te die Klei­ne wie­der zu Bo­den und küss­te der Mut­ter die Hand. Sie setz­ten sich, die Klei­ne saß da­zwi­schen. Sie woll­ten plau­dern, aber Lau­ri­ne, die sonst im­mer schwieg, war wie be­rauscht und schwatz­te un­auf­hör­lich, so­dass die Mut­ter sie auf ihr Zim­mer schi­cken muss­te. Sie ge­horch­te, ohne zu ant­wor­ten, aber mit Trä­nen in den Au­gen.

So­bald sie al­lein wa­ren, sag­te Ma­da­me de Ma­rel­le mit ge­dämpf­ter Stim­me:

»Sie wis­sen noch nicht, ich habe eine große Sa­che vor und ich habe an Sie ge­dacht. Sie wis­sen, ich spei­se jede Wo­che ein­mal bei Fo­res­tiers und ich re­van­chie­re mich von Zeit zu Zeit, in­dem ich sie in ein Re­stau­rant ein­la­de. Ich sehe nicht gern Ge­sell­schaft bei mir, ich bin da­für nicht ge­schaf­fen, au­ßer­dem kann ich kei­nen Haus­halt füh­ren und von der Kü­che ver­ste­he ich ab­so­lut gar nichts. Ich lebe gern ins Blaue hin­ein. Des­halb lade ich sie hin und wie­der in ein Re­stau­rant ein, aber wenn wir nur zu dritt sind, ist die Sa­che nie recht lus­tig. Und mei­ne Be­kann­ten pas­sen gar nicht zu ih­nen. Ich sage Ih­nen das, um Ih­nen mei­ne et­was au­ßer­ge­wöhn­li­che Ein­la­dung zu er­klä­ren. Sie fas­sen es also nicht falsch auf, wenn ich Sie bit­te, am Sonn­abend um acht im Café Ri­che zu spei­sen. Sie ken­nen doch das Re­stau­rant?«

Er nahm die Ein­la­dung er­freut an und sie fuhr fort:

»Wir wer­den nur zu viert sein, eine rich­ti­ge Par­tie carré. Sol­che klei­ne Fes­te sind sehr amüsant für uns Frau­en, die wir sel­ten in die Re­stau­rants kom­men.«

Sie trug ein dun­kelblau­es Kleid, das ihre Tail­le, ihre Hüf­ten, ihre Brust und ihre Arme in auf­rei­zen­der und ver­füh­re­ri­scher Wei­se her­vor­tre­ten ließ, und Du­roy fühl­te ein ver­wirr­tes Er­stau­nen, ja fast eine Ver­le­gen­heit, de­ren Grund er sich nicht er­klä­ren konn­te, über das Miss­ver­hält­nis zwi­schen die­ser sorg­fäl­tig ge­pfleg­ten Ele­ganz ih­rer Toi­let­te und der sicht­li­chen Ver­wahr­lo­sung ih­rer Woh­nung, in der sie leb­te.

Al­les, was ih­ren Kör­per um­gab, was sie un­mit­tel­bar be­rühr­te, war fein, zart und pein­lich sau­ber, aber um ihre wei­te­re Um­ge­bung schi­en sie sich gar nicht zu küm­mern.

Er ver­ließ sie und be­wahr­te noch stär­ker als das ers­te Mal das Ge­fühl ih­rer fort­dau­ern­den Ge­gen­wart in ei­ner Art Fie­ber­wahn sei­ner Sin­ne. Er war­te­te mit wach­sen­der Un­ge­duld auf den ver­ab­re­de­ten Tag.

Er lieh sich zum zwei­ten Male einen Frack­an­zug, da sei­ne Mit­tel ihm noch im­mer nicht er­laub­ten, einen sol­chen zu kau­fen. Er er­schi­en als ers­ter ei­ni­ge Mi­nu­ten vor der Zeit.

Man ließ ihn zum zwei­ten Stock­werk hin­auf­stei­gen und führ­te ihn in einen klei­nen, rot ta­pe­zier­ten Sa­lon, des­sen ein­zi­ges Fens­ter nach dem Bou­le­vard hin­aus­ging.

Auf ei­nem vier­e­cki­gen Tisch mit blen­dend weißem Tisch­tuch wa­ren vier Ku­verts ge­deckt, und die Glä­ser, das Ta­fel­sil­ber und der Schüs­sel­wär­mer blitz­ten leb­haft im Schein von zwölf Ker­zen, die von zwei ho­hen Leuch­tern ge­tra­gen wur­den.

Vor dem Fens­ter sah man einen sehr großen, hell­grü­nen Fleck, der von den Baum­blät­tern her­rühr­te, auf die aus den ein­zel­nen Se­parés hel­les Licht fiel.

Du­roy setz­te sich auf ein nied­ri­ges Sofa, das eben­so rot war wie die Ta­pe­te. Die ab­ge­nutz­ten Fe­dern ga­ben stark nach, so­dass er das Ge­fühl hat­te, als stür­ze er in ein Loch hin­ein. In dem gan­zen, großen Ge­bäu­de ver­nahm er ein ver­wor­re­nes Ge­tö­se, das Geräusch der großen Re­stau­rants mit ih­rem Ge­schirr und Teller­ge­klap­per, dem Klin­gen von Sil­ber­zeug, den schnel­len Schrit­ten der Kell­ner auf den Gän­gen, de­ren Schall durch die Läu­fer ge­dämpft wird, dem Knar­ren der Tü­ren, die sich einen Au­gen­blick öff­ne­ten und den Stim­men­lärm al­ler In­sas­sen der en­gen Sa­lons her­aus­drin­gen lie­ßen.

Nach ei­ner Wei­le kam Fo­res­tier und drück­te ihm die Hand mit ei­ner herz­li­chen Ver­trau­lich­keit, wie er sie ihm nie­mals auf der Vie Françai­se ge­zeigt hat­te.

»Die bei­den Da­men kom­men zu­sam­men,« sag­te er, »sol­che Di­ners sind im­mer sehr nett.«

Dann be­sah er sich den Tisch, ließ eine Gas­flam­me, die wie ein Nacht­licht brann­te, ganz aus­dre­hen, schloss einen Fens­ter­flü­gel we­gen des Luft­zu­ges, such­te sich den ge­schütz­tes­ten Platz aus und sag­te:

»Ich muss mich sehr in acht neh­men. Seit ei­nem Mo­nat ging es mir bes­ser, aber vor ei­ni­gen Ta­gen habe ich einen Rück­fall be­kom­men. Ich muss mich am Diens­tag er­käl­tet ha­ben, als ich aus dem Thea­ter kam.«

Die Tür ging auf und die bei­den Frau­en er­schie­nen, ge­folgt von dem Ober­kell­ner. Sie wa­ren ver­schlei­ert und ein­gehüllt, mit je­nem rei­zen­den ge­heim­nis­vol­len We­sen, wie es Frau­en an Or­ten, die nicht ganz an­ge­bracht sind, so gern an­zu­neh­men pfle­gen.

Als Du­roy Ma­da­me Fo­res­tier be­grüß­te, mach­te sie ihm hef­ti­ge Vor­wür­fe, warum er sie nicht be­sucht hät­te. Dann sah sie ihre Freun­din lä­chelnd an und füg­te hin­zu:

»Na­tür­lich, Sie zie­hen Ma­da­me de Ma­rel­le mir vor; für sie ha­ben Sie also Zeit üb­rig.«

Man setz­te sich, und als der Ober­kell­ner Fo­res­tier die Wein­kar­te reich­te, rief Ma­da­me de Ma­rel­le:

»Ge­ben Sie den Her­ren, was sie wol­len; uns brin­gen Sie Cham­pa­gner in Eis, aber sü­ßen Cham­pa­gner, bit­te, die bes­te Sor­te, die Sie ha­ben; sonst nichts!«

Als der Mann ge­gan­gen war, er­klär­te sie mit auf­ge­reg­tem La­chen:

»Heu­te will ich mir einen Schwips antrin­ken. Wir wol­len ein Ge­la­ge ver­an­stal­ten, ein rich­ti­ges Ge­la­ge.«

Fo­res­tier, der an­schei­nend nicht zu­ge­hört hat­te, frag­te:

»Wür­de es Ih­nen recht sein, wenn ich das Fens­ter schlös­se. Seit ein paar Ta­gen habe ich wie­der Schmer­zen in der Brust.«

»Aber bit­te, selbst­ver­ständ­lich!«

Er stand auf, mach­te auch den zwei­ten Fens­ter­flü­gel zu und setz­te sich dann be­ru­higt und ver­gnügt wie­der auf sei­nen Platz. Sei­ne Frau sag­te nichts; ihre Ge­dan­ken schie­nen ganz wo­an­ders zu sein. Ihre Au­gen wa­ren ge­senkt, ihre Bli­cke fie­len auf die Glä­ser. Sie lä­chel­te; ihr Ge­sichts­aus­druck schi­en viel zu ver­spre­chen, ohne je­mals et­was zu hal­ten.

Es wur­den Os­ten­der Aus­tern ser­viert. Sie wa­ren klein und fett, sie sa­hen in ih­ren Scha­len wie Ohren aus und schmol­zen zwi­schen Zun­ge und Gau­men wie sal­zi­ge Bon­bons. Nach der Sup­pe gab es Lachs­fo­rel­le, ro­sig wie das Fleisch ei­nes jun­gen Mäd­chens, und nun be­gann die Un­ter­hal­tung in Fluss zu kom­men. Man sprach zu­erst über einen Stadt­klatsch, der da­mals über­all be­spro­chen wur­de; es war die Ge­schich­te ei­ner Dame der Ge­sell­schaft, die vom Freund ih­res Man­nes da­bei über­rascht wur­de, wie sie mit ei­nem aus­län­di­schen Fürs­ten im Se­paré sou­pier­te.

Fo­res­tier lach­te sehr über das Aben­teu­er, die bei­den Da­men aber er­klär­ten den in­dis­kre­ten Schwät­zer für einen Lüm­mel und Feig­ling. Du­roy schloss sich ih­rer Mei­nung an und er­klär­te laut und deut­lich, in der­ar­ti­gen Fäl­len wäre für den Ehren­mann strengs­te Dis­kre­ti­on ge­bo­ten, gleich­gül­tig, ob er Be­tei­lig­ter, Ver­trau­ter oder bloß zu­fäl­li­ger Mit­wis­ser sei. Er füg­te hin­zu, wie voll von wun­der­vol­len Din­gen das Le­ben wäre, wenn wir im­mer auf eine ge­gen­sei­ti­ge, un­be­ding­te Ver­schwie­gen­heit rech­nen könn­ten. Was die Frau­en nur zu oft, ja fast im­mer zu­rück­schreckt, ist die Ent­hül­lung des Ge­heim­nis­ses. Er lä­chel­te und fuhr fort:

»Nicht wahr? — Wie vie­le wür­den sich, dem hef­ti­gen Ver­lan­gen und der vor­über­ge­hen­den Lau­ne ge­hor­chend, zur Lie­be hin­rei­ßen las­sen, wenn sie nicht fürch­te­ten, ein. leich­tes, kur­z­es Glück mit ewi­ger Schan­de und schmerz­li­chen Trä­nen be­zah­len zu müs­sen. Er sprach mit an­ste­cken­der Über­zeu­gungs­kraft, als plä­dier­te er für sich selbst, als woll­te er sa­gen: »Bei mir hat man der­ar­ti­ge Ge­fah­ren nicht zu fürch­ten! Bit­te, pro­bie­ren Sie es nur ein­mal!«

Die bei­den Frau­en sa­hen ihn an und ihre Bli­cke schie­nen ihm zu­zu­stim­men. Sie fan­den, er sprä­che gut und zu­tref­fend, und ver­rie­ten durch ihr wohl­wol­len­des, zu­stim­men­des Schwei­gen, dass ihre un­beug­sa­me Moral der Pa­ri­se­r­in­nen nicht lan­ge aus­hal­len wür­de, wenn ab­so­lu­te Ver­schwie­gen­heit im Voraus ga­ran­tiert wäre.

Fo­res­tier, der fast auf dem Sofa lag, ein Bein an sich ge­zo­gen und die Ser­vi­et­te in die Wes­te ge­steckt, um den Frack nicht zu be­fle­cken, er­klär­te plötz­lich mit dem über­zeug­ten La­chen ei­nes Skep­ti­kers:

»Weiß Gott! Das wür­den sie aus­nüt­zen. Wenn man nur der Ver­schwie­gen­heit si­cher wäre. Don­ner­wet­ter! Und die Ehe­män­ner! Die ar­men Ehe­män­ner!«

Das Ge­spräch kam nun auf die Lie­be im All­ge­mei­nen. Du­roy hielt sie zwar nicht für ewig, aber für dau­er­haft. Sie muss­te zu ei­ner zärt­li­chen Freund­schaft und ge­gen­sei­ti­gem Ver­trau­en füh­ren. Die Ve­rei­ni­gung der Sin­ne sei nur ein Sie­gel zur Ge­mein­schaft der Her­zen. Vor pei­ni­gen­den Ei­fer­suchtss­ze­nen da­ge­gen und vor all den Qua­len, die das Ende ei­ner sol­chen Lie­be zu be­glei­ten pfle­gen, hat­te er einen hef­ti­gen Ab­scheu.

Dann schwieg er. Ma­da­me de Ma­rel­le seufz­te:

»Ja, die Lie­be ist das ein­zig An­ge­neh­me und Schö­ne im Le­ben und wir ver­der­ben sie nur all­zu oft durch un­mög­li­che For­de­run­gen.«

Frau Fo­res­tier spiel­te mit dem Mes­ser und sag­te:

»Ja … ja … es ist so schön, ge­liebt zu wer­den!«

Träu­me­risch schweif­ten ihre Bli­cke um­her, und sie be­gann über Din­ge nach­zu­den­ken, von de­nen sie nicht zu spre­chen wag­te.

Da das ers­te Zwi­schen­ge­richt auf sich war­ten ließ, so schlürf­ten sie von Zeit zu Zeit einen Schluck Cham­pa­gner und knab­ber­ten ein Stück Krus­te von klei­nen run­den Bröt­chen und ihre Ge­dan­ken weil­ten bei der Lie­be, schwol­len lang­sam an und wirk­ten be­rau­schend auf ihre See­len, wie der hel­le Cham­pa­gner, der Trop­fen für Trop­fen durch ihre Keh­len rann, ihr Blut er­hitz­te und den Geist ver­wirr­te.

Man ser­vier­te zar­te, leich­te Ham­mel­ko­te­letts, die auf ei­ner dich­ten Un­ter­la­ge von Spar­gel­spit­zen la­gen.

»Oh, das ist was Fei­nes!« rief Fo­res­tier aus.

Und sie aßen lang­sam und ge­nos­sen das schö­ne Fleisch und das wei­che cre­me­ar­ti­ge Ge­mü­se.

Du­roy fuhr fort:

»Wenn ich eine Frau lie­be, dann ver­schwin­det für mich al­les üb­ri­ge auf der Welt.«

Er sag­te das aus vol­ler Über­zeu­gung und be­rausch­te sich an die­sem Vor­ge­fühl von Lie­bes­freu­de, wie er sich eben jetzt an dem Ge­nuss und Wohl­ge­schmack der Ta­fel be­geis­ter­te.

Ma­da­me Fo­res­tier mur­mel­te mit ei­nem un­ver­ständ­li­chen und un­nah­ba­ren Ge­sichts­aus­druck:

»Es gibt kein grö­ße­res Glück als den ers­ten Hän­de­druck, wenn die eine Hand fragt: ›Liebst du mich?’, und die an­de­re dar­auf mit ei­nem lei­sen Druck er­wi­dert: ›Ja, ich lie­be dich!’«

Ma­da­me de Ma­rel­le hat­te eben wie­der ein neu­es Glas Cham­pa­gner aus­ge­trun­ken und setz­te es wie­der hin mit den Wor­ten:

»Ich bin we­ni­ger pla­to­nisch!«

Alle lach­ten und stimm­ten ihr mit er­reg­ten Bli­cken zu.

Fo­res­tier lehn­te sich auf dem Sofa zu­rück, stütz­te sich mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men auf die Kis­sen und sag­te ganz ernst­haft:

»Die­se Frei­mü­tig­keit ehrt Sie und be­weist, dass Sie eine of­fen­her­zi­ge, prak­ti­sche Frau sind. Aber dürf­te ich viel­leicht er­fah­ren, wel­cher An­sicht Ihr Herr Ge­mahl ist?«

Sie zuck­te be­däch­tig die Ach­seln, mit tiefer Ver­ach­tung, dann sag­te sie mit kla­rer Stim­me:

»Mein Mann hat über die­sen Punkt über­haupt kei­ne Mei­nung … er ent­hält sich …«

Dann glitt die Un­ter­hal­tung lang­sam von den all­ge­mei­nen Theo­ri­en über Lie­be auf jene schlüpf­ri­gen Ge­bie­te hin­ab, wo man an fei­nen An­spie­lun­gen aus dem Reich des Eros Ge­fal­len fin­det.

Es kam zu wit­zi­gen, ge­schick­ten Zwei­deu­tig­kei­ten, zu ei­nem Schlei­er­lüf­ten mit Wor­ten. Es über­stürz­ten sich ver­we­ge­ne Scher­ze und pi­kan­te An­deu­tun­gen, die uns al­les blitz­ar­tig klar und scharf vor Au­gen füh­ren, was wir nie­mals aus­zu­spre­chen wa­gen wür­den und uns plötz­lich in lei­den­schaft­li­cher Er­re­gung al­les ent­hül­len, was sonst scham­haft und ver­schwie­gen bei uns im In­nern ver­schlos­sen bleibt, und was der vor­neh­men Ge­sell­schaft eine Art ge­heim­nis­vol­ler Wol­lust ge­währt, eine Art un­keu­scher Berüh­rung der Ge­dan­ken durch die gleich­zei­tig auf­re­gen­de, sinn­li­che Be­schwö­rung al­ler ge­hei­men, scham­lo­sen Trie­be.

Man brach­te den Bra­ten: Reb­hüh­ner, mit Wach­teln gar­niert, jun­ge Erb­sen und dann eine Ter­ri­ne Gän­se­le­ber­pas­te­te, zu der es Salat gab, der wie grü­ner Schaum eine große Salat­schüs­sel in Form ei­nes La­voirs füll­te.

Sie kos­te­ten von al­lem, ohne dar­auf zu ach­ten, was sie ei­gent­lich aßen, so sehr wa­ren sie mit ih­ren Ge­dan­ken und der Un­ter­hal­tung be­schäf­tigt, als ob sie in ein Bad von Lie­be tauch­ten.

Die bei­den Da­men be­gan­nen bald auch An­ek­do­ten zu er­zäh­len. Ma­da­me de Ma­rel­le tat es mit ei­ner na­tür­li­chen Kühn­heit, die fast her­aus­for­dernd wirk­te, wäh­rend Ma­da­me Fo­res­tier mit ei­ner ge­wis­sen Ver­schämt­heit im Ton, in der Stim­me, im Lä­cheln und in ih­rem gan­zen We­sen eine rei­zen­de, al­ler­liebs­te Zu­rück­hal­tung be­wahr­te, was alle Keck­hei­ten, die ih­rem Mun­de ent­quol­len, schein­bar mil­der­te, in Wahr­heit aber un­ter­strich.

Fo­res­tier hat­te sich ganz und gar zwi­schen die So­fa­kis­sen ver­gra­ben; er lach­te, trank und aß un­un­ter­bro­chen und warf hin und wie­der eine so un­zwei­deu­ti­ge Be­mer­kung da­zwi­schen, dass die Frau­en der brüs­ken Form hal­ber et­was un­ge­hal­ten wa­ren und ei­ni­ge Se­kun­den lang ein ver­le­ge­nes Ge­sicht zeig­ten. Hat­te er eine zu der­be Zote vor­ge­bracht, dann setz­te er hin­zu:

»Ihr be­nehmt euch fein, mei­ne Kin­der, wenn es so wei­ter geht, wer­det ihr noch al­ler­hand Dumm­hei­ten an­stel­len.«

Nach dem Des­sert wur­de Kaf­fee ser­viert, und die Li­kö­re weck­ten in den er­reg­ten Ge­mü­tern eine noch schwe­re­re und hei­ße­re Un­ru­he.

Ma­da­me de Ma­rel­le war an­ge­hei­tert, wie sie es sich bei Be­ginn der Mahl­zeit vor­ge­nom­men hat­te, und das er­kann­te sie ohne wei­te­res an mit der lus­ti­gen, schwatz­haf­ten An­mut ei­ner Frau, die einen tat­säch­lich klei­nen Rausch über­treibt, um ihre Gäs­te zu amü­sie­ren.

Ma­da­me Fo­res­tier schwieg ver­mut­lich aus Vor­sicht, und auch Du­roy, der fühl­te, dass er in sei­nem an­ge­reg­ten Zu­stan­de leicht einen Miss­griff be­ge­hen konn­te, be­wahr­te eine ge­schick­te Zu­rück­hal­tung.

Jetzt wur­den Zi­ga­ret­ten her­um­ge­reicht und Fo­res­tier be­gann plötz­lich zu hus­ten. Es war ein schreck­li­cher An­fall, der ihm die Brust bei­na­he zu zer­rei­ßen schi­en. Mit krebs­ro­tem Ge­sicht, die Stir­ne mit Schweiß be­deckt, er­stick­te er fast in sei­ner vor­ge­hal­te­nen Ser­vi­et­te. Als der An­fall ei­ni­ger­ma­ßen vor­bei war, mur­mel­te er wü­tend:

»Es ist zu dumm, ich kann sol­che Fes­te nicht mit­ma­chen.«

Sei­ne gan­ze, gute Lau­ne ver­schwand vor der Angst, die ihm der Ge­dan­ke an sei­ne Krank­heit ein­flö­ßte:

»Ge­hen wir nach Hau­se«, sag­te er.

Ma­da­me de Ma­rel­le klin­gel­te nach dem Kell­ner und ver­lang­te die Rech­nung. Sie er­hielt sie so­gleich und ver­such­te, sie zu le­sen, aber die Zif­fern tanz­ten ihr vor den Au­gen und sie reich­te Du­roy das Pa­pier:

»Bit­te, be­zah­len Sie für mich, ich kann nicht mehr le­sen, ich bin zu be­rauscht.«

Und gleich­zei­tig warf sie ihm die Bör­se zu. — Die Rech­nung be­trug hun­dert­und­drei­ßig Fran­cs. Du­roy prüf­te sie, gab zwei Bank­no­ten, ließ sich her­aus­ge­ben und frag­te halb­laut: »Wie viel soll ich dem Kell­ner ge­ben?«

»Was Sie wol­len, ich weiß nicht.«

Er leg­te fünf Fran­cs auf den Tel­ler, gab der jun­gen Frau ihre Bör­se zu­rück und sag­te:

»Darf ich Sie nach Hau­se be­glei­ten?«

»Aber un­be­dingt. Ich bin über­haupt nicht mehr im­stan­de, mei­ne Woh­nung zu fin­den.«

Sie drück­ten Herrn und Frau Fo­res­tier die Hand, und gleich dar­auf saß Du­roy al­lein mit Ma­da­me de Ma­rel­le in ei­ner rol­len­den Drosch­ke.

Sie wa­ren jetzt dicht an­ein­an­der ge­drängt in die­sem schwar­zen Kas­ten ein­ge­schlos­sen, der dann und wann auf einen Au­gen­blick durch das Licht der Stra­ßen­la­ter­ne be­leuch­tet wur­de. Er fühl­te durch sei­nen Är­mel die Wär­me ih­rer Schul­ter, und er wuss­te ihr nichts zu sa­gen, ab­so­lut nichts, so sehr be­herrsch­te ihn der hei­ße Wunsch, sie in sei­ne Arme zu schlie­ßen. »Was wür­de sie denn tun, wenn ich es wag­te?« Und die Erin­ne­rung an alle an­züg­li­chen Be­mer­kun­gen wäh­rend des Es­sens er­reg­ten ihn, wäh­rend ihn die Angst vor ei­nem Skan­dal zu­rück­hielt. Sie sag­te kein Wort und saßt re­gungs­los in ih­rer Ecke. Er hät­te ge­dacht, sie schlie­fe, hät­te er nicht je­des Mal, wenn ein Licht­schein in das Ku­pee fiel, ihre Au­gen blit­zen se­hen. Was dach­te sie wohl? Er fühl­te zwar, dass er nicht spre­chen dür­fe, dass ein Wort, ein ein­zi­ges Wort, das das Schwei­gen un­ter­brä­che, all sei­ne Aus­sich­ten ver­nich­ten könn­te, doch ihm fehl­te der Mut, frech und bru­tal zu­zu­grei­fen.

Plötz­lich fühl­te er, wie ihr Fuß sich rühr­te. Es war eine har­te, ner­vö­se, un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, viel­leicht eine Auf­for­de­rung. Bei die­ser fast un­merk­li­chen Be­we­gung über­lief ihn ein Schau­dern von Kopf bis zu Fuß. Mit ei­nem Ruck wand­te er sich um und warf sich über sie. Er such­te ih­ren Mund mit sei­nen Lip­pen und mit den Hän­den ihr nack­tes Fleisch.

Sie stieß einen Schrei aus, einen leich­ten Schrei; sie woll­te sich auf­rich­ten, ihn zu­rück­sto­ßen, dann aber gab sie nach, als fehl­te ihr die Kraft, sich zu weh­ren. Aber die Drosch­ke hielt schon nach kur­z­er Zeit vor dem Hau­se, wo sie wohn­te, und Du­roy fand vor Über­ra­schung kein lei­den­schaft­li­ches Wort, um ihr sei­ne dank­ba­re Lie­be zu ge­ste­hen.

In­des­sen er­hob sie sich nicht und rühr­te sich nicht; sie schi­en wie be­täubt von dem, was ge­sche­hen war. Da fürch­te­te er, der Kut­scher könn­te Ver­dacht schöp­fen und stieg zu­erst aus, um der jun­gen Dame die Hand zu rei­chen. Stol­pernd, und ohne ein Wort zu sa­gen, stieg sie end­lich aus der Drosch­ke. Er läu­te­te, und als die Tür auf­ging, frag­te er zit­ternd: »Wann darf ich Sie wie­der­se­hen?«

Sie flüs­ter­te so lei­se, dass er es kaum hör­te: »Kom­men Sie mor­gen zu mir früh­stücken.« Und sie ver­schwand im Schat­ten des Haus­flurs, nach­dem sie die schwe­re, laut dröh­nen­de Tür zu­ge­wor­fen hat­te.

Er gab dem Kut­scher fünf Fran­cs und ging dann rasch und sie­ges­ge­wiss, voll über­mü­ti­ger Freu­de, sei­nen Weg zu­rück. End­lich hat­te er eine Frau ge­fun­den, eine Frau aus der Ge­sell­schaft, aus der bes­ten Pa­ri­ser Ge­sell­schaft. Wie leicht war es ge­we­sen und wie un­ver­hofft. Er hat­te sich ein­ge­bil­det, dass, um ei­nes von die­sen er­sehn­ten Ge­schöp­fen zu ver­füh­ren und zu er­obern, end­lo­se Mühe, lan­ges War­ten und eine ge­schick­te Be­la­ge­rung durch Auf­merk­sam­kei­ten, Lie­bes­wor­te, Seuf­zer und Ge­schen­ke nö­tig sei­en. Und sie­he da, die ers­te, die ihm be­geg­ne­te, er­gab sich ihm mit ei­nem Schlag, beim ers­ten An­griff, so schnell, dass er noch ganz ver­blüfft war.

»Sie war be­rauscht,« dach­te er, »mor­gen wird die Ton­art an­ders sein. Ich fürch­te, es gibt Trä­nen.« Die­se Aus­sicht be­un­ru­hig­te ihn, dann aber sag­te er sich: »Umso schlim­mer; jetzt habe ich sie und las­se sie nicht wie­der los.«

Und in ei­ner wir­ren Vi­si­on, in der sich alle sei­ne Zu­kunfts­hoff­nun­gen auf Ruhm und Ehre, auf Reich­tum und Lie­be wi­der­spie­gel­ten, er­blick­te er plötz­lich, ähn­lich ei­nem Schwarm von Fi­gu­ran­tin­nen bei den Thea­te­rapo­theo­sen, eine lan­ge Rei­he ele­gan­ter, rei­cher, vor­neh­mer Frau­en, die auf den gol­de­nen Wol­ken sei­ner Träu­me eine nach der an­de­ren lä­chelnd an ihm vor­über­zo­gen.

Und auch sein Schlaf war reich von sol­chen Träu­men.

Am nächs­ten Tage war er et­was auf­ge­regt, als er die Trep­pe zur Woh­nung der Ma­da­me de Ma­rel­le hin­auf­stieg. Wie wür­de sie ihn emp­fan­gen? Wür­de sie über­haupt ge­stat­ten, ihn her­ein­zu­las­sen? Wo­mög­lich war sie für ihn über­haupt nicht zu Hau­se? Wenn sie schwatz­te… Nein, sie konn­te gar nichts wei­ter­er­zäh­len, ohne die gan­ze Wahr­heit durch­bli­cken zu las­sen. Er war also völ­lig Herr der Si­tua­ti­on.

Das klei­ne Dienst­mäd­chen öff­ne­te die Tür und hat­te einen Ge­sichts­aus­druck wie im­mer. Ihr war nichts an­zu­se­hen, denn fast hat­te er er­war­tet, dass das Dienst­mäd­chen auch ein ver­stör­tes Aus­se­hen zur Schau tra­gen wür­de.

»Geht es der gnä­di­gen Frau gut?« frag­te er.

»Ja­wohl, mein Herr,« ant­wor­te­te sie, »wie im­mer.«

Sie ließ ihn in den Sa­lon hin­ein. Er ging di­rekt auf den Ka­min zu, um den Zu­stand sei­ner Fri­sur und sei­nes An­zugs zu prü­fen. Er zog sich die Kra­wat­te vor dem Spie­gel zu­recht und sah in die­sem die jun­ge Frau, die an der Schwel­le ih­res Zim­mers stand und ihn an­schau­te.

Er tat so, als be­mer­ke er sie nicht, und so be­ob­ach­te­ten sie sich erst ein­an­der prü­fend eine Zeit lang durch den Spie­gel, ehe sie sich ge­gen­über­tra­ten. Nun dreh­te er sich um. Sie rühr­te sich nicht und schi­en zu war­ten.

Er eil­te auf sie zu und stam­mel­te:

»Wie ich Sie lie­be! Wie ich Sie lie­be!«

Sie öff­ne­te die Arme und sie küss­ten sich lan­ge.

Er dach­te: »Das war leich­ter, als ich ge­glaubt hat­te, die Sa­che klappt aus­ge­zeich­net!«

Und als ihre Lip­pen sich ge­trennt hat­ten, lä­chel­te er, ohne ein Wort zu sa­gen, und ver­such­te, in sei­ne Bli­cke den Aus­druck ei­ner un­end­li­chen Lie­be hin­ein­zu­le­gen. Sie lä­chel­te gleich­falls mit je­nem Lä­cheln, das die Frau­en ha­ben, wenn sie ihr Ver­lan­gen, ihre Zu­stim­mung, ih­ren Wil­len zur Hin­ga­be aus­drücken wol­len. Sie sag­te lei­se:

»Wir sind al­lein. Ich habe Lau­ri­ne zu ei­ner Freun­din zum Früh­stück ge­schickt.«

Er küss­te ihre Hand­ge­len­ke und seufz­te:

»Dan­ke. Ich lie­be Sie über al­les!«

Sie nahm ihn am Arm, als ob er ihr Gat­te wäre, und sie gin­gen zum Sofa, wo sie sich ne­ben­ein­an­der hin­setz­ten.

Er ver­such­te eine leich­te und an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung an­zu­fan­gen. Da er je­doch kei­ne Aus­drücke fand, stam­mel­te er:

»Also … Sie sind mir nicht böse?«

Sie leg­te ihm ihre Hand auf den Mund:

»Sei doch still.«

Und so sa­ßen sie schwei­gend, die Bli­cke in­ein­an­der ver­senkt, mit ver­schlun­ge­nen Hän­den, lie­be­be­dürf­tig und glü­hend vor Ver­lan­gen.

»Wie heiß habe ich Sie be­gehrt!« sag­te er.

»Sei doch still!« wie­der­hol­te sie.

Man hör­te das Mäd­chen im Ess­zim­mer hin­ter der Wand mit dem Ge­schirr klap­pern.

Er stand auf. »Ich kann nicht so dicht ne­ben Ih­nen blei­ben, sonst ver­lie­re ich den Kopf.«

Die Tür ging auf.

»Es ist an­ge­rich­tet, gnä­di­ge Frau!«

Du­roy bot der jun­gen Dame mit Wür­de den Arm. Sie sa­ßen sich bei Tisch ge­gen­über; sie sa­hen sich an und lä­chel­ten ein­an­der im­mer­fort zu, ganz mit­ein­an­der be­schäf­tigt und ganz um­fan­gen von dem sü­ßen Zau­ber auf­blü­hen­der Lei­den­schaft. Sie aßen, ohne zu mer­ken, was. Er fühl­te einen Fuß, einen klei­nen Fuß, der un­ter dem Tisch sich reg­te. Er nahm ihn zwi­schen die sei­nen, hielt ihn fest und drück­te ihn, so stark er konn­te. Das Mäd­chen kam und ging, brach­te die Spei­sen und trug sie wie­der ab, ohne dass sie ir­gen­det­was zu mer­ken schi­en.

Als die Mahl­zeit be­en­det war, kehr­ten sie in den Sa­lon zu­rück und setz­ten sich wie­der auf das Sofa, Sei­te an Sei­te. Er woll­te zärt­lich sein und sie um­ar­men; sie wies ihn sanft zu­rück.

»Neh­men Sie sich in acht, man könn­te her­ein­kom­men.«

Er frag­te: »Wann könn­te ich Sie ganz al­lein se­hen, um Ih­nen zu sa­gen, wie sehr ich Sie lie­be?«

Sie neig­te sich zu ihm hin und sag­te ihm ganz lei­se ins Ohr:

»Ich kom­me in den nächs­ten Ta­gen ein­mal zu Ih­nen.«

Er fühl­te, wie er rot wur­de.

»Zu mir? … Es ist … ja so … ich mei­ne nur… es ist sehr be­schei­den.«

Sie lä­chel­te. »Das tut nichts, ich will Sie be­su­chen und nicht Ihre Woh­nung.«

Nun dräng­te er sie, zu sa­gen, wann sie kom­men wür­de. Sie be­stimm­te einen der letz­ten Tage der nächs­ten Wo­che; er fleh­te sie an, frü­her zu kom­men, mit stam­meln­den Wor­ten und leuch­ten­den Au­gen, wäh­rend er ihre Hän­de strei­chel­te, drück­te und press­te. Sein Ge­sicht glüh­te fie­ber­haft, ver­zerrt von Ver­lan­gen, das ei­ner Mahl­zeit zu zwei­en zu fol­gen pflegt. Es mach­te ihr Spaß, sein glü­hen­des Bit­ten zu se­hen und zu hö­ren und sie ging einen Tag nach dem an­de­ren zu­rück. Aber er wie­der­hol­te im­mer­fort:

»Mor­gen … Sa­gen Sie … mor­gen.«

End­lich wil­lig­te sie ein. »Gut, also mor­gen, um fünf.«

Freu­dig und er­leich­tert seufz­te er auf und nun plau­der­ten sie wie­der ganz ru­hig; sie wa­ren so ver­traut mit­ein­an­der, als hät­ten sie sich be­reits seit zwan­zig Jah­ren ge­kannt.

Ein Klin­gel­zei­chen er­tön­te; mit ei­nem Ruck fuh­ren sie aus­ein­an­der.

»Es wird wohl Lau­ri­ne sein«, flüs­ter­te sie.

Das Kind er­schi­en, blieb einen Au­gen­blick er­staunt ste­hen und lief dann hän­de­klat­schend auf Du­roy zu. Als sie ihn sah, war sie au­ßer sich vor Freu­de und rief:

»Ah, mein Bel-Ami.«

Ma­da­me de Ma­rel­le be­gann zu la­chen:

»Halt, Bel-Ami. Lau­ri­ne hat Sie so ge­tauft. Das ist ein net­ter Ko­sena­me für Sie und ich wer­de Sie auch ›Bel-Ami‹ nen­nen.«

Er nahm das Mäd­chen auf die Knie und muss­te nun mit ihr alle die Spie­le spie­len, die er sie ge­lehrt hat­te.

Zwan­zig Mi­nu­ten vor drei brach er auf, um auf die Re­dak­ti­on zu ge­hen. Auf der Trep­pe flüs­ter­te er noch­mals durch die halb­of­fe­ne Tür:

»Mor­gen, um fünf.«

Die jun­ge Frau ant­wor­te­te lä­chelnd »Ja« und ver­schwand.

So­bald er sei­ne Ta­ges­ar­beit er­le­digt hat­te, über­leg­te er sich, wie er sein Zim­mer aus­schmücken soll­te, um sei­ne Ge­lieb­te zu emp­fan­gen, und wie er am bes­ten die Ärm­lich­keit des Rau­mes ver­ber­gen soll­te. Er kam auf den Ge­dan­ken, al­ler­lei klei­ne ja­pa­ni­sche Ge­gen­stän­de mit Steck­na­deln an den Wän­den zu be­fes­ti­gen und kauf­te sich für fünf Fran­cs eine gan­ze Samm­lung von klei­nen Fä­chern und Wand­schir­men, mit de­nen er die be­schmutz­ten Stel­len der Ta­pe­te ver­deck­te. Auf die Fens­ter­schei­ben kleb­te er durch­schei­nen­de Bil­der von Flüs­sen mit Käh­nen, von Vo­gel­schwär­men auf glü­hen­dem Him­mel, von bunt­ge­klei­de­ten Da­men oder von ei­ner Rei­he klei­ner, schwar­zer Ge­stal­ten, die auf ei­ner schnee­be­deck­ten Ebe­ne wan­der­ten.

Auf die­se Wei­se sah sein Zim­mer, das ge­ra­de groß ge­nug war, um dar­in zu schla­fen und zu sit­zen, sehr bald wie das In­ne­re ei­ner be­mal­ten Pa­pier­la­ter­ne aus. Er hielt die Wir­kung für hin­rei­chend und ver­brach­te den Abend da­mit, aus ko­lo­rier­ten Blät­tern, die er noch be­saß, ei­ni­ge Vö­gel aus­zu­schnei­den und an die De­cke zu kle­ben. Dann leg­te er sich schla­fen, ein­ge­wiegt durch das Pfei­fen der Ei­sen­bahn­zü­ge.

Am nächs­ten Tage kehr­te er früh­zei­tig heim und brach­te Ge­bäck und eine Fla­sche Ma­dei­ra mit, die er beim Ko­lo­ni­al­wa­ren­händ­ler ge­kauft hat­te. Dann muss­te er noch­mals hin­un­ter, um zwei Tel­ler und zwei Glä­ser zu be­sor­gen, wor­auf er al­les auf den Wasch­tisch stell­te, des­sen schmut­zi­ge Plat­te er durch eine Ser­vi­et­te ver­deck­te. Das Wasch­be­cken und den Was­ser­krug hat­te er dar­un­ter ver­steckt.

Und nun war­te­te er.

Um vier­tel nach fünf er­schi­en sie; die bun­ten Bil­der­chen ge­fie­len ihr sehr, und sie rief:

»Es ist nett bei Ih­nen, nur auf der Trep­pe trifft man zu viel Leu­te.«

Er nahm sie in sei­ne Arme und küss­te lei­den­schaft­lich ihre Haa­re durch den Schlei­er hin­durch zwi­schen Stirn und Hut.

An­dert­halb Stun­den spä­ter be­glei­te­te er sie zu ei­ner Drosch­ken­hal­te­stel­le in der Rue de Rome. Als sie im Wa­gen saß, sag­te er lei­se:

»Diens­tag um die­sel­be Zeit.«

Sie wie­der­hol­te:

»Um die­sel­be Zeit Diens­tag.«

Da es schon dun­kel­te, zog sie sei­nen Kopf noch ein­mal an sich und küss­te ihn auf den Mund.

Der Kut­scher hieb auf sein Pferd ein; sie rief:

»Leb’ wohl, Bel-Ami!«

Der Schim­mel be­gann lang­sam zu tra­ben und die Drosch­ke roll­te da­von.

Drei Wo­chen lang be­such­te Frau de Ma­rel­le je­den zwei­ten oder drit­ten Tag ih­ren Freund, manch­mal des Mor­gens, manch­mal des Abends.

Ei­nes Nach­mit­tags, als er sie er­war­te­te, hör­te er lau­ten Lärm auf der Trep­pe und eil­te nach der Tür. Ein Kind heul­te. Eine wü­ten­de Män­ner­stim­me schrie:

»Willst du Ha­lun­ke wohl das Maul hal­ten.«

Eine schril­le, kei­fen­de Wei­ber­stim­me ant­wor­te­te:

»Die dre­cki­ge Hure, die im­mer zum Jour­na­lis­ten hin­auf­läuft, hat mei­nen Ni­co­las um­ge­sto­ßen. So ein Ge­sin­del läuft hier frei her­um und gibt nicht mal auf die Kin­der auf der Trep­pe acht.«

Du­roy war ent­setzt und zog sich zu­rück, denn schon hör­te er das Rau­schen von Rö­cken und has­ti­ge Schrit­te die letz­te Trep­pe hin­auf­ei­len.

Es klopf­te gleich dar­auf an sei­ner Tür, die er wie­der ge­schlos­sen hat­te, und er öff­ne­te. Ma­da­me de Ma­rel­le stürz­te atem­los, ver­stört ins Zim­mer und stam­mel­te: »Hast du ge­hört?«

Er tat, als ob er von nichts wüss­te:

»Nein, was denn?«

»Wie sie mich be­lei­digt ha­ben?«

»Wer?«

»Die ab­scheu­li­chen Men­schen, die da un­ten woh­nen.«

»Aber nein, was gibt es denn? Sage es mir doch!«

Sie fing an zu schluch­zen und konn­te kein Wort her­vor­brin­gen. Er muss­te ihr den Hut ab­neh­men, ihr Kor­sett öff­nen, sie aufs Bett le­gen und ihre Schlä­fen mit ei­nem feuch­ten Tuch küh­len; sie er­stick­te fast. Dann, als ihre Er­re­gung sich et­was ge­legt hat­te, brach ihre gan­ze Wut und Ent­rüs­tung los. Er soll­te so­fort hin­un­ter­ge­hen, sich mit den Leu­ten schla­gen, sie um­brin­gen.

»Das sind doch Ar­bei­ter, rohe Men­schen«, wie­der­hol­te er im­mer wie­der. »Be­den­ke doch, man müss­te sie der Po­li­zei an­zei­gen, du könn­test er­kannt und fest­ge­nom­men wer­den, du wä­rest ver­lo­ren. Man gibt sich mit sol­chen Leu­ten nicht ab.«

Sie kam nun auf einen an­de­ren Ge­dan­ken.

»Was sol­len wir tun, ich kann nicht wie­der her­kom­men!«

»Ganz ein­fach,« er­wi­der­te er, »ich zie­he aus.«

Sie mur­mel­te:

»Ja, aber das dau­ert zu lan­ge.«

Dann fiel ihr plötz­lich et­was an­de­res ein und sie sag­te schnell und wie­der ganz hei­ter:

»Nein, höre mal, ich weiß et­was. Über­lass es mir, küm­me­re dich um nichts. Ich schi­cke dir mor­gen ein blau­es Brief­chen.« — (Blau­es Brief­chen nann­te sie die ge­schlos­se­nen Te­le­gram­me, wie sie in­ner­halb Pa­ris be­för­dert wur­den.) — Jetzt lä­chel­te sie, ent­zückt über ih­ren Ein­fall, den sie nicht of­fen­ba­ren woll­te und trieb tau­send ver­lieb­te Toll­hei­ten.

Trotz­dem war sie sehr auf­ge­regt, als sie die Trep­pe wie­der hin­un­ter­ging; sie stütz­te sich mit al­ler Kraft auf den Arm ih­res Ge­lieb­ten; ihre Bei­ne tru­gen sie kaum.

Die Trep­pe war leer, sie tra­fen nie­man­den.

Da er spät auf­stand, lag er noch im Bett, als ihm am nächs­ten Mor­gen um elf Uhr der Post­bo­te das ver­spro­che­ne »blaue Brief­chen« brach­te.

Du­roy öff­ne­te es und las:

»Ren­dez­vous noch heu­te um fünf Uhr in der Rue de Con­stan­ti­no­ple 127. Lass Dich in die von Frau Du­roy ge­mie­te­te Woh­nung füh­ren. Ei­nen Kuss von Clo.«

Punkt fünf Uhr trat er in die Pfört­ner­lo­ge ei­nes großen Cham­bre-gar­nie-Hau­ses ein und frag­te:

»Hat hier Ma­da­me Du­roy eine Woh­nung ge­mie­tet?«

»Ja, mein Herr.«

»Wol­len Sie mich bit­te dort­hin füh­ren?«

Der Mann war of­fen­bar an hei­kle Um­stän­de ge­wöhnt, wo man sich klug und vor­sich­tig ver­hal­ten muss­te. Er sah ihn prü­fend an, dann such­te er in der lan­gen Rei­he von Schlüs­seln und frag­te:

»Sie sind doch Herr Du­roy?«

»Ja­wohl, das bin ich.«

Und er öff­ne­te eine klei­ne Zwei­zim­mer­woh­nung im Erd­ge­schoss, ge­gen­über der Pfört­ner­lo­ge.

Der Sa­lon war mit hel­len und ziem­lich neu­en Ta­pe­ten be­klebt und ent­hielt ein Ma­ha­go­ni­so­fa, das mit grü­nem Plüsch, mit gel­ben Ara­bes­ken über­zo­gen war. Auf dem Bo­den lag ein klei­ner Tep­pich, der so dünn war, dass man das Holz dar­un­ter fühl­te. Das Schlaf­zim­mer war so win­zig, dass das Bett es zu drei­vier­tel aus­füll­te. Es war ein brei­tes Bett, wie man es in mö­blier­ten Zim­mern fin­det, und reich­te von ei­ner Wand bis zur an­de­ren. Schwe­re blaue Vor­hän­ge, eben­falls aus Plüsch, hin­gen dar­an her­un­ter. Dar­über lag eine rot­sei­de­ne Dau­nen­de­cke mit ver­däch­ti­gen Fle­cken.

Du­roy war un­ru­hig und un­zu­frie­den; er dach­te: »Das wird mich ein Hei­den­geld kos­ten, die­ses Quar­tier. Ich wer­de wie­der ir­gend­wo pum­pen müs­sen. Es ist zu dumm, was sie da al­les an­ge­stellt hat.«

Die Tür ging auf und Clo­til­de stürz­te ei­lig her­ein, mit of­fe­nen Ar­men und rau­schen­den Rö­cken. Sie war ent­zückt.

»Ist es nicht nett? Sage doch, ist es nicht nett? Und man braucht kei­ne Trep­pen zu stei­gen, es liegt im Erd­ge­schoss, gleich an der Stra­ße. Wir kön­nen durchs Fens­ter her­ein- und hin­aus­stei­gen, ohne dass der Pfört­ner was merkt. Wie wer­den wir uns hier lie­ben?«

Er um­arm­te sie kühl und wag­te nicht die Fra­ge zu stel­len, die ihm auf der Zun­ge schweb­te. Sie leg­te ein dickes Pa­ket auf das Tisch­chen mit­ten im Zim­mer. Sie öff­ne­te es und nahm dar­aus ein Pa­ket Sei­fe, eine Fla­sche Eau de Lu­bin, einen Schwamm, eine Schach­tel mit Haar­na­deln, einen Schuh­knöp­fer und eine klei­ne Brenn­sche­re, um die Haar­löck­chen auf ih­rer Stirn, die sich leicht zer­zaus­ten, wie­der in Ord­nung zu brin­gen. Sie be­gann sich ein­zu­rich­ten, für je­des such­te sie ein Plätz­chen und amü­sier­te sich da­bei köst­lich. Wäh­rend sie die Schub­la­den öff­ne­te, er­zähl­te sie:

»Ich muss noch et­was Wä­sche mit­brin­gen, um sie, wenn nö­tig, wech­seln zu kön­nen. Das wird sehr be­quem sein. Wenn ich un­ter­wegs zu­fäl­lig in einen Re­gen ge­ra­te, kann ich mich hier um­zie­hen und trock­nen. Ein je­der von uns wird sei­nen ei­ge­nen Schlüs­sel ha­ben und ein drit­ter hängt noch beim Pfört­ner, für den Fall, dass ei­ner von uns sei­nen Schlüs­sel ver­gisst. Ich habe die Woh­nung auf drei Mo­na­te ge­mie­tet, na­tür­lich auf dei­nen Na­men, da ich ja mei­nen nicht nen­nen durf­te.«

Jetzt frag­te er:

»Dann sage mir bit­te, wann ich die Mie­te be­zah­len soll?«

»Aber sie ist schon be­zahlt, mein Lieb­ling«, er­wi­der­te sie ein­fach.

»Dann schul­de ich sie also dir?« frag­te er.

»Aber nicht doch, Schatz, das geht dich doch gar nichts an. Ich will mir die­sen tol­len Spaß leis­ten.«

Er tat, als ob er böse wäre.

»Aber bit­te, nein! Das er­lau­be ich nicht!«

Sie kam bit­tend zu ihm und leg­te ihm die Hän­de auf die Schul­tern:

»Ge­or­ges, ich bit­te dich dar­um, es macht mir so viel Freu­de, dass un­ser Nest mir, nur mir al­lein ge­hört! Das kann dich doch nicht ver­let­zen? Wa­rum denn? Es soll mein Ge­schenk für un­se­re Lie­be sein. Sag’, dass es dir recht ist, mein klei­ner Géo, sag’ ja?!«

Sie bat ihn mit ih­ren Au­gen, mit ih­ren Lip­pen, mit ih­rem gan­zen We­sen.

Er ließ sie bit­ten und wei­ger­te sich mit ent­rüs­te­ter Mie­ne. Dann gab er nach, weil er die Sa­che im Grun­de ge­recht­fer­tigt fand.

Als sie ge­gan­gen war, rieb er sich die Hän­de und mur­mel­te, ohne im In­nern sei­nes Her­zens nach­zu­for­schen, wo­her ihm ge­ra­de heu­te die­ses Ur­teil kam: »Sie ist doch wirk­lich ein lie­bes Ge­schöpf!«

Ein paar Tage spä­ter er­hielt er wie­der ein. blau­es Brief­chen fol­gen­den In­halts:

»Mein Mann kommt heu­te nach sechs­wö­chent­li­cher In­spek­ti­ons­rei­se wie­der zu­rück. Wir ha­ben acht Tage Pau­se! Wel­ches Pech, Lieb­ling!

Dei­ne Clo.«

Du­roy war starr. Er hat­te gar nicht dar­an ge­dacht, dass sie ver­hei­ra­tet war. Er hät­te gern mal den Mann ge­se­hen, nur ein­mal, um ihn ken­nen zu ler­nen. Trotz­dem war­te­te er ge­dul­dig auf die Abrei­se des Gat­ten. Er ging in­zwi­schen zwei­mal nach den Fo­lies Ber­gè­re und en­de­te bei­de Male bei Ra­hel.

Dann er­hielt er ei­nes Mor­gens wie­der ein Te­le­gramm aus vier Wor­ten:

»Heu­te fünf Uhr, Clo.«

Sie ka­men alle bei­de vor der fest­ge­setz­ten Zeit. In heißem Lie­bes­aus­bruch fiel sie ihm um den Hals und küss­te ihn zärt­lich und lei­den­schaft­lich aufs Ge­sicht. »Wenn du willst,« sag­te sie, »ge­hen wir nach­her ir­gend­wo es­sen. Ich habe mich frei­ge­macht.«

Es war ge­ra­de An­fang des Mo­nats, und ob­gleich Du­roy sein Ge­halt lan­ge vor­aus be­zog und von Tag zu Tag vom Gel­de leb­te, das er über­all zu­sam­men­borg­te, so be­fand er sich zu­fäl­lig ge­ra­de bei Kas­se, und es war ihm da­her ganz recht, dass er mal Ge­le­gen­heit fand, et­was für sie aus­zu­ge­ben.

Er ant­wor­te­te: »Ge­wiss, Liebs­te, wo­hin du willst.«

Sie gin­gen also um sie­ben Uhr fort und lenk­ten ihre Schrit­te nach den äu­ße­ren Bou­le­vards. Sie schmieg­te sich dicht an ihn und sag­te ihm ins Ohr:

»Du weißt gar nicht, wie glück­lich ich bin, wenn ich so an dei­nem Arm gehe und dei­nen Kör­per ne­ben mir füh­le!«

Er frag­te: »Willst du zu La­thuil­le ge­hen?«

»O nein,« er­wi­der­te sie, »das ist viel zu vor­nehm. Ich möch­te et­was Ko­mi­sches, Or­di­näres, ein Re­stau­rant, in dem Kom­mis und Ar­bei­te­rin­nen ver­keh­ren. Ich schwär­me für sol­che Knei­pen! Wenn wir nur aufs Land hin­aus könn­ten!«

Er kann­te in der gan­zen Ge­gend kein der­ar­ti­ges Lo­kal und so irr­ten sie den Bou­le­vard ent­lang, bis sie schließ­lich in eine Wein­stu­be gin­gen, wo in ei­nem be­son­de­ren Zim­mer auch Es­sen ver­ab­reicht wur­de. Sie hat­te durch die Fens­ter­schei­ben zwei Mäd­chen ohne Hut mit zwei Sol­da­ten zu­sam­men sit­zen se­hen.

Im Hin­ter­grund des schma­len, lan­gen Rau­mes aßen drei Drosch­ken­kut­scher ihr Abend­brot, und noch ein an­de­res Men­schen­we­sen, des­sen Be­ruf nicht zu de­fi­nie­ren war, saß weit zu­rück­ge­lehnt auf dem Stuhl, mit aus­ge­streck­ten Bei­nen, die Hän­de im Ho­sen­gurt, und rauch­te eine Pfei­fe. Sei­ne Ja­cke war ein Sam­mel­punkt von Kleck­sen, und aus den Ta­schen, die wie di­cke Bäu­che ge­schwol­len wa­ren, steck­te ein Fla­schen­hals, ein Stück Brot, ein in Zei­tungs­pa­pier ein­ge­wi­ckel­tes Pa­ket und ein Stück Bind­fa­den her­vor. Sein Haar war dicht, kraus und grau vor Schmutz; sei­ne Müt­ze lag un­ter dem Stuhl auf der Erde.

Clo­til­des Ein­tre­ten er­reg­te durch ihre ele­gan­te Klei­dung Auf­se­hen. Die bei­den Pär­chen hör­ten auf zu flüs­tern, die Kut­scher strit­ten sich nicht mehr und das al­lein sit­zen­de In­di­vi­du­um nahm sei­ne Pfei­fe aus dem Mun­de, spuck­te kräf­tig aus und dreh­te sich um, um sie bes­ser se­hen zu kön­nen.

»Hier ist es rei­zend«, flüs­ter­te Ma­da­me de Ma­rel­le. »Wir sind hier gut auf­ge­ho­ben. Das nächs­te Mal zie­he ich mich wie ein Nähmäd­chen an.«

Sie setz­te sich un­ge­niert und ohne je­den Wi­der­wil­len an den Tisch, des­sen Holz­plat­te, über die der Kell­ner nur sel­ten mal mit der Ser­vi­et­te fuhr, von Spei­se­fett und ver­schüt­te­tem Wein glänz­te. Du­roy war et­was ver­le­gen und such­te ver­geb­lich nach ei­nem Ha­ken, um sei­nen Zy­lin­der­hut auf­zu­hän­gen. Schließ­lich leg­te er ihn auf einen Stuhl.

Sie aßen ein Ra­gout, dann Ham­mel­keu­le mit Salat.

»So et­was habe ich zu gern«, wie­der­hol­te Clo­til­de im­mer wie­der. »Ich habe manch­mal pö­bel­haf­ten Ge­schmack. Ich amü­sie­re mich hier bes­ser als im Café Anglais.«

Dann setz­te sie hin­zu:

»Wenn du mir noch eine Freu­de ma­chen willst, dann füh­re mich in eine Tanz­k­nei­pe; ich ken­ne eine sehr amüsan­te hier in der Nähe. Sie heißt die ›Wei­ße Kö­ni­gin’.«

Du­roy frag­te er­staunt:

»Mit wem warst du denn da?«

Er sah sie an und be­merk­te, dass sie er­rö­te­te und ver­wirrt war, als hät­te die­se plötz­li­che Fra­ge eine hei­kle Erin­ne­rung wach­ge­ru­fen. Nach ei­nem ganz kur­z­en Zö­gern, an dem kaum et­was zu mer­ken war, ant­wor­te­te sie:

»Es war ein Freund.«

Und nach ei­ner aber­ma­li­gen kur­z­en Pau­se füg­te sie hin­zu:

»… der schon ge­stor­ben ist.«

Und sie senk­te die Au­gen mit ganz na­tür­li­cher Schwer­mut.

Zum ers­ten Male dach­te Du­roy an al­les, was er von dem Vor­le­ben die­ser Frau nicht kann­te und er be­gann zu grü­beln. Si­cher­lich hat­te sie schon Lieb­ha­ber ge­habt. Aber wel­cher Art wa­ren sie? Aus wel­chen Krei­sen? Eine un­be­stimm­te Ei­fer­sucht, eine star­ke Feind­schaft ge­gen die­se Frau er­wach­te in sei­nem Her­zen, ein Hass, ge­gen al­les, was er nicht wuss­te, ge­gen al­les, was sie in ih­rem We­sen und in ih­rem Her­zen trug, was ihm aber nicht ge­hör­te. Er sah sie an, und die Ge­heim­nis­se, die die­ser schö­ne, stum­me Frau­en­kopf ver­barg, reiz­ten ihn. Vi­el­leicht dach­te sie jetzt ge­ra­de mit Be­dau­ern an den an­de­ren oder an die an­de­ren? Wie gern hät­te er in die­se Ge­dan­ken hin­ein­ge­blickt, sie durch­wühlt, um al­les zu wis­sen und al­les zu er­fah­ren!

Sie frag­te noch­mals:

»Wol­len wir nach der ›Wei­ße Kö­ni­gin‹ ge­hen? Das wäre die Kro­ne die­ses Abends.«

Er dach­te: »Ach was, was geht mich ihre Ver­gan­gen­heit an? Es ist ein­fach dumm, mich dar­über auf­zu­re­gen!«

Er ant­wor­te­te lä­chelnd:

»Aber ge­wiss, mein Lieb­ling.«

Auf der Stra­ße sag­te sie ganz lei­se in je­nem ge­heim­nis­vol­len Ton, in dem man Ge­heim­nis­se zu sa­gen pflegt:

»Bis­her wag­te ich nicht, dich dar­um zu bit­ten. Aber du ahnst nicht, wie gern ich sol­che Jung­ge­sel­len­aus­flü­ge nach sol­chen Lo­ka­len mit­ma­che, wo Da­men ei­gent­lich nicht hin­ge­hen dür­fen. Wäh­rend des Kar­ne­vals wer­de ich mich als Stu­dent ver­klei­den. Die­ses Ko­stüm steht mir fa­bel­haft.«

Als sie das Bal­lo­kal be­tra­ten, schmieg­te sie sich er­schro­cken und doch ver­gnügt an ihn. Sie be­trach­te­te ent­zückt die Ko­kot­ten und die Zu­häl­ter, und als woll­te sie sich über eine et­wai­ge Ge­fahr be­ru­hi­gen, sah sie sich hin und wie­der nach dem erns­ten, un­be­weg­li­chen Po­li­zis­ten um und sag­te: »Der Mann sieht zu­ver­läs­sig aus.« Nach ei­ner Vier­tel­stun­de hat­te sie ge­nug und er führ­te sie nach Hau­se.

Nun be­gann eine Rei­he von Aus­flü­gen in alle mög­li­chen ver­däch­ti­gen Lo­ka­le, wo sich das ein­fa­che Volk amü­siert, und Du­roy über­zeug­te sich mehr und mehr, wie be­geis­tert sei­ne Ge­lieb­te für sol­che Bum­mel­fahr­ten nach Stu­den­te­nart war.

Das fol­gen­de Mal kam sie zu dem ge­wöhn­li­chen Stell­dich­ein in ei­nem Lei­nen­kleid mit ei­ner Hau­be auf dem Kopf, wie sie die Dienst­mäd­chen tra­gen. Trotz der ge­such­ten Sch­licht­heit ih­rer Toi­let­te hat­te sie aber ihre Rin­ge, Arm­bän­der und Bril­lan­tohr­rin­ge an­be­hal­ten. Als er sie bat, die­se ab­zu­tun, er­wi­der­te sie: »Ach was, man wird sie für Rhein­kie­sel hal­ten!« Sie fand ihre Ver­klei­dung groß­ar­tig, und ob­wohl sie sich tat­säch­lich nicht bes­ser ver­steck­te als der Strauß, der sei­nen Kopf in den Sand steckt, be­such­te sie ru­hig die Knei­pen von übels­tem Ruf,

Sie woll­te, dass Du­roy sich auch als Ar­bei­ter an­zö­ge.

Er ging aber dar­auf nicht ein, be­hielt sei­nen ele­gan­ten Stra­ßen­an­zug an und woll­te nicht ein­mal sei­nen Zy­lin­der ge­gen einen wei­chen Filz­hut ein­tau­schen.

Sie hat­te sich über sei­nen Ei­gen­sinn mit der Be­grün­dung hin­weg­ge­trös­tet: »Man wird mich für ein Kam­mer­mäd­chen hal­ten, das ein Ver­hält­nis mit ei­nem jun­gen Le­be­mann hat«, und die­se Ko­mö­die fand sie herr­lich.

Sie ka­men in die ge­wöhn­lichs­ten Knei­pen, sa­ßen in den ver­räu­cher­ten Spe­lun­ken auf wack­li­gen Stüh­len und vor schmut­zi­gen, al­ten Ti­schen. Schar­fer Ta­baks­qualm und wid­ri­ger Kü­chen­ge­ruch von ge­ba­cke­nem Fisch er­füll­te die Luft. Män­ner in Ar­bei­ter­blu­sen brüll­ten und tran­ken Schnäp­se, und der Kell­ner be­trach­te­te er­staunt das selt­sa­me Paar, dem er zwei Kir­schen­schnäp­se hin­stell­te.

Sie zit­ter­te vor Angst und Ent­zücken, schlürf­te den ro­ten Saft mit klei­nen Schlu­cken und sah da­bei mit weit ge­öff­ne­ten, fun­keln­den Au­gen um sich. Bei je­dem Schnaps, den sie hin­un­ter­schluck­te, hat­te sie das Ge­fühl, als be­ge­he sie ein Ver­bre­chen, und je­der Trop­fen der bren­nen­den, ge­pfef­fer­ten Flüs­sig­keit, der über ihre Zun­ge rann, ge­währ­te ihr ein schar­fes und auf­re­gen­des Ver­gnü­gen, den sünd­haf­ten Ge­nuss ei­ner ver­bo­te­nen Frucht. Dann sag­te sie halb­laut: »Komm, wir wol­len ge­hen.« Und sie bra­chen auf. Mit nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen und zier­li­chen Schrit­ten ging sie rasch wie eine Schau­spie­le­rin mit­ten durch die Trin­ker, die mit auf­ge­stemm­ten Ar­men da­sa­ßen und ihr miss­trau­isch und un­zu­frie­den nachsa­hen. Wenn sie die Schwel­le über­schrit­ten hat­te, at­me­te sie ge­wöhn­lich tief auf, als wäre sie glück­lich ir­gend­ei­ner furcht­ba­ren Ge­fahr ent­ron­nen.

Bis­wei­len rich­te­te sie an Du­roy zit­ternd die Fra­ge: »Was tä­test du, wenn man mich in so ei­nem Lo­kal be­läs­tig­te?«

»Na­tür­lich wür­de ich dich be­schüt­zen!« er­wi­der­te er ener­gisch.

Sie press­te glück­lich sei­nen Arm an sich, viel­leicht in dem un­kla­ren Wunsch, be­lei­digt und dann be­schützt zu wer­den, Män­ner sich ih­ret­we­gen schla­gen zu se­hen, und sei es, dass ihr Ge­lieb­ter sich mit sol­chen Män­nern wie die da, prü­geln wür­de.

Aber die­se Aus­flü­ge, die sich zwei-drei­mal die Wo­che wie­der­hol­ten, be­gan­nen Du­roy schließ­lich et­was läs­tig zu wer­den, zu­mal er seit ei­ni­ger Zeit die größ­te Mühe hat­te, die zehn Fran­cs, die er für Drosch­ke und Ge­trän­ke brauch­te, auf­zu­trei­ben.

Er leb­te jetzt in größ­ter Ar­mut, er hat­te jetzt noch we­ni­ger Geld als da­mals, wo er bei der Nord­bahn an­ge­stellt war, denn in den ers­ten Mo­na­ten sei­ner Jour­na­lis­ten­zeit hat­te er, ohne zu rech­nen, aus dem Vol­len ge­lebt, als er noch glaub­te, bald große Sum­men ver­die­nen zu kön­nen, und nun wa­ren, eine nach der an­de­ren, alle Hilfs­quel­len er­schöpft und alle Mit­tel, sich von Neu­em Geld zu ver­schaf­fen, ver­sag­ten.

Das sehr ein­fa­che Ver­fah­ren, sich Geld an der Kas­se zu lei­hen, hat­te er zu oft an­ge­wandt; er hat­te sein Ge­halt schon für vier Mo­na­te im Voraus be­zo­gen und noch einen Vor­schuss von sechs­hun­dert Fran­cs auf sein Zei­len­ho­no­rar. Au­ßer­dem schul­de­te er Fo­res­tier hun­dert Fran­cs und Jaques Ri­val, der sehr frei­ge­big war, drei­hun­dert; be­son­ders quäl­ten ihn noch eine Men­ge klei­ner Schul­den, die er nicht ein­ge­ste­hen konn­te, in Höhe von fünf bis zwan­zig Fran­cs.

Er frag­te Saint-Po­tin um Rat, wie er sich noch­mals hun­dert Fran­cs ver­schaf­fen könn­te, aber er wuss­te auch kei­nen Aus­weg mehr, ob­wohl er ein er­fin­de­ri­scher Kopf war; und Du­roy war er­bit­tert über sei­ne Lage, die jetzt viel emp­find­li­cher war, weil er mehr Be­dürf­nis­se hat­te als frü­her. In ihm koch­te ein dump­fer Groll ge­gen die gan­ze Welt, und eine be­stän­di­ge Ge­reizt­heit brach bei je­der Ge­le­gen­heit und bei den ge­rings­ten An­läs­sen her­vor.

Manch­mal frag­te er sich, wie er es fer­tig ge­bracht hat­te, im Durch­schnitt tau­send Fran­cs mo­nat­lich zu ver­brau­chen, ohne sich ir­gend­wel­che Ex­zes­se oder kost­spie­li­ge Lau­nen zu leis­ten. Wenn er aber nach­rech­ne­te, wur­de es ihm klar, dass ein Früh­stück von acht Fran­cs und ein Di­ner von zwölf Fran­cs zu­sam­men einen Louis­dor aus­mach­ten. Dazu ka­men noch etwa zehn Fran­cs Ta­schen­geld, das man aus­gibt, man weiß nicht wo und wo­für, so hat­te er eine Ge­samt­sum­me von drei­ßig Fran­cs. Drei­ßig Fran­cs pro Tag wa­ren im Mo­nat neun­hun­dert Fran­cs, wo­bei noch alle die Aus­ga­ben für Klei­dung, Schuh­werk, Wä­sche usw. gar nicht ein­mal mit­ge­rech­net wa­ren.

Ei­nes Ta­ges, am 14. De­zem­ber, hat­te er kei­nen Sou mehr in der Ta­sche und sah auch kei­ne Mög­lich­keit, sich Geld zu ver­schaf­fen. Er tat, was er schon öf­ter ge­tan hat­te, er spar­te sich das Früh­stück und ar­bei­te­te den Nach­mit­tag in der Re­dak­ti­on. Er war wü­tend und hat­te für nichts mehr Sinn.

Um vier Uhr be­kam er einen blau­en Brief von sei­ner Ge­lieb­ten, die frag­te: »Wol­len wir zu­sam­men spei­sen und nach­her eine klei­ne Bum­mel­fahrt ma­chen?«

Er ant­wor­te­te so­fort: »Di­ner un­mög­lich.« Dann aber über­leg­te er, dass es tö­richt sei, sich der an­ge­neh­men Stun­de zu be­rau­ben, die sei­ne Ge­lieb­te ihm bie­ten könn­te, und füg­te hin­zu: »Aber ich er­war­te dich um neun Uhr in un­se­rer Woh­nung,«

Um die Kos­ten des Te­le­gramms zu spa­ren, Ließ er den Brief durch einen Re­dak­ti­ons­bo­ten be­sor­gen und grü­bel­te dann dar­über nach, auf wel­che Wei­se er sich das Geld für eine Mahl­zeit ver­schaf­fen könn­te.

Um sie­ben Uhr war ihm noch nichts ein­ge­fal­len und da­bei ver­spür­te er einen furcht­ba­ren Hun­ger. Da griff er zu ei­nem ver­zwei­fel­ten Mit­tel. Er ließ alle sei­ne Kol­le­gen einen nach dem an­de­ren fort­ge­hen und dann klin­gel­te er ener­gisch. Der Die­ner des Chefs, der zur Be­wa­chung der Räu­me zu­rück­ge­blie­ben war, kam her­ein.

Du­roy stand und wühl­te ner­vös in sei­nen Ta­schen und sag­te mit hef­ti­ger Stim­me:

»Hö­ren Sie, Fou­cart, ich habe mein Por­te­mon­naie zu Hau­se lie­gen las­sen und ich muss zum Di­ner ins Lu­xem­bourg. Lei­hen Sie mir, bit­te, fünf­zig Sous, da­mit ich mei­ne Drosch­ke be­zah­len kann.«

Der Mann hol­te drei Fran­cs aus der Wes­ten­ta­sche und frag­te:

»Herr Du­roy wol­len nicht mehr?«

»Nein, nein, das ge­nügt. Bes­ten Dank.«

Du­roy er­griff das Sil­ber­stück und eil­te die Trep­pe hin­ab.

Er aß in ei­ner Gar­kü­che, wo er in den schlimms­ten Ta­gen sei­ner Ar­mut oft ein­kehr­te.

Um neun Uhr saß er im Sa­lon am Ka­min und er­war­te­te sei­ne Ge­lieb­te.

Sie er­schi­en sehr gu­ter Lau­ne, sehr lus­tig, an­ge­regt von der kal­ten Luft auf der Stra­ße.

»Wenn es dir recht ist,« sag­te sie, »ma­chen wir einen Spa­zier­gang und sind dann um elf Uhr wie­der zu­rück. Das Wet­ter ist herr­lich!«

Er ant­wor­te­te in ei­nem mür­ri­schen Ton:

»Wa­rum sol­len wir aus­ge­hen? Hier ist es auch sehr an­ge­nehm.«

Sie er­wi­der­te, ohne ih­ren. Hut ab­zu­neh­men: »Wenn du wüss­test, welch wun­der­vol­ler Mond­schein drau­ßen ist! Es ist eine wah­re Won­ne, heu­te spa­zie­ren zu ge­hen.«

»Schon mög­lich, aber mir liegt nichts dar­an.«

Er sag­te das in wü­ten­dem Ton. Sie fühl­te sich ver­letzt und frag­te:

»Was ist mit dir? Was sind das für Ma­nie­ren? Ich wün­sche aus­zu­ge­hen und sehe nicht ein, wie­so das dich är­gern kann?«

Ganz auf­ge­bracht, stand er auf:

»Ich är­ge­re mich gar nicht, es ist mir bloß lang­wei­lig. Das ist al­les!«

Sie ge­hör­te zu den Leu­ten, die je­der Wi­der­stand reizt und jede Un­höf­lich­keit aus der Fas­sung bringt. So er­wi­der­te sie mit kal­ter, zor­ni­ger Ver­ach­tung:

»Ich bin es nicht ge­wohnt, dass man mit mir so spricht. Es ist da­her am bes­ten, ich gehe al­lein. Adieu.«

Er be­griff, dass die Sa­che ernst wur­de und stürz­te hin­ter ihr her, er­griff ihre Hän­de und küss­te sie. Er stam­mel­te:

»Ver­zeih mir, Liebs­te, ver­zeih mir. Ich bin heu­te Abend ganz ner­vös und über­reizt. Ich hat­te Är­ger und Unan­nehm­lich­kei­ten im Be­ruf, weißt du?«

Sie er­wi­der­te et­was mil­der, aber im­mer noch nicht be­ru­higt: »Das geht mich nichts an. Ich will nicht die­je­ni­ge sein, die un­ter dei­nen Lau­nen zu lei­den hat.«

Er schloss sie in die Arme und zog sie zum Sofa.

»So höre doch, Lieb­ling, ich woll­te dich doch nicht krän­ken; ich über­leg­te nicht, was ich sag­te!«

Er hat­te sie ge­zwun­gen, sich hin­zu­set­zen und knie­te vor ihr nie­der:

»Ver­zeih mir, bit­te, sage, dass du mir ver­zeihst!«

Sie mur­mel­te mit ziem­lich küh­ler Stim­me:

»Mei­net­we­gen. Aber komm mir nicht wie­der mit so et­was.«

Dann stand sie auf und sag­te:

»So, nun wol­len wir aus­ge­hen.«

Er knie­te noch im­mer vor ihr und hielt ihre Hüf­ten mit sei­nen Ar­men um­schlun­gen. Er stot­ter­te: »Ich bit­te dich, blei­ben wir hier … bit­te. Ich fle­he dich an, tu es mir zu­lie­be … Ich möch­te dich heu­te Abend so gern für mich ganz al­lein ha­ben, hier am Ka­min. Sag’ ja, ich bit­te dich, sag’ ja!«

Sie ant­wor­te­te klar und schroff:

»Nein, ich will aus­ge­hen, ich wer­de mich dei­ner Lau­ne nicht fü­gen.«

Er be­stand dar­auf:

»Ich fle­he dich an, ich habe einen Grund, einen sehr erns­ten Grund.«

Sie er­klär­te von Neu­em: »Nein, wenn du nicht mit­kommst, gehe ich al­lein fort. Adieu.«

Mit ei­nem Ruck hat­te sie sich los­ge­macht und ging zur Tür. Er eil­te ihr nach und um­klam­mer­te sie mit den Ar­men.

»Höre, Clo, mei­ne Clo, höre doch, höre mich an und gib ein­mal nach.«

Sie schüt­tel­te ver­nei­nend den Kopf, ohne zu ant­wor­ten; sie wich sei­nen Küs­sen aus und ver­such­te sich zu be­frei­en.

Er stot­ter­te: »Clo, mei­ne lie­be, klei­ne Clo, ich habe einen Grund.«

Sie blieb ste­hen und blick­te ihm ins Ge­sicht:

»Du schwin­delst … Wel­chen Grund?«

Er wur­de rot und wuss­te nicht, was er sa­gen soll­te. Ent­rüs­tet fuhr sie fort: »Da siehst du, es ist Schwin­del … Du wi­der­wär­ti­ger Kerl.«

Mit ei­ner wü­ten­den Ge­bär­de und Trä­nen in den Au­gen riss sie sich von ihm weg.

Er fass­te sie noch ein­mal an den Schul­tern. Er war fas­sungs­los und be­reit, al­les zu ge­ste­hen, nur um einen Bruch zu ver­mei­den. Mit ver­zwei­fel­ter Stim­me er­klär­te er: »Der Grund ist … ich be­sit­ze kei­nen ein­zi­gen Sou.«

Sie blieb plötz­lich ste­hen und sah ihm fest in die Au­gen, als woll­te sie die Wahr­heit her­aus­le­sen: »Du sag­test?«

Er war bis in die Haar­wur­zeln rot ge­wor­den.

»Ich sage, ich habe kei­nen Sou. Ver­stehst du mich? Kei­ne zwan­zig Sous, kei­ne zehn, nicht ein­mal so viel, um für dich im Café einen Li­kör zu be­zah­len. Du zwingst mich zu die­sem be­schä­men­den Ge­ständ­nis. Ich konn­te doch nicht mit dir aus­ge­hen, und wenn un­se­re Ge­trän­ke vor uns stän­den, dir ein­fach er­klä­ren: ich kön­ne sie nicht be­zah­len.«

Sie sah ihm im­mer noch ins Ge­sicht:

»Also wirk­lich … das ist al­les wahr?«

Im Nu dreh­te er alle sei­ne Ta­schen um, Ho­sen­ta­schen, Rock- und Wes­ten­ta­sche und rief: »Nun … bist du jetzt zu­frie­den?«

Plötz­lich öff­ne­te sie lei­den­schaft­lich ihre bei­den Arme, sprang ihm um den Hals und stam­mel­te:

»Oh, du mein ar­mer Lieb­ling… ar­mer Lieb­ling. Wenn ich das nur ge­wusst hät­te! Aber wie ist denn das ge­kom­men?«

Sie zog ihn zum Sofa und setz­te sich auf sei­ne Knie; sie leg­te ihre Arme um sei­nen Hals und küss­te ihn im­mer­fort; sie küss­te ihn auf sei­nen Schnurr­bart, auf sei­nen Mund, auf sei­ne Au­gen, und zwang ihn, zu er­zäh­len, wie er in die üble Lage ge­ra­ten war. Er er­fand eine rüh­ren­de Ge­schich­te. Er habe sei­nem Va­ter, der in Not ge­ra­ten war, hel­fen müs­sen, und nicht nur alle sei­ne Er­spar­nis­se hin­ge­ge­ben, son­dern auch drücken­de Schul­den auf sich ge­la­den.

»Ich wer­de min­des­tens sechs Mo­na­te hun­gern müs­sen,« füg­te er hin­zu, »denn alle mei­ne Hilfs­quel­len sind er­schöpft. Es hilft eben nichts; es gibt halt schwe­re Stun­den im Le­ben. Im Üb­ri­gen lohnt es sich nicht, sich we­gen lum­pi­gen Gel­des Sor­gen zu ma­chen.«

Sie flüs­ter­te ihm ins Ohr:

»Ich will dir wel­ches lei­hen, willst du?«

Er ant­wor­te­te wür­de­voll:

»Das ist sehr lieb von dir, mein Herz, aber ich bit­te dich, spre­chen wir nicht mehr da­von, das ver­letzt mich.«

Sie schwieg, dann drück­te sie ihn fest an sich und flüs­ter­te:

»Du kannst dir gar nicht vor­stel­len, wie ich dich lie­be!«

So einen zar­ten und lie­be­vol­len Abend hat­ten sie noch nie ver­bracht.

Als sie fort­ge­hen woll­te, sag­te sie lä­chelnd:

»Wenn man in dei­ner Lage ist, muss es ganz hübsch sein, plötz­lich in der Ta­sche ein Geld­stück zu fin­den, das ins Fut­ter ge­rutscht ist.«

Er er­wi­der­te mit Über­zeu­gung: »Ach ja, das wäre sehr an­ge­nehm.«

Sie woll­te zu Fuß nach Hau­se ge­hen un­ter dem Vor­wand, der Mond­schein wäre so herr­lich und sie be­geis­ter­te sich bei die­sem An­blick.

Es war eine kal­te, schö­ne Win­ter­nacht. Men­schen und Pfer­de schrit­ten rasch und mun­ter in der hel­len, fros­ti­gen Luft. Die Ha­cken schall­ten auf den Bür­ger­stei­gen.

Beim Ab­schied frag­te sie ihn:

»Se­hen wir uns über­mor­gen wie­der?«

»Ge­wiss.«

»Um die­sel­be Zeit?«

»Gut, um die­sel­be Zeit.«

»Auf Wie­der­se­hen, mein Lieb­ling.«

Und sie küss­ten sich zärt­lich.

Er kehr­te ei­ligst nach Hau­se und zer­brach sich un­ter­wegs den Kopf, was er nun be­gin­nen soll­te, um sich aus der Klem­me zu zie­hen. Doch als er sei­ne Zim­mer­tür öff­ne­te und in sei­ner Wes­ten­ta­sche nach ei­nem Streich­holz such­te, fühl­te er zu sei­nem Stau­nen dar­in ein Gold­stück. Er zün­de­te das Licht an und be­sah sich nä­her die Mün­ze. Es war ein Zwan­zig­fran­cs­stück. Zu­erst dach­te er, er sei ver­rückt ge­wor­den. Er dreh­te es hin und her und über­leg­te, durch wel­ches Wun­der die­ses Geld in sei­ne Ta­sche ge­langt war. Es konn­te doch nicht vom Him­mel her­ab­ge­fal­len sein!

Plötz­lich fiel es ihm ein und eine hef­ti­ge Ent­rüs­tung er­griff ihn. Sei­ne Ge­lieb­te hat­te ja in der Tat von Geld ge­spro­chen, das ins Fut­ter ge­rutscht sei und das man in Stun­den der Not wie­der­fän­de. Von ihr also stamm­te das Al­mo­sen. Wel­che Schan­de!

»Na, über­mor­gen soll sie se­hen!« schwor er sich. »Sie wird eine hüb­sche Vier­tel­stun­de er­le­ben.«

Er leg­te sich zu Bett, das Herz voll Scham und Zorn.

Er wach­te spät auf. Er hat­te Hun­ger und ver­such­te, noch ein­mal ein­zu­schla­fen, um erst ge­gen zwei Uhr auf­zu­ste­hen. Dann sag­te er sich: »Da­mit kom­me ich nicht wei­ter, ich muss doch schließ­lich se­hen, wie ich Geld krie­ge.« Dann ging er aus, in der Hoff­nung-, dass auf der Stra­ße ihm ir­gend­ein gu­ter Ein­falt kom­men wür­de.

Es kam aber kei­ner. Doch je­des Mal, wenn er an ei­nem Re­stau­rant vor­bei muss­te, über­fiel ihn ein sol­cher Hun­ger, dass ihm der Spei­chel im Mun­de zu­sam­men­lief. Als ihm mit­tags im­mer noch nichts ein­ge­fal­len war, ent­schloss er sich kurz: »Ach was, ich wer­de mit den zwan­zig Fran­cs von Clo­til­de früh­stücken. Ich schaf­fe es ir­gend­wie, dass ich es ihr mor­gen wie­der­ge­ben kann.«

Er aß also in der Braue­rei für zwei Fran­cs fünf­zig. Beim Be­tre­ten der Re­dak­ti­on gab er dem Bo­ten die drei Fran­cs wie­der zu­rück:

»Hier, Fou­cart, ha­ben Sie das Geld wie­der, das Sie mir ges­tern für mei­ne Drosch­ke ge­lie­hen ha­ben.«

Er ar­bei­te­te bis sie­ben Uhr und ging dann Mit­tag es­sen, und nahm aber­mals drei Fran­cs von dem­sel­ben Gel­de. Mit den bei­den Glas Bier, die er abends trank, be­trug sei­ne Ta­ges­aus­ga­be neun Fran­cs drei­ßig Cen­ti­mes.

Da er bin­nen vier­und­zwan­zig Stun­den sich we­der Geld noch Kre­dit ver­schaf­fen konn­te, so nahm er am fol­gen­den Tage noch­mals von dem Gel­de, das er am sel­ben Abend zu­rück­er­stat­ten woll­te, sechs Fran­cs fünf­zig Cen­ti­mes; und so er­schi­en er zum Ren­dez­vous mit vier Fran­cs zwan­zig in der Ta­sche.

Sei­ne Lau­ne war die ei­nes tol­len Hun­des, und er nahm sich vor, die Lage so­fort klar zu stel­len; er wür­de sei­ner Ge­lieb­ten sa­gen: »Du weißt, ich habe die zwan­zig Fran­cs ge­fun­den, die du mir vor­ges­tern in die Ta­sche ge­steckt hast. Ich kann sie dir heu­te noch nicht zu­rück­ge­ben, weil mei­ne Lage sich in­zwi­schen noch nicht ge­än­dert hat, und au­ßer­dem hat­te ich kei­ne Zeit, mich um lei­di­ge Geldan­ge­le­gen­hei­ten zu küm­mern. Aber das ers­te Mal, wo wir uns wie­der­se­hen, gebe ich es dir zu­rück.«

Sie kam zärt­lich, zu­vor­kom­mend und schüch­tern. Wie wür­de er sie emp­fan­gen? Und um ei­ner pein­li­chen Er­ör­te­rung we­nigs­tens wäh­rend der ers­ten Au­gen­bli­cke aus dem Wege zu ge­hen, küss­te sie ihn so lan­ge als mög­lich. Er sag­te sich sei­ner­seits: »Ich wer­de nach­her noch Zeit ha­ben, um die Sa­che zu be­spre­chen; ich wer­de eine Ge­le­gen­heit fin­den.«

Er fand aber kei­ne Ge­le­gen­heit und sag­te nichts, weil es ihm pein­lich war, das hei­kle The­ma an­zu­fan­gen. Von Aus­ge­hen war über­haupt kei­ne Rede, und sie war in je­der Hin­sicht rei­zend.

Sie trenn­ten sich ge­gen Mit­ter­nacht, nach­dem sie das nächs­te Ren­dez­vous erst auf Mitt­woch der nächs­ten Wo­che fest­ge­setzt hat­ten, weil Ma­da­me de Ma­rel­le meh­re­re Aben­de hin­ter­ein­an­der zu Di­ners ein­ge­la­den war.

Als Du­roy am nächs­ten Mor­gen sein Früh­stück be­zahl­te und vier Geld­stücke zu­sam­men­such­te, die er noch bei sich ha­ben muss­te, fand er de­ren fünf, und ei­nes da­von war ein Gold­stück.

Im ers­ten Au­gen­blick glaub­te er, man habe ihm ges­tern beim Wech­seln ein Zwan­zig­fran­cs­stück aus Ver­se­hen zu viel ge­ge­ben. Dann aber be­griff er und sein Herz be­gann zu po­chen, so sehr de­mü­tig­ten ihn die­se an­dau­ern­den Al­mo­sen. Wie leid tat es ihm jetzt, dass er nichts ge­sagt hat­te! Wenn er ener­gisch, ge­spro­chen hät­te, so wäre das nicht ge­sche­hen.

Vier Tage lang mach­te er alle mög­li­chen ver­geb­li­chen Ver­su­che, sich hun­dert Fran­cs zu ver­schaf­fen, und in­zwi­schen ver­zehr­te er das zwei­te Gold­stück von Clo­til­de. Als er wie­der mit ihr zu­sam­men­traf, sag­te er ihr zwar sehr är­ger­lich: »Weißt du, fan­ge nicht wie­der mit dei­nen Scher­zen von neu­lich Abend an, sonst wür­de ich wirk­lich böse.« Trotz­dem ge­lang es ihr aber­mals, ein Zwan­zig­fran­cs­stück in sei­ne Ho­sen­ta­sche glei­ten zu las­sen.

Als er es ent­deck­te, fluch­te er »Don­ner­wet­ter« — aber er steck­te das Geld­stück so­fort in die Wes­ten­ta­sche — um es gleich bei der Hand zu ha­ben, denn er be­saß kei­nen Sou mehr.

Sein Ge­wis­sen be­schwich­tig­te er, in­dem er sich sag­te: »Ich wer­de ihr al­les auf ein­mal zu­rück­ge­ben; es ist doch schließ­lich nur ge­lie­he­nes Geld wie je­des an­de­re.«

End­lich er­klär­te sich der Kas­sie­rer der Re­dak­ti­on auf sei­ne drin­gen­den Bit­ten be­reit, ihm täg­lich fünf Fran­cs aus­zu­zah­len; das war ge­ra­de ge­nug, um sich ei­ni­ger­ma­ßen satt zu es­sen, aber die Schuld von sech­zig Fran­cs zu be­glei­chen, war nach wie vor un­mög­lich. Da je­doch Clo­til­de wie­der von ih­rer lei­den­schaft­li­chen Vor­lie­be für nächt­li­che Aus­fahr­ten in alle ver­däch­ti­gen Lo­ka­le von Pa­ris er­grif­fen wur­de, so kam er schließ­lich dazu, sich nicht mehr be­son­ders auf­zu­re­gen, wenn er nach ei­ner sol­chen aben­teu­er­li­chen Irr­fahrt re­gel­mä­ßig ein Gold­stück in sei­ner Ta­sche, ein­mal so­gar in sei­nem Stie­fel, ein an­de­res Mal im Uhr­stän­der fand. Hat­te sie nun ein­mal Ge­lüs­te, die er im Au­gen­blick nicht be­frie­di­gen konn­te, so war es doch ganz na­tür­lich, dass sie die­sel­ben be­zahl­te, an­statt sie sich ganz zu ver­sa­gen.

Üb­ri­gens zähl­te er al­les zu­sam­men, was er auf die­se Wei­se von ihr be­kom­men hat­te, um es ei­nes Ta­ges zu­rück­zu­ge­ben.

Ei­nes Abends sag­te sie zu ihm:

»Den­ke dir, ich war noch nie in den Fo­lies-Ber­gè­re. Willst du mich dort­hin füh­ren?«

Er zau­der­te, denn er fürch­te­te, Ra­hel zu tref­fen. Dann aber dach­te er: »Ach was, ich bin doch schließ­lich nicht ver­hei­ra­tet. Wenn sie mich sieht, wird sie die Si­tua­ti­on be­grei­fen und mich nicht an­re­den. Au­ßer­dem wer­den wir eine Loge neh­men.«

Ent­schei­dend aber war der zwei­te Grund: Es pass­te ihm näm­lich sehr gut, dass er bei die­ser Ge­le­gen­heit Ma­da­me de Ma­rel­le eine Thea­ter­lo­ge an­bie­ten konn­te, ohne was da­für zu be­zah­len. Es war dies eine Art Ge­gen­leis­tung. Er ließ Clo­til­de zu­nächst im Wa­gen, um die Ein­tritts­kar­ten zu be­sor­gen; sie soll­te nicht se­hen, dass er sie gra­tis be­kam. Dann gin­gen sie hin­ein und die Kon­trol­leu­re be­grüß­ten sie höf­lich.

Eine dich­te Men­schen­men­ge füll­te die Wan­del­gän­ge. Nur mit großer Mühe konn­ten sie sich den Weg durch den Schwärm von Män­nern und Ko­kot­ten bah­nen. End­lich er­reich­ten sie ihre Loge und nah­men Platz, ein­ge­schlos­sen zwi­schen den un­be­weg­lich sit­zen­den Zuschau­ern des Par­terre und der wo­gen­den Men­ge des Wan­del­gan­ges.

Aber Ma­da­me de Ma­rel­le sah gar nicht auf die Büh­ne; sie be­ob­ach­te­te le­dig­lich die Dir­nen, die hin­ter ih­rem Rücken auf und ab gin­gen. Fort­wäh­rend dreh­te sie sich nach ih­nen her­um, ja, sie hat­te Lust, sie an­zu­rüh­ren, ih­ren Kör­per, ihr Ge­sicht, ihre Haa­re zu be­tas­ten, um sich zu über­zeu­gen, wor­aus die­se We­sen ei­gent­lich ge­macht sind. Plötz­lich sag­te sie:

»Eine di­cke Brü­net­te guckt uns im­mer­fort an. Eben glaub­te ich schon, sie woll­te uns an­re­den. Ist sie dir nicht auch auf­ge­fal­len?«

Er ant­wor­te­te : »Nein, du musst dich ir­ren.«

Trotz­dem hat­te er sie längst er­kannt. Es war Ra­hel, die mit zor­ni­gen Bli­cken und wü­ten­den Wor­ten auf den Lip­pen um sie her­um­schweif­te.

Du­roy war kurz zu­vor in der Men­ge ganz dicht an ihr vor­bei­ge­gan­gen und sie hat­te ihm ganz lei­se »Gu­ten Abend« zu­ge­flüs­tert, mit ei­nem Blick, der deut­lich sag­te: »Aha, ich ver­ste­he.« Doch er hat­te auf die­se Freund­lich­keit nicht geant­wor­tet, aus Furcht, von sei­ner Ge­lieb­ten ge­se­hen zu wer­den, und war kalt und hoch­mü­tig vor­über­ge­gan­gen. Das Mäd­chen, das von ei­ner un­be­wuss­ten Ei­fer­sucht ge­quält wur­de, kehr­te um, drück­te sich mehr­mals an ihm vor­über und sag­te et­was lau­ter:

»Gu­ten Abend, Ge­or­ges.«

Auch dies­mal hat­te er nicht geant­wor­tet. Aber da sie sich in den Kopf ge­setzt hat­te, er­kannt und ge­grüßt zu wer­den, so kehr­te sie im­mer wie­der zur Loge zu­rück und war­te­te auf einen güns­ti­gen Au­gen­blick. So­bald sie sah, dass Ma­da­me de Ma­rel­le zu ihr hin­über­blick­te, tipp­te sie Du­roy auf die Schul­ter und sag­te:

»Gu­ten Abend, wie geht es dir?«

Du­roy rea­gier­te nicht.

Sie fuhr fort: »Nun, bist du seit Don­ners­tag taub ge­wor­den?«

Er ant­wor­te­te im­mer noch nicht und setz­te eine ver­ächt­li­che Mie­ne auf; er woll­te sich mit die­sem Frau­en­zim­mer nicht bloß­stel­len, auch nicht durch ein Wort.

Laut und wü­tend be­gann sie zu la­chen:

»Du bist also stumm! Ma­da­me hat dir wohl die Zun­ge ab­ge­bis­sen!«

Er mach­te eine wü­ten­de Ge­bär­de und rief mit ent­rüs­te­ter Stim­me:

»Wie kön­nen Sie sich un­ter­ste­hen, mich hier zu be­läs­ti­gen? Sche­ren Sie sich fort oder ich las­se Sie fest­neh­men!«

Nun leg­te sie aber los, ihre Au­gen sprüh­ten Zorn, ihre Brust hob sich stür­misch; sie schrie:

»Ha! So steht die Sa­che, du fre­cher Lüm­mel. Wenn man mit ei­ner Frau schläft, dann grüßt man sie we­nigs­tens. Das ist kein Grund, wenn du mit ei­ner an­de­ren zu­sam­men bist, dass du mich nicht ken­nen willst. Nur einen Wink brauch­test du mir zu ge­ben, und ich hät­te dich in Ruhe ge­las­sen. Du woll­test den großen Herrn spie­len! Na, war­te mal! Ich wer­de dir hel­fen! Nicht nur, dass du mich nicht grü­ßen woll­test, son­dern …«

Sie hät­te noch lan­ge wei­ter­ge­schri­en, doch Ma­da­me de Ma­rel­le riss die Lo­gen­tür auf und stürz­te mit­ten durch die Men­ge wie toll dem Aus­gan­ge zu.

Du­roy eil­te ihr nach und be­müh­te sich, sie ein­zu­ho­len.

Da­rauf brüll­te Ra­hel, als sie die bei­den flie­hen sah, tri­um­phie­rend: »Hal­tet sie! Hal­tet sie fest! Sie hat mir den Liebs­ten ge­stoh­len.«

Ge­läch­ter er­scholl im Pub­li­kum. Zwei Her­ren pack­ten die Flüch­ti­ge zum Spaß an den Schul­tern und woll­ten sie küs­sen und zu­rück­füh­ren. Doch Du­roy hol­te sie ein, stieß die bei­den Män­ner hef­tig zu­rück und zog sie auf die Stra­ße.

Sie stürz­te in eine lee­re Drosch­ke, die ge­ra­de vor dem Thea­ter stand. Er sprang ihr nach, und als der Kut­scher frag­te: »Wo­hin, Bür­ger?« rief er: »Wo­hin Sie wol­len!« Der Wa­gen setz­te sich lang­sam in. Be­we­gung und rum­pel­te auf dem Pflas­ter. Clo­til­de be­kam einen Ner­ven­an­fall, sie ver­barg ihr Ge­sicht in den Hän­den und er­stick­te fast vor Schluch­zen, wäh­rend Du­roy ver­zwei­felt da­saß und nicht wuss­te, was er tun, noch was er sa­gen soll­te.

End­lich, als er sie wei­nen hör­te, stam­mel­te er:

»Höre mich an, Clo, mei­ne lie­be Clo, lass mich es dir er­klä­ren! … Es war nicht mei­ne Schuld … Ich habe die­ses Weib frü­her ge­kannt … in der ers­ten Zeit …«

Sie nahm plötz­lich die Hän­de vom Ge­sicht, und mit der Wut ei­ner ver­lieb­ten, und be­tro­ge­nen Frau, ei­ner stür­mi­schen Wut, die ihr die Spra­che wie­der­gab, stieß sie in schnel­len, ab­ge­hack­ten, keu­chen­den Wor­ten her­vor:

»Du Elen­der! … Elen­der! … Du er­bärm­li­cher Lump! Ist es denn mög­lich? … O wel­che Schan­de! … Mein Gott! … Wel­che Schan­de!«

Und je deut­li­cher ihre Ge­dan­ken wur­den, je kla­rer ihr die Lage wur­de, umso hef­ti­ger wur­de ihr Zorn.

»Du hast sie mit mei­nem Gel­de be­zahlt, nicht wahr? … Und ich gab dir Geld … für die­se Hure … Oh, du Elen­der!«

Ein paar Au­gen­bli­cke schi­en sie noch einen an­de­ren, kräf­ti­ge­ren Aus­druck zu su­chen, aber sie fand kei­nen; dann mach­te sie eine Be­we­gung, als ob sie ihn an­spu­cken woll­te und schleu­der­te ihm ins Ge­sicht:

»Oh! … Schwein … Schwein … Schwein … Mit mei­nem Geld hat er sie be­zahlt … Schwein! … Schwein!«

Sie fand kein an­de­res Wort mehr und wie­der­hol­te im­mer­fort:

»Schwein! … Schwein!«

Plötz­lich lehn­te sie sich zum Fens­ter hin­aus und zupf­te den Kut­scher am Är­mel: »Halt!« — riss die Tür auf und. sprang auf die Stra­ße.

Du­roy woll­te ihr fol­gen, aber sie schrie: »Ich ver­bie­te dir, aus­zu­stei­gen!«

Sie rief das so laut, dass die. Passan­ten sich so­fort um. die Drosch­ke sam­mel­ten, und Du­roy wag­te aus Angst vor ei­nem Skan­dal sich nicht zu rüh­ren.

Dann zog sie die Bör­se aus der Ta­sche, such­te beim Schein der La­ter­ne zwei Fran­cs fünf­zig her­aus, gab sie dem Kut­scher und sag­te mit be­ben­der Stim­me:

»Hier … das ist für ein Stun­de Fahrt … Ich be­zah­le! … Und nun fah­ren Sie die­sen schmie­ri­gen Lum­pen nach Rue Boursault am Bou­le­vard Ba­ti­gnol­les.«

In der Grup­pe, die sich um die Drosch­ke ge­bil­det hat­te, ent­stand all­ge­mei­ne Hei­ter­keit. Ein Herr rief: »Bra­vo, Klei­ne!« Und ein Stra­ßen­jun­ge, der zwi­schen den Rä­dern der Drosch­ke stand, steck­te sei­nen Kopf in die of­fe­ne Tür hin­ein und schrie mit krei­schen­der Stim­me: »Gute Nacht, Bubi!« Dann setz­te sich der Wa­gen wie­der in Be­we­gung und lau­tes Ge­läch­ter klang hin­ter ihm her.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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