Читать книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant - Страница 42

V.

Оглавление

Der Herbst war ge­kom­men. Die Du Roys wa­ren den gan­zen Som­mer in Pa­ris ge­blie­ben und führ­ten wäh­rend der kur­z­en Kam­mer­fe­ri­en einen ener­gi­schen Feld­zug zu­guns­ten der neu­en Re­gie­rung.

Zwar war es erst An­fang Ok­to­ber; aber die Kam­mer hat­te be­reits ihre Sit­zun­gen wie­der auf­ge­nom­men, denn die Marok­ko­af­fä­re wur­de im­mer erns­ter und ver­wi­ckel­ter. Ei­gent­lich glaub­te ja nie­mand an die Ex­pe­di­ti­on nach Tan­ger. Ob­wohl am Tage, wo das Par­la­ment auf Fe­ri­en ging, ein Ab­ge­ord­ne­ter der Rech­ten, Graf Lam­bert-Sar­ra­zin, in ei­ner geist­rei­chen Rede, die so­gar im Zen­trum Bei­fall fand, er­klärt hat­te, er wol­le — wie einst ein be­rühm­ter Vi­ze­kö­nig von In­di­en — mit sei­nem Schnurr­bart ge­gen den Ba­cken­bart des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten wet­ten, dass das neue Ka­bi­nett ge­nau so han­deln wür­de wie das frü­he­re, und auch ein Ex­pe­di­ti­ons­korps nach Tan­ger schi­cken wür­de, wie einst nach Tu­nis, schon der Sym­me­trie we­gen, wie man zwei Va­sen auf einen Ka­min stellt.

Er füg­te noch hin­zu: »Die afri­ka­ni­schen Län­der sind für Frank­reich tat­säch­lich ein Ka­min, mei­ne Her­ren, ein Ka­min, der gut zieht und un­ser bes­tes Holz ver­zehrt und den man mit Ban­kak­ti­en hei­zen muss. Sie ha­ben sich die Lau­ne ge­stat­tet, die lin­ke Ecke mit ei­ner tu­ne­si­schen Kost­bar­keit zu schmücken, die Ih­nen teu­er zu ste­hen kommt, nun wer­den Sie se­hen, dass Herr Marot sei­nen Vor­gän­ger nach­ah­men und auch die rech­te Ecke mit ei­ner Kost­bar­keit schmücken wird.

Die­se Rede war be­rühmt ge­wor­den. Du Roy hat­te im An­schluss dar­an zehn Ar­ti­kel über die Ko­lo­ni­sa­ti­on Al­giers ver­öf­fent­licht; die gan­ze Se­rie, die er bei Be­ginn sei­ner Jour­na­lis­ten­lauf­bahn un­ter­bre­chen muss­te. Er trat ener­gisch für eine mi­li­tä­ri­sche Ex­pe­di­ti­on ein, ob­wohl er über­zeugt war, dass sie nie­mals statt­fin­den wür­de. Er ge­bär­de­te sich über­pa­trio­tisch und über­schüt­te­te Spa­ni­en mit al­len mög­li­chen be­lei­di­gen­den und ver­ächt­li­chen Be­mer­kun­gen, die man ge­gen Völ­ker ge­braucht, de­ren In­ter­es­sen den ei­ge­nen zu­wi­der­lau­fen.

Die Vie Françai­se hat­te durch die Be­zie­hung zu der herr­schen­den Staats­ge­walt au­ßer­or­dent­li­ches An­se­hen und Be­deu­tung ge­won­nen. Sie brach­te die po­li­ti­schen Neu­ig­kei­ten frü­her als die maß­ge­ben­den alt­be­währ­ten Blät­ter und leg­te die Ab­sich­ten der ihr be­freun­de­ten Mi­nis­ter durch ver­schie­de­ne Re­de­wen­dun­gen klar; fast alle Pa­ri­ser und Pro­vinz­zei­tun­gen be­zo­gen aus ihr ihre In­for­ma­tio­nen. Man zi­tier­te sie, man fürch­te­te sie und be­gann sie so­gar zu ach­ten. Sie war nicht mehr das ver­däch­ti­ge Or­gan ei­ner Grup­pe po­li­ti­sie­ren­der Bör­sen­spe­ku­lan­ten, son­dern das an­er­kann­te Or­gan, das dem Mi­nis­te­ri­um na­he­stand. Lar­oche-Ma­thieu war die See­le der Zei­tung und Du Roy sein Sprach­rohr. Va­ter Wal­ter, der stum­me De­pu­tier­te, und ge­ris­se­ne Zei­tungs­di­rek­tor, hielt sich im Hin­ter­grund, und man er­zähl­te, dass er sich im Stil­len mit ei­nem großen Kup­fer­mi­nen­ge­schäft in Marok­ko be­schäf­ti­ge.

Der Sa­lon Ma­de­lei­nes war zu ei­nem ein­fluss­rei­chen Mit­tel­punkt ge­wor­den, wo man all­wö­chent­lich ei­ni­ge Mit­glie­der des Mi­nis­te­ri­ums traf. Der Mi­nis­ter­prä­si­dent hat­te so­gar zwei­mal bei ihr ge­speist, und die Frau­en der Staats­män­ner, die frü­her kaum über die Schwel­le ih­rer Woh­nung tra­ten, rühm­ten sich jetzt, ihre Freun­din­nen zu sein und ka­men öf­ter zu ihr, als sie zu ih­nen.

Der Mi­nis­ter des Äu­ße­ren war bei­na­he Herr bei ihr im Hau­se ge­wor­den. Er kam zu je­der Ta­ges­zeit, brach­te Te­le­gram­me, Nach­rich­ten und ver­schie­de­ne In­for­ma­tio­nen mit. Er dik­tier­te sie bald dem Man­ne, bald der Frau des Hau­ses, als wä­ren sie bei­de sei­ne Se­kre­tä­re. Blieb Du Roy, nach­dem der Mi­nis­ter fort­ge­gan­gen war, mit sei­ner Frau al­lein, so ging er mit dro­hen­der Stim­me und per­fi­den An­deu­tun­gen ge­gen das Be­neh­men die­ses mit­tel­mä­ßi­gen Em­por­kömm­lings los. Sie zuck­te aber ver­ächt­lich die Ach­seln und sag­te im­mer wie­der:

»Mach’ du es eben­so. Wer­de Mi­nis­ter, da kannst du al­les nach dei­nem Be­lie­ben lei­ten. Bis da­hin musst du schwei­gen.« Er dreh­te sei­nen Schnurr­bart und warf auf sie von der Sei­te einen Blick.

»Man weiß noch gar nicht, wozu ich fä­hig bin,« sag­te er, »aber ei­nes Ta­ges wird man es viel­leicht er­fah­ren.«

Sie ant­wor­te­te mit phi­lo­so­phi­scher Ruhe:

»Die Zu­kunft wird es zei­gen.«

Am Mor­gen der Wie­de­r­er­öff­nung der Kam­mer lag die jun­ge Frau noch im Bett und gab ih­rem Gat­ten, der sich für das Früh­stück bei Lar­oche-Ma­thieu an­klei­de­te, tau­send Ver­hal­tungs­maß­re­geln, um noch vor Be­ginn der Sit­zung von ihm die nö­ti­gen In­struk­tio­nen für den Leit­ar­ti­kel ein­zu­ho­len, der am nächs­ten Tage in der Vie Françai­se als of­fi­zi­öse Dar­stel­lung der wirk­li­chen Ab­sich­ten des Ka­bi­netts ver­öf­fent­licht wer­den soll­te.

Ma­de­lei­ne sag­te: »Vor al­len Din­gen ver­giss nicht, ihn zu fra­gen, ob der Ge­ne­ral Bel­lon­cle tat­säch­lich nach Oran ent­sandt wor­den ist, wie das be­haup­tet wur­de. Das wäre von größ­ter Be­deu­tung.«

Er wur­de ner­vös und un­ge­dul­dig.

»Ich weiß doch ge­nau so gut wie du, was ich tun soll. Höre doch mal auf, al­les hun­dert­mal zu wie­der­ho­len und lass mich da­mit end­lich zu­frie­den!«

»Mein Lie­ber,« er­wi­der­te sie ru­hig, »du ver­gisst im­mer die Hälf­te von dem, was du dem Mi­nis­ter aus­rich­ten sollst.« .

»Dein Mi­nis­ter geht mir auf die Ner­ven,« brumm­te er, »er ist ein Hans­wurst.«

Sie ant­wor­te­te ohne jede Er­re­gung:

»Er ist ge­nau so dein Mi­nis­ter wie der mei­ne. Er ist dir so­gar nütz­li­cher als mir.«

Er dreh­te sich zu ihr um und lä­chel­te höh­nisch:

»Ver­zei­hung;, mir macht er nicht den Hof.«

»Mir auch nicht,« ant­wor­te­te sie lang­sam, »aber er lässt uns reich wer­den.«

Er schwieg und sag­te dann nach ei­ner kur­z­en Pau­se: »Wenn ich un­ter dei­nen Ver­eh­rern zu wäh­len hät­te, so wäre mir der alte Narr de Vau­drec doch noch lie­ber. Was ist ei­gent­lich mit ihm los? Ich habe ihn seit acht Ta­gen nicht ge­se­hen.«

Sie ant­wor­te­te, ohne sich auf­zu­re­gen:

»Er ist lei­dend. Er schrieb mir, dass er einen Gicht­an­fall ge­habt hät­te und das Bett hü­ten müss­te. Du soll­test bei ihm vor­bei­ge­hen und dich nach sei­nem Be­fin­den er­kun­di­gen. Du weißt doch, er hat dich sehr gern, und es wür­de ihm si­cher Freu­de ma­chen.«

»Ja, ge­wiss,« er­wi­der­te Ge­or­ges, »so­bald ich kann, gehe ich hin.«

Er war mit sei­ner Toi­let­te zu Ende, setz­te sei­nen Hut auf und such­te her­um, ob er nichts ver­ges­sen hat­te. Er fand nichts, nä­her­te sich sei­ner Frau und gab ihr einen Kuss auf die Stirn:

»Auf Wie­der­se­hen, mein Lieb­ling, ich wer­de nicht vor sie­ben zu­rück sein.«

Dann ging er fort.

Herr Lar­oche-Ma­thieu er­war­te­te ihn be­reits, denn an die­sem Tage früh­stück­te er um zehn Uhr. Der Mi­nis­ter­rat soll­te um zwölf, noch vor der Par­la­ments­er­öff­nung, zu­sam­men­tre­ten.

Frau Lar­oche-Ma­thieu woll­te zur ge­wohn­ten Zeit früh­stücken, und so war au­ßer ih­nen bei­den nur noch der Pri­vat­se­kre­tär des Mi­nis­ters bei Tisch. Du Roy be­gann von sei­nem Ar­ti­kel zu spre­chen, gab des­sen Richt­li­ni­en an, stell­te dem Mi­nis­ter ei­ni­ge Fra­gen und krit­zel­te ein paar No­ti­zen auf sei­ne Vi­si­ten­kar­te; als er fer­tig war, frag­te er:

»Wol­len Sie noch et­was än­dern, ver­ehr­ter Mi­nis­ter?«

»Sehr we­nig, mein lie­ber Freund. Vi­el­leicht sind Ihre An­ga­ben über die Marok­ko­fra­ge et­was zu po­si­tiv. Be­han­deln Sie die Sa­che so, als ob die Ex­pe­di­ti­on statt­fin­den wür­de; aber an­de­rer­seits las­sen Sie deut­lich durch­bli­cken, das nichts Der­ar­ti­ges ge­sche­hen wird, und dass Sie selbst­ver­ständ­lich nicht dar­an glau­ben. Ge­ben Sie dem Pub­li­kum zu ver­ste­hen — wir den­ken nicht dar­an, uns in die­ses Aben­teu­er ein­zu­las­sen.«

»Sehr gut, ich habe es ver­stan­den und wer­de es den Le­sern auch ver­ständ­lich ma­chen. Mei­ne Frau bat mich noch, Sie zu fra­gen, ob der Ge­ne­ral Bel­lon­cle nach Oran ge­schickt wür­de. Nach dem, was Sie mir eben er­klärt ha­ben, neh­me ich wohl an, dass es nicht der Fall ist.«

Der Staats­mann er­wi­der­te:

»Nein.«

Dann sprach man über die be­vor­ste­hen­de Er­öff­nung der Kam­mer. Lar­oche-Ma­thieu be­gann nun zu re­den; er woll­te die Wir­kung der Phra­sen aus­pro­bie­ren, die er sich vor­be­rei­tet hat­te, um sie in we­ni­gen Stun­den vor sei­nen Kol­le­gen aus­zu­streu­en. Er schwang da­bei die rech­te Hand, in der er bald die Ga­bel, bald das Mes­ser, bald ein Stück­chen Brot hielt. Er wand­te sich da­bei an die un­sicht­ba­re Ver­samm­lung und ent­lud sei­ne süß­lich-flie­ßen­de Be­red­sam­keit des hüb­schen wohl­fri­sier­ten Man­nes. Sein win­zi­ger hoch­ge­dreh­ter Schnurr­bart en­de­te mit zwei Spit­zen, und sein Haar, das in der Mit­te ge­schei­telt und reich­lich mit Bril­lan­ti­ne ein­ge­fet­tet war, um­gab sei­ne Schlä­fen so, dass er wie ein Pro­vinz­geck aus­sah. Trotz sei­ner Ju­gend war er et­was zu dick, et­was auf­ge­schwemmt und die Wes­te spann­te sich über sei­nem Bäuch­lein. Der Pri­vat­se­kre­tär aß und trank ru­hig wei­ter, denn er war of­fen­bar an sol­che Re­de­er­güs­se ge­wöhnt. Du Roy je­doch, dem der Neid auf den er­run­ge­nen Er­folg am Her­zen nag­te, dach­te da­bei: »Du al­tes Ka­mel, was für Dumm­köp­fe sind doch die­se Po­li­ti­ker!«

Sein ei­ge­ner Wert kam ihm im Ver­gleich zu der ge­schwät­zi­gen Wich­tig­tue­rei des Mi­nis­ters umso mehr zum Be­wusst­sein, und er sag­te sich: »Wenn ich nur 100000 Fran­cs bar hät­te, um mich in mei­ner schö­nen Hei­mat als De­pu­tier­ten auf­stel­len zu las­sen! O Gott! Wie wür­de ich mei­ne wa­cke­ren, pfif­fi­gen und schwer­fäl­li­gen Nor­man­nen her­ein­le­gen, und was für ein Staats­mann wür­de ich wer­den, im Ver­gleich zu die­sen kurz­sich­ti­gen Schwät­zern!«

Herr Lar­oche-Ma­thieu re­de­te bis zum Kaf­fee. Dann sah er, dass es spät wur­de, er klin­gel­te, ließ sein Coupé vor­fah­ren und reich­te dem Jour­na­lis­ten die Hand:

»Al­les recht ver­stan­den, mein lie­ber Freund?«

»Voll­kom­men, ver­ehr­ter Mi­nis­ter. Sie kön­nen sich auf mich ver­las­sen.«

Du Roy ging lang­sam auf die Re­dak­ti­on, um sei­nen Ar­ti­kel auf­zu­set­zen, denn er hat­te sonst bis vier Uhr nichts zu tun. Um vier soll­te er sich in der Rue Con­stan­ti­no­ple mit Ma­da­me de Ma­rel­le tref­fen, mit der er re­gel­mä­ßig, zwei­mal wö­chent­lich, Mon­tags und Frei­tags, zu­sam­men war.

Doch als er auf die Re­dak­ti­on kam, über­reich­te man ihm eine ge­schlos­se­ne De­pe­sche. Sie war von Frau Wal­ter und lau­te­te:

»Ich muss dich un­be­dingt heu­te spre­chen. Es ist et­was sehr Wich­ti­ges. Er­war­te mich um zwei Uhr in der Rue Con­stan­ti­no­ple. Ich kann dir einen großen Dienst er­wei­sen

Dei­ne Freun­din bis zum Tode,

Vir­gi­nie.«

Er schimpf­te: »Don­ner­wet­ter, die­ses kleb­ri­ge Weib.« Und in ei­nem An­fall schlech­ter Lau­ne ver­ließ er so­fort die Re­dak­ti­on; denn er war zu auf­ge­regt, um wei­ter­zu­ar­bei­ten.

Seit sechs Wo­chen ver­such­te er ver­ge­bens, mit ihr zu bre­chen. Doch sie klam­mer­te sich mit zä­her An­häng­lich­keit an ihn.

Gleich nach ih­rem Fehl­tritt hat­te sie furcht­ba­re Ge­wis­sens­bis­se ge­habt und bei den drei auf­ein­an­der­fol­gen­den Zu­sam­men­künf­ten ihn mit Vor­wür­fen bit­ters­ter Art über­schüt­tet. Ihm wur­den die­se Sze­nen lang­wei­lig, denn er war die­ser über­rei­fen und dra­ma­ti­schen Frau sehr schnell über­drüs­sig ge­wor­den; er zog sich ein­fach zu­rück und hoff­te, dass die­ses Aben­teu­er auf die­se Wei­se so ohne wei­te­res ein Ende fin­den wür­de. Nun aber hing sie sich an ihn und stürz­te sich wie wahn­sin­nig in die­se Lie­be, wie man sich in einen Fluss stürzt, mit ei­nem Stein am Hal­se. Aus Schwä­che, Gut­mü­tig­keit und Rück­sicht hat­te er sich wie­der mit ihr ein­ge­las­sen. Und nun um­gab sie ihn mit ei­ner zü­gel­lo­sen er­mü­den­den Lei­den­schaft und ver­folg­te ihn mit ih­ren Zärt­lich­kei­ten. Sie woll­te ihn je­den Tag se­hen, be­stell­te ihn alle Au­gen­bli­cke durch Te­le­gram­me zu flüch­ti­gen Be­geg­nun­gen an Stra­ßen­e­cken, Wa­ren­häu­sern, öf­fent­li­chen An­la­gen. Im­mer wie­der sag­te sie ihm die­sel­ben Phra­sen, dass sie ihn an­be­te und ver­göt­te­re und ver­ließ ihn als­dann mit dem Schwur, dass sie se­lig sei, ihn ge­se­hen zu ha­ben.

Sie er­wies sich ganz an­ders, als er je ge­träumt hät­te, und ver­such­te ihn mit kind­li­chen Zärt­lich­kei­ten und Lieb­ko­sun­gen zu ver­füh­ren, die in ih­rem Al­ter lä­cher­lich wirk­ten. Da sie bis da­hin voll­stän­dig an­stän­dig ge­blie­ben war, in­ner­lich keusch, je­dem Ge­fühl ver­schlos­sen, und ei­gent­lich nichts von Lei­den­schaft und sinn­li­cher Lie­be kann­te, so schi­en bei die­ser ver­nünf­ti­gen Frau bei ih­ren vier­zig Jah­ren ein blas­ser Herbst ei­nem küh­len Som­mer zu fol­gen. Nun ent­stand bei ihr durch die­ses Aben­teu­er eine Art von zwei­tem wel­kem Früh­ling mit klei­nen, ver­küm­mer­ten Knos­pen, eine selt­sa­me Nach­blü­te von Mäd­chen­lie­be, eine ver­spä­te­te glü­hen­de und doch nai­ve Lei­den­schaft mit un­er­war­te­ten Ge­fühls­aus­brü­chen ei­nes sech­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chens, ge­schwät­zi­gen Lieb­ko­sun­gen und al­tern­den Zärt­lich­kei­ten, die nie jung ge­we­sen wa­ren. Sie schrieb zehn Brie­fe am Tage, al­ber­ne und ver­rück­te Brie­fe in ei­nem ver­wor­re­nen, poe­ti­schen, lä­cher­li­chen Stil mit dras­ti­schen Aus­drücken vol­ler Tier- und Vo­gel­na­men.

So­bald sie al­lein wa­ren, um­arm­te sie ihn mit schwer­fäl­li­ger Zärt­lich­keit, wie ein großes Kind, ver­zog die Lip­pen in ko­mi­scher Wei­se und sprang um ihn her­um, wo­bei ihr schwe­rer und vol­ler Bu­sen un­ter dem Stoff ih­res Klei­des hin und her wog­te.

Er war ge­ra­de­zu ver­zwei­felt, wenn sie ihn »Mein Mäu­schen«, »Mein Hünd­chen«, »Mein Kätz­chen«, »Mein Schätz­chen«, »Mein Vö­gel­chen«, »Mein Herz­chen« nann­te und, wenn sie sich hin­gab, im­mer wie­der eine kin­disch-scham­haf­te Ko­mö­die spiel­te, mit ängst­li­chen Be­we­gun­gen, die sie für gra­zi­ös und ver­füh­re­risch hielt, mit al­ler­lei Kin­de­rei­en ei­ner ver­zo­ge­nen Pen­si­ons­schü­le­rin.

Sie frag­te: »Wem ge­hört die­ses Münd­chen?«, und wenn er nicht so­fort mit »Mir« ant­wor­te­te, dann quäl­te sie ihn, bis er ganz ner­vös und blass wur­de. Sie muss­te doch füh­len, so schi­en es ihm, dass zur Lie­be et­was Takt, Ge­wandt­heit, Vor­sicht und ent­spre­chen­des Be­neh­men ge­hört, dass sie, die sie sich ihm als Fa­mi­li­en­mut­ter und rei­fe Welt­da­me hin­ge­ge­ben hat­te, es mit Wür­de und ei­ner ge­wis­sen Zu­rück­hal­tung tun müss­te, viel­leicht mit Trä­nen; aber mit den Trä­nen ei­ner Dido und nicht ei­ner Ju­li­et­ta.

Sie wie­der­hol­te ihm im­mer­fort:

»Wie ich dich lie­be, mein Klei­ner, liebst du mich auch so sehr, mein Kind­chen?«

Er konn­te es nicht mehr hö­ren, wie sie ihn »mein Klei­ner« oder »mein Kind­chen« nann­te, ohne dass er Lust ver­spür­te, sie »mei­ne Alte« an­zu­re­den.

Sie sag­te ihm:

»Es war wahn­sin­nig von mir, dir nach­zu­ge­ben; aber jetzt be­daue­re ich es nicht. Es ist so schön, zu lie­ben.«

Alle die­se Wor­te, die aus ih­rem Mun­de ka­men, er­reg­ten und är­ger­ten Ge­or­ges auf das höchs­te. Sie flüs­ter­te: »Wie schön ist es, zu lie­ben«, wie das eine schlech­te Schau­spie­le­rin auf der Büh­ne ge­tan hät­te. Und dann brach­te ihn die Un­ge­schick­lich­keit ih­rer Lieb­ko­sun­gen zur Verzweif­lung. Der jun­ge, hüb­sche Mann ließ durch sei­ne Küs­se ihre sinn­li­che Lei­den­schaft und ihr hei­ßes Blut auf­wal­len; sie zeig­te aber eine sol­che Un­ge­schick­lich­keit in ih­rer zärt­li­chen und glü­hen­den Umar­mung, dass Du Roy dar­über am liebs­ten ge­lacht hät­te und an alte Leu­te den­ken muss­te, die le­sen und schrei­ben zu ler­nen ver­su­chen.

Und wenn sie ihn mit ih­ren Ar­men um­klam­mer­te und ihn lei­den­schaft­lich an­blick­te, mit den tie­fen und schreck­li­chen Bli­cken, die man­che al­tern­de über­rei­fe Frau bei ih­rer letz­ten Lie­be hat­te, und wenn sie ihn mit ih­rem stum­men und zit­tern­den Mun­de bei­ßen und ihn mit ih­rem hei­ßen, schwe­ren, mü­den und doch un­er­sätt­li­chen Kör­per er­drücken woll­te — so be­nahm sie sich wie ein Schul­mäd­chen und lall­te, um gra­zi­ös und ver­füh­re­risch zu sein: »Ich lie­be dich so in­nig und heiß. Ich lie­be dich so sehr. Sei recht lieb zu dei­ner klei­nen Frau«, und er spür­te dann ein un­wi­der­steh­li­ches Ver­lan­gen, zu flu­chen, sei­nen Hut zu neh­men, fort­zu­ge­hen und die Tür hin­ter sich zu­zu­schla­gen.

In der ers­ten Zeit wa­ren sie oft in der Rue Con­stan­ti­no­ple zu­sam­men, doch Du Roy fürch­te­te ein Zu­sam­men­tref­fen mit Ma­da­me de Ma­rel­le und er fand jetzt eine Men­ge Aus­re­den, um sich die­sen Zu­sam­men­künf­ten zu ent­zie­hen.

Und nun muss­te er fast täg­lich zu ihr kom­men; bald zum Früh­stück, bald zum Mit­ta­ges­sen. Sie drück­te ihm un­ter dem Tisch die Hand und so­bald sie hin­ter ei­ner Tür oder ei­nem Vor­hang wa­ren, hielt sie ihm die Lip­pen zum Kus­se hin. Doch er fand viel mehr Ver­gnü­gen dar­an, mit Suzan­ne zu spie­len, über de­ren wit­zi­ge Ein­fäl­le er oft la­chen muss­te. In ih­rem Pup­pen­kör­per leb­te ein wit­zi­ger, spöt­ti­scher Geist, der stets un­ver­hofft her­vor­brach, wie eine Ma­rio­net­te auf dem Jahr­markt. Sie mach­te sich über alle Welt in der schärfs­ten und geist­reichs­ten Wei­se lus­tig. Ge­or­ges reiz­te sie an, sta­chel­te ihre Iro­nie auf und sie ver­stan­den sich vor­treff­lich.

Alle Au­gen­bli­cke rief sie ihn:

»Hö­ren Sie mal, Bel-Ami! — Kom­men Sie mal her, Bel-Ami!« Er ließ so­fort die Mut­ter im Stich und eil­te zu der Toch­ter. Sie flüs­ter­te ihm ir­gend­ei­ne Bos­heit ins Ohr, über die sie dann bei­de herz­lich lach­ten.

In­zwi­schen war er der Lie­be der Mut­ter so über­drüs­sig ge­wor­den, dass er bald einen un­über­wind­li­chen Wi­der­wil­len ge­gen sie emp­fand. Er konn­te sie nicht mehr se­hen, noch hö­ren, noch an sie den­ken, ohne wü­tend zu wer­den. Er be­such­te sie da­her nicht mehr und ließ ihre Brie­fe und ihre Bit­ten un­be­ant­wor­tet.

End­lich be­griff sie, dass er sie nicht mehr lieb­te und be­gann dar­un­ter furcht­bar zu lei­den. Doch sie ließ nicht von ihm ab, spür­te ihm nach, ver­folg­te ihn, lau­er­te auf ihn in ei­ner Drosch­ke mit her­un­ter­ge­zo­ge­nen Vor­hän­gen am Ein­gang der Re­dak­ti­on; vor sei­ner Haus­tür und in den Stra­ßen, wo sie ihm zu be­geg­nen hoff­te.

Er hat­te Lust, sie zu miss­han­deln, zu be­schimp­fen, sie zu ver­prü­geln und ihr ein­fach ins Ge­sicht zu schleu­dern: »Ich habe ge­nug, ich bin Ih­rer satt!«

Aber im Hin­blick auf die Vie Françai­se muss­te er auf sie doch ei­ni­ge Rück­sich­ten neh­men und so ver­such­te er durch Käl­te und durch et­was ge­mil­der­te Här­te und manch­mal so­gar durch hef­ti­ge Wor­te ihr bei­zu­brin­gen, dass man end­lich al­le­dem ein Ende be­rei­ten müss­te.

Sie er­fand alle mög­li­chen Lis­ten und Vor­wän­de, um sich mit ihm in der Rue Con­stan­ti­no­ple zu tref­fen, und er leb­te un­auf­hör­lich in der Furcht, dass die bei­den Frau­en ei­nes Ta­ges an der Tür auf­ein­an­der­sto­ßen wür­den.

Sei­ne Nei­gung zu Ma­da­me de Ma­rel­le war aber im Ge­gen­teil im Lau­fe des Som­mers noch stär­ker ge­wor­den. Er nann­te sie »Mein Büb­chen«, und sie ge­fiel ihm ganz ent­schie­den. Sie hat­ten sehr viel Ähn­li­ches in ih­rem in­ne­ren We­sen und pass­ten sehr gut zu­ein­an­der. Sie wa­ren bei­de im Grun­de Aben­teu­rer, sie wa­ren No­ma­den des großen städ­ti­schen Le­bens, die, ohne es zu ah­nen, den Zi­geu­nern der Land­stra­ße so sehr äh­nel­ten.

Sie hat­ten einen herr­li­chen Lie­bes­som­mer ver­lebt, wie ein jun­ges, ver­lieb­tes Stu­den­ten­paar, das Hoch­zeit mach­te. Sie fuh­ren zum Früh­stück nach Ar­gen­teuil, nach Bou­gi­val, nach Mai­sons und Pois­sy her­aus und blie­ben stun­den­lang im Boot, um an den Ufern ent­lang Blu­men zu pflücken. Sie lieb­te sehr ge­ba­cke­ne Sei­ne­fi­sche, Ka­nin­chen und Fisch­fri­kas­see, sie schwärm­te für die Lau­ben in den klei­nen Knei­pen und für das Ge­schrei der Ru­de­rer. Es mach­te ihm Spaß, mit ihr an ei­nem hei­te­ren Som­mer­ta­ge auf dem Ver­deck ei­nes Vo­r­ort­zu­ges hin­aus­zu­fah­ren und mit hei­te­rem La­chen und Scher­zen die häss­li­chen Fel­der um Pa­ris zu durch­que­ren, auf de­nen die scheuß­li­chen Vil­len der Spieß­bür­ger wie Pil­ze aus der Erde schie­ßen.

Und als er wie­der zu­rück muss­te, um bei Frau Wal­ter zu es­sen, da hass­te er die alte zähe Ge­lieb­te und dach­te an die jun­ge, die er eben ver­las­sen hat­te und die auf den schö­nen grü­nen Flus­sufern sei­ne Be­gier­de ge­stillt und sei­ne Lei­den­schaft be­frie­digt hat­te.

Er fühl­te sich nun end­lich von der Frau sei­nes Chefs et­was be­freit, denn er hat­te, als er ihr Te­le­gramm er­hielt, in dem sie ihn zu ei­nem Ren­dez­vous um zwei Uhr in die Rue Con­stan­ti­no­ple be­stell­te, ihr ziem­lich un­um­wun­den und mit bru­ta­len Aus­drücken sei­nen Ent­schluss klar­ge­legt, mit ihr zu bre­chen.

Er las es im Ge­hen noch ein­mal durch: »Ich muss Dich un­be­dingt spre­chen. Es ist et­was sehr Wich­ti­ges. Er­war­te mich um zwei Uhr in der Rue Con­stan­ti­no­ple. Ich kann Dir einen großen Dienst er­wei­sen. Dei­ne Freun­din bis zum Tode. — Vir­gi­nie.«

Er dach­te: »Was will sie noch von mir, die alte Gans? Ich wet­te, sie hat mir gar nichts mit­zu­tei­len. Sie wird mir nur noch ein­mal wie­der­ho­len, dass sie mich über al­les liebt. Na, wir wer­den ja se­hen. Sie spricht von ei­ner sehr wich­ti­gen Sa­che, von ei­nem großen Dienst, es kann viel­leicht doch wahr sein. Und Clo­til­de kommt um vier. Ich muss die ers­te spä­tes­tens um drei los wer­den. O Gott! Dass sie sich nur nicht be­geg­nen! Oh, die­se Wei­ber!«

Und er über­leg­te sich, dass sei­ne Frau die ein­zi­ge war, die ihm im­mer sei­ne Ruhe gönn­te. Sie leb­te an sei­ner Sei­te und schi­en ihn auch sehr gern zu ha­ben, we­nigs­tens in den Stun­den, die zur Lie­be be­stimmt wa­ren; denn sie dul­de­te nicht, dass die Ta­ges­ord­nung ge­stört wur­de.

Er ging mit lang­sa­men Schrit­ten sei­ner Jung­ge­sel­len­woh­nung zu und ver­setz­te sich in­ner­lich im­mer mehr ge­gen die Frau sei­nes Chefs in Wut: »Ah, ich wer­de sie schon rich­tig zu emp­fan­gen ver­ste­hen, wenn sie mir nichts mit­zu­tei­len hat. Das Wort Cam­bron­nes soll ne­ben dem mei­nen aka­de­misch klin­gen. Ich wer­de ihr er­klä­ren, dass ich dar­auf ver­zich­te, je wie­der ihr Haus zu be­tre­ten.«

Er trat ein, um auf Frau Wal­ter zu war­ten. Sie kam fast un­mit­tel­bar dar­auf, und als sie ihn er­blick­te, rief sie:

»Ach, du hast mei­ne De­pe­sche er­hal­ten. Welch ein Glück!«

Er mach­te ein bö­ses Ge­sicht:

»Ja­wohl, ich fand sie auf der Re­dak­ti­on in dem Au­gen­blick, als ich zur Kam­mer ge­hen woll­te. Was willst du noch von mir?«

Sie hat­te ih­ren Schlei­er auf­ge­steckt, um ihn zu küs­sen und nä­her­te sich ihm scheu und un­ter­wür­fig, wie eine ver­prü­gel­te Hün­din:

»Wa­rum bist du so grau­sam ge­gen mich? Wie hart sprichst du mit mir! Was habe ich dir ge­tan?… Du kannst dir gar nicht vor­stel­len, wie ich dar­un­ter lei­de!«

Er brumm­te:

»Fängst du schon wie­der an?«

Sie stand jetzt ganz dicht bei ihm und war­te­te auf ein Lä­cheln von ihm, auf eine Be­we­gung, um sich ihm an den Hals zu wer­fen.

»Du soll­test mich gar nicht ver­füh­ren,« mur­mel­te sie, »um mich so zu be­han­deln. Du soll­test mich un­be­schol­ten und glück­lich las­sen, so wie ich frü­her war. Ent­sinnst du dich, was du mir in der Kir­che sag­test und wie du mich mit Ge­walt in die­ses Haus ge­führt hast? Und nun, wie sprichst du zu mir! Wie emp­fängst du mich! O mein Gott, mein Gott! Wie du mir weh tust!«

Er stampf­te wü­tend mit den Fü­ßen:

»Ah, nun ge­nug! Ich kann dich kei­ne Mi­nu­te se­hen, ohne die­se ewi­ge Li­ta­nei mit an­zu­hö­ren. Das klingt ja so, als ob ich dich mit zwölf Jah­ren ver­führt hät­te und du un­schul­dig wä­rest wie ein En­gel. Nein, Liebs­te! Stel­len wir mal die Tat­sa­chen fest. Es war kei­ne Ver­füh­rung von Min­der­jäh­ri­gen. Du hast dich mir hin­ge­ge­ben in voll­stän­dig ver­stan­des­rei­fem Al­ter. Ich bin dir da­für sehr dank­bar, aber ich füh­le mich gar nicht ver­pflich­tet, bis zum Tode an dei­nen Rock ge­bun­den zu sein. Du hast einen Mann, ich eine Frau. Wir sind bei­de nicht frei. Wir sind ei­ner Lau­ne ge­folgt, ohne uns ge­gen­sei­tig gut zu ken­nen und nun ist es aus.«

»Oh, wie du grau­sam bist,« sag­te sie, »wie bist du roh, wie bist du in­fam! Nein! Ich war kein jun­ges Mäd­chen mehr, doch ich habe nie ge­liebt, nie …«

Er schnitt ihr das Wort ab:

»Du hast es mir schon zwan­zig­mal wie­der­holt. Ich weiß es. Doch du hat­test zwei Kin­der… Ich habe dir also nicht die Un­schuld ge­raubt.«

Mit ei­nem Ruck fuhr sie zu­rück:

»O Ge­or­ges, wie un­wür­dig!«

Sie press­te ihre bei­den Hän­de ge­gen die Brust und be­gann zu wei­nen und zu schluch­zen. Als er die Trä­nen flie­ßen sah, er­griff er sei­nen Hut, der auf der Ecke des Ka­mins lag:

»Ach, du willst wei­nen! Dann gu­ten Abend. Du hast mich also nur für die­ses Thea­ter her­be­stellt?«

Sie tat einen Schritt vor­wärts, um ihm den Weg ab­zu­schnei­den. Sie zog schnell ein Ta­schen­tuch her­aus und wisch­te sich mit hef­ti­ger Be­we­gung die Trä­nen ab. Sie spann­te ih­ren Wil­len an und sprach mit fes­te­rer Stim­me, un­ter­bro­chen von kur­z­em, schmerz­li­chem Auf­schluch­zen:

»Nein, ich kam, um dir… um dir eine Neu­ig­keit mit­zu­tei­len … eine po­li­ti­sche Neu­ig­keit … um dir die Mög­lich­keit zu ge­ben, 50000 Fran­cs schnell zu ver­die­nen … viel­leicht so­gar mehr.«

Er frag­te plötz­lich be­sänf­tigt:

»Wie­so? Was willst du da­mit sa­gen?«

»Ich habe ges­tern Abend zu­fäl­lig ei­ner Un­ter­re­dung zwi­schen Lar­oche-Ma­thieu und mei­nem Mann bei­ge­wohnt. Üb­ri­gens schie­nen sie sich vor mir nicht be­son­ders ge­niert zu ha­ben. Doch Wal­ter emp­fahl dem Mi­nis­ter, dich nicht ein­zu­wei­hen, da du wo­mög­lich al­les ver­öf­fent­li­chen wür­dest.«

Du Roy leg­te sei­nen Hut auf einen Stuhl und war­te­te jetzt sehr ge­spannt.

»Also worum han­delt es sich?«

»Sie wol­len sich Marok­kos be­mäch­ti­gen!«

»Ach was, ich habe mit Lar­oche ge­früh­stückt und er hat mir die Plä­ne der Re­gie­rung aus­ein­an­der­ge­setzt.«

»Nein, mein Lieb­ling, es ist Schwin­del, sie ha­ben dich be­tro­gen, weil sie fürch­ten, dass man ihre Plä­ne durch­schaut.«

»Setz’ dich«, sag­te Ge­or­ges.

Und er setz­te sich selbst in einen Lehn­stuhl. Sie aber zog ein nied­ri­ges Ta­bu­rett her­an und ließ sich zwi­schen den Bei­nen des jun­gen Man­nes nie­der. Sie fuhr mit schmei­cheln­der Stim­me fort:

»Da ich stets an dich den­ke, gebe ich auf al­les, was man um mich her­um flüs­tert, acht.«

Dann be­gann sie ihm lang­sam zu er­klä­ren, wie sie ge­merkt hat­te, dass seit ei­ni­ger Zeit ohne sein Mit­wis­sen et­was vor­be­rei­tet wür­de und dass man sich sei­ner be­die­nen woll­te, ob­wohl man sei­ne Be­tei­li­gung am Ge­schäft fürch­te­te und ihn nicht ver­die­nen las­sen woll­te.

Sie sprach:

»Weißt du, wenn man liebt, wird man hin­ter­lis­tig.« Kurz, ges­tern hat­te sie al­les be­grif­fen. Es han­del­te sich um ein rich­ti­ges Ge­schäft, das im Stil­len vor­be­rei­tet wur­de. Sie lä­chel­te und freu­te sich über ihre Schlau­heit und Ge­wandt­heit. Sie wur­de auf­ge­regt, sie sprach als Gat­tin ei­nes Finan­ziers, die an Bör­sen­coups ge­wöhnt war, an das Schwan­ken der Wor­te, an den jä­hen Wech­sel zwi­schen Haus­se und Bais­se, der bin­nen zwei Stun­den Bör­sen­spe­ku­la­ti­on Tau­sen­de von klei­nen Bür­gern rui­niert und ih­rer letz­ten, in Fonds an­ge­leg­ten Er­spar­nis­se be­raubt, die von ge­ach­te­ten Finanz­leu­ten und Po­li­ti­kern ga­ran­tiert sind.

Sie wie­der­hol­te:

»Oh, es ist et­was Groß­ar­ti­ges, was sie da im Schil­de füh­ren. Es ist et­was sehr Gro­ßes. Üb­ri­gens hat Wal­ter das al­les ein­ge­lei­tet; er ver­steht das. Es ist ein Bom­ben­ge­schäft.«

Er wur­de un­ge­dul­dig über die lan­ge Vor­re­de:

»Los, wei­ter! Sag’ schnell!«

»Also höre zu. Die Tan­ger­ex­pe­di­ti­on war zwi­schen ih­nen be­schlos­sen, schon seit dem Tage, wo Lar­oche das Por­te­feuil­le des Aus­wär­ti­gen über­nom­men hat­te; nach und nach ha­ben sie die ma­rok­ka­ni­schen An­lei­hen auf­ge­kauft, die auf 65 bis 64 ge­fal­len wa­ren. Sie ha­ben es sehr ge­schickt auf­ge­kauft, durch Ver­mitt­lung un­ver­däch­ti­ger und klei­ner Agen­ten, die auf der Bör­se nicht wei­ter auf­ge­fal­len wa­ren. Sie ha­ben selbst die Roth­schilds ge­täuscht, die sich über die Nach­fra­ge nach Marok­ka­nern sehr wun­der­ten. Aber man nann­te ih­nen die Na­men der Zwi­schen­händ­ler, al­les un­be­deu­ten­de, zweit­klas­si­ge, meist ge­schei­ter­te Fir­men. Das hat die Groß­bank be­ru­higt. Und nun wird man die Ex­pe­di­ti­on un­ter­neh­men, und so­bald wir da un­ten Fuß ge­fasst ha­ben, ga­ran­tiert der fran­zö­si­sche Staat die Schul­den. Un­se­re Freun­de neh­men dann einen Ge­winn von fünf­zig bis sech­zig Mil­lio­nen Fran­cs mit. Du be­greifst nun, warum man vor al­ler Welt die ge­rings­te In­dis­kre­ti­on fürch­tet.«

Sie lehn­te ih­ren Kopf ge­gen sei­ne Wes­te und leg­te die Arme auf sei­ne Knie; sie schmieg­te sich an ihn, denn sie wuss­te, jetzt hat­te sie sein In­ter­es­se ge­weckt. Für eine Lieb­ko­sung, für ein Lä­cheln, war sie nun be­reit, al­les zu tun, al­les zu be­ge­hen.

»Bist du auch ganz si­cher?« frag­te er.

»Oh, ich weiß es ganz ge­nau«, er­wi­der­te sie zu­ver­sicht­lich.

Er er­klär­te dar­auf:

»Es ist wirk­lich groß­ar­tig. Was aber die­sen Lump Lar­oche an­geht, den will ich am Kra­gen neh­men. Oh, die­ser Gau­ner! Er soll sich in acht neh­men … er soll sich in acht neh­men! … Er soll mir nur mit sei­nem Mi­nis­ter­ge­tue zwi­schen die Fin­ger kom­men!«

Dann dach­te er nach und mur­mel­te:

»Man müss­te da­von auch et­was pro­fi­tie­ren.«

»Du kannst noch die An­lei­he kau­fen,« sag­te sie, »sie steht nur auf 72.«

»Ich habe aber kein Geld flüs­sig«, er­wi­der­te er.

Sie sah fle­hend zu ihm auf:

»Ich habe schon dar­an ge­dacht, mein Kätz­chen; wenn du zu mir sehr nett wä­rest, wenn du mich ein biss­chen lieb hät­test, dann wür­dest du mir ge­stat­ten, es dir zu lei­hen.«

Er ant­wor­te­te schroff und hef­tig:

»Nein, aus­ge­schlos­sen!«

»Hör mich an,« bat sie mit fle­hen­der Stim­me, »es gibt eine Mög­lich­keit, es zu tun, ohne Geld zu lei­hen. Ich woll­te von die­ser An­lei­he für 10000 Fran­cs kau­fen, um mir eine klei­ne Re­ser­ve an­zu­le­gen; nun wer­de ich für 20000 Fran­cs kau­fen. Du be­tei­ligst dich dar­an zur Hälf­te. Du ver­stehst doch, ich wer­de es ja nicht an Wal­ter gleich zu­rück­zah­len. Du brauchst zu­nächst gar nicht zu be­zah­len. Soll­te es ge­lin­gen, so ge­winnst du 70000 Fran­cs; ge­lingt es nicht, so bleibst du mir eben 10000 Fran­cs schul­dig, die du mir zu­rück­zah­len wirst, wann es dir passt.«

Er wie­der­hol­te:

»Nein, nein, sol­che Kom­bi­na­tio­nen ma­che ich nicht mit.«

Nun be­gann sie, ihre Grün­de aus­ein­an­der­zu­set­zen und ver­such­te, ihn mit Ver­nunft zu über­re­den. Sie be­wies ihm, dass er tat­säch­lich 10000 Fran­cs auf sein Wort ris­kier­te, dass folg­lich sie ihm gar nichts lieh, dass doch die Bank Wal­ter das Geld vor­streck­te.

Au­ßer­dem wies sie dar­auf hin, dass er doch in der Vie Fran­cai­se den gan­zen po­li­ti­schen Feld­zug ge­führt hat­te, der das Ge­schäft über­haupt erst er­mög­lich­te und dass er doch nicht so naiv wäre, kei­nen Vor­teil dar­aus zu zie­hen.

Er zau­der­te. Sie fuhr fort:

»Über­le­ge es dir doch. Es ist doch Wal­ter, der dir die 10000 Fran­cs vor­streckt, und du hast ihm Diens­te er­wie­sen, die be­deu­tend wert­vol­ler sind als das.«

»Also gut, mei­net­we­gen,« sag­te er, »wir ma­chen mit dir die Sa­che halb und halb. Soll­ten wir ver­lie­ren, so zah­le ich dir 10000 Fran­cs zu­rück.«

Sie war so glück­lich, dass sie sich er­hob, sei­nen Kopf mit bei­den Hän­den er­griff und ihn gie­rig zu küs­sen be­gann.

Zu­nächst wehr­te er sich nicht. Als sie aber stür­mi­scher wur­de, ihn um­klam­mer­te und mit ih­ren Lieb­ko­sun­gen ver­zehr­te, fiel ihm dann ein, dass die an­de­re bald kom­men muss­te und dass, wenn er nach­ge­ben, er Zeit ver­lie­ren wür­de, und es wäre ihm doch lie­ber, sei­ne Lei­den­schaft für die Jün­ge­re auf­zu­spa­ren, als sie in den Ar­men der Al­ten zu las­sen.

Er wies sie sanft zu­rück.

»Sei doch ver­nünf­tig«, sag­te er.

Sie blick­te ihn ver­zwei­felt an:

»O Ge­or­ges, darf ich dir nicht ein­mal einen Kuss ge­ben?«

»Heu­te nicht,« er­wi­der­te er, »ich habe et­was Kopf­schmer­zen und es be­kommt mir nicht.«

Da­rauf ließ sie sich füg­sam zwi­schen sei­nen Kni­en nie­der und frag­te:

»Willst du mor­gen zu mir zum Es­sen kom­men? Du wür­dest mir eine große Freu­de ma­chen!«

Er zö­ger­te, wag­te aber nicht, ab­zu­leh­nen.

»Ja, sehr gern!«

»Ich dan­ke dir, mein Lieb­ling.«

Mit re­gel­mä­ßi­ger sanf­ter Be­we­gung rieb sie lang­sam ihre Wan­ge an sei­ner Brust und eins ih­rer lan­gen schwar­zen Haa­re blieb da­bei an sei­ner Wes­te hän­gen. Sie merk­te es und ein tol­ler, halb­ver­rück­ter, aber­gläu­bi­scher Ge­dan­ke ging ihr durch den Kopf, ein Ge­dan­ke, wie er oft der ein­zi­ge Grund weib­li­chen Han­delns ist. Sie be­gann, die­ses Haar lang­sam um einen sei­ner Knöp­fe zu wi­ckeln. Dann wi­ckel­te sie ein an­de­res Haar um den nächs­ten Knopf und so wei­ter, bis an je­dem Knopf ein Haar hing.

Soll­te er nun auf­ste­hen, so wür­de er sie alle her­aus­rei­ßen. Er wür­de ihr weh tun. Wel­ches Glück! Er wür­de, ohne es zu wis­sen, et­was von ihr her­um­tra­gen, eine klei­ne Lo­cke ih­res Haa­res, um die er nie­mals ge­be­ten hat­te. Es wür­de ein Band sein, mit dem sie sich an ihm fest­hal­ten wür­de, ein ge­hei­mes, un­sicht­ba­res Band, ein Ta­lis­man, den er bei sich tra­gen müss­te, ohne es zu wol­len. Er wür­de an sie den­ken, von ihr träu­men und viel­leicht sie tags dar­auf et­was mehr lie­ben.

Plötz­lich sag­te er:

»Ich muss dich gleich ver­las­sen, weil man mich zum Schluss der Sit­zung in der Kam­mer er­war­tet. Ich darf in kei­nem Fal­le feh­len.«

Sie seufz­te:

»Ach, schon!«

Und setz­te dann hin­zu :

»Geh; aber mor­gen, mein Lieb­ling, kommst du be­stimmt zum Es­sen.«

Dann riss sie sich rasch von ihm los. Sie fühl­te auf ih­rem Kopf einen kur­z­en hef­ti­gen Schmerz, als habe man sie mit Na­deln ge­sto­chen. Ihr Herz klopf­te, sie war glück­lich, durch ihn ge­lit­ten zu ha­ben.

»Adieu«, sag­te sie.

Er nahm sie mit ei­nem mit­lei­di­gen Lä­cheln in die Arme und küss­te sie kühl auf ihre Au­gen. Doch die­se Berüh­rung hat­te sie er­regt und be­tört und sie flüs­ter­te noch­mals: »Schon?« und ihr bet­teln­der Blick deu­te­te auf das Schlaf­zim­mer, des­sen Tür of­fen stand.

Er rück­te von ihr weg und sag­te in ei­li­gem Ton:

»Ich muss gleich lau­fen, sonst kom­me ich zu spät.«

Sie hielt ihm ihre Lip­pen zum Kus­se hin; er be­rühr­te sie kaum, reich­te ihr ih­ren Son­nen­schirm, den sie zu. ver­ges­sen schi­en, und sag­te:

»Schnell, schnell, wir müs­sen uns be­ei­len, es ist schon drei Uhr vor­über!«

Sie ging vor ihm hin­aus und wie­der­hol­te:

»Mor­gen um sie­ben!«

»Mor­gen um sie­ben«, ant­wor­te­te er.

Sie trenn­ten sich; er bog nach rechts ein, sie nach links.

Du Roy ging bis zum äu­ße­ren Bou­le­vard, dann ging er lang­sam den Bou­le­vard Ma­les­her­bes ent­lang. Als er an ei­ner Ku­chen­bä­cke­rei vor­bei­kam, sah er in ei­ner Glas­scha­le im Schau­fens­ter kan­dier­te Kas­ta­ni­en. Er dach­te: »Ich wer­de ein Pfund für Clo­til­de mit­neh­men.« Er kauf­te sich ein Päck­chen voll von die­sen Früch­ten, die sie wahn­sin­nig lieb­te.

Um vier war er wie­der zu­rück und war­te­te auf sei­ne jun­ge Ge­lieb­te.

Sie ver­spä­te­te sich et­was, denn ihr Mann war auf acht Tage nach Pa­ria ge­kom­men. Sie frag­te:

»Kannst du mor­gen zum Di­ner kom­men? Er wür­de sich sehr freu­en, dich wie­der­zu­se­hen.«

»Nein, ich esse beim Chef. Wir ha­ben eine Men­ge ver­schie­de­ner po­li­ti­scher und fi­nan­zi­el­ler An­ge­le­gen­hei­ten zu be­spre­chen.«

Sie nahm ih­ren Hut ab und be­gann ihre Blu­se aus­zu­zie­hen, die ihr zu eng war.

Er zeig­te ihr das Päck­chen auf dem Ka­min:

»Ich habe für dich kan­dier­te Kas­ta­ni­en mit­ge­bracht.«

Sie klatsch­te in die Hän­de:

»Wie rei­zend! Wie lieb bist du!«

Sie nahm sie, kos­te­te eine und er­klär­te:

»Sie sind wun­der­voll. Ich füh­le, ich wer­de nicht eine üb­riglas­sen.«

Dann blick­te sie Ge­or­ges mit ei­ner sinn­li­chen Hei­ter­keit an und setz­te hin­zu:

»Du ver­wöhnst mich!«

Sie aß lang­sam die Kas­ta­ni­en und blick­te da­bei im­mer in die Tüte hin­ein, um zu se­hen, ob noch et­was üb­rig sei.

Sie sag­te:

»Komm, setz’ dich da in den Lehn­stuhl, ich will hier zu dei­nen Fü­ßen mei­ne Bon­bons knab­bern. Es wird so be­quem sein.«

Er lä­chel­te und setz­te sich hin. Sie ließ sich zwi­schen sei­nen ge­spreiz­ten Schen­keln nie­der, wie Frau Wal­ter vor­hin. Sie hob den Kopf zu ihm em­por und sprach mit vol­lem Mun­de:

»Du weißt es noch nicht, mein Lieb­ling, ich habe von dir ge­träumt. Ich träum­te, wir mach­ten bei­de eine lan­ge Rei­se auf ei­nem Ka­mel. Es hat­te zwei Hö­cker, wir sa­ßen je­der ritt­lings auf ei­nem Hö­cker und wir rit­ten durch die Wüs­te. Wir hat­ten But­ter­bro­te und eine Fla­sche Wein mit und wir früh­stück­ten auf den bei­den Hö­ckern. Mich lang­weil­te das, weil wir et­was an­de­res nicht tun konn­ten, wir sa­ßen zu weit von­ein­an­der ent­fernt. Ich woll­te run­ter…«

»Ich will auch run­ter«, er­wi­der­te er.

Er lach­te, amü­sier­te sich über die Ge­schich­ten, ließ sie Un­sinn re­den, alle mög­li­chen Kin­de­rei­en und zärt­li­che Al­bern­hei­ten schwat­zen. Die­ses al­les fand er ent­zückend im Mun­de Ma­da­me de Ma­rel­les, wäh­rend das­sel­be im Mun­de Frau Wal­ters ihn zur Verzweif­lung ge­bracht hät­te.

Clo­til­de nann­te ihn auch: »Mein Lieb­ling«, »mein Klei­ner«, »mein Kätz­chen«. Die­se Wor­te schie­nen ihm süß und lieb­ko­send zu sein. Wenn sie aber die an­de­re vor­hin ge­brauch­te, wur­de er ner­vös und wü­tend. Denn Lie­bes­wor­te, die stets die­sel­ben sind, neh­men be­kannt­lich den Ge­schmack der Lip­pen an, die sie aus­spre­chen.

Aber trotz­dem ihn die­se Toll­hei­ten er­hei­ter­ten, dach­te er im­mer­fort an die 70000 Fran­cs, die er ge­win­nen soll­te, und plötz­lich un­ter­brach er das Ge­schwätz sei­ner Freun­din, in­dem er ihr mit dem Fin­ger zwei leich­te Klap­se auf den Kopf gab.

»Hör’ mal zu, mein Schatz, ich will dir einen Auf­trag für dei­nen Mann ge­ben. Sage ihm von mir, er sol­le sich mor­gen für 10000 Fran­cs Marok­ko­an­lei­hen kau­fen. Sie steht auf 72; und ich kann ihn ver­si­chern, dass er bin­nen drei Mo­na­ten 60- bis 80000 Fran­cs ver­die­nen wird. Er soll dar­über aber ab­so­lu­tes Still­schwei­gen be­wah­ren. Sag’ ihm von mir, dass die Tan­ger­ex­pe­di­ti­on schon be­schlos­sen ist und dass der fran­zö­si­sche Staat die ma­rok­ka­ni­sche An­lei­he ga­ran­tie­ren wird. Sag’ den an­de­ren aber kein Wort. Es ist näm­lich ein Staats­ge­heim­nis, das ich dir an­ver­traue.«

Sie hör­te ernst zu, dann sag­te sie lei­se:

»Ich dan­ke dir, ich wer­de es mei­nem Man­ne heu­te Abend be­stel­len. Du kannst dich auf ihn ver­las­sen, er wird nicht dar­über schwat­zen. Er ist ein sehr zu­ver­läs­si­ger Mensch. Du kannst ru­hig sein.«

In­zwi­schen hat­te sie alle Kas­ta­ni­en auf­ge­ges­sen, zer­knüll­te die Tüte und warf sie in den Ka­min. Dann sag­te sie:

»Komm, wir wol­len zu Bett.«

Und ohne auf­zu­ste­hen, be­gann sie Ge­or­ges Wes­te auf­zu­knöp­fen.

Plötz­lich hielt sie inne und zog mit zwei Fin­gern ein lan­ges Haar aus sei­nem Knopf­loch her­aus. Sie lach­te:

»Halt! Du hast ein Haar von Ma­de­lei­ne mit­ge­bracht, du bist aber ein treu­er Ehe­gat­te.«

Dann wur­de sie wie­der ernst und prüf­te lan­ge auf der Hand den kaum sicht­ba­ren Fa­den, den sie ge­fun­den hat­te.

»Es ist nicht von Ma­de­lei­ne, es ist schwarz.«

Er lä­chel­te.

»Dann stammt es si­cher von dem Stu­ben­mäd­chen.«

Doch sie un­ter­such­te die Wes­te mit dem schar­fen Blick ei­nes Po­li­zis­ten und sie fand ein zwei­tes Haar, das um einen Knopf ge­wi­ckelt war, dann ein drit­tes; sie wur­de bleich und rief zit­ternd aus:

»Oh, du hast mit ei­ner Frau ge­schla­fen, die dir ihre Haa­re um dei­ne Knöp­fe be­fes­tigt hat.«

Er war er­staunt und stam­mel­te:

»Aber nein, du bist ver­rückt!«

Auf ein­mal fiel es ihm ein, er be­griff es; nun wur­de er ver­le­gen, dann leug­ne­te er la­chend, denn er war im Grun­de gar nicht böse, dass sie es ahn­te, dass er Glück bei an­de­ren Frau­en hat­te.

Sie such­te im­mer wei­ter und fand Haa­re, die sie mit ei­ner schnel­len Be­we­gung ab­wi­ckel­te und dann auf den Tep­pich warf.

Mit ih­rem fei­nen, schlau­en Frauen­in­stinkt hat­te sie die Wahr­heit er­ra­ten, und sie stam­mel­te ra­send vor Wut und mit Trä­nen in den Au­gen:

»Sie liebt dich, die da …, sie woll­te, du soll­test et­was von ihr her­um­tra­gen… Oh! Du bist treu­los!«

Aber dann stieß sie einen Schrei aus, einen gel­len­den ner­vö­sen Freu­den­schrei:

»Oh! … Oh! es ist eine Alte … da ist ein wei­ßes Haar … Ach, du nimmst dir jetzt alte Wei­ber? … Du lässt dich da­für be­zah­len? Zah­len sie viel? Ha! Du bist auf alte Wei­ber scharf! … Dann brauchst du mich nicht mehr … Be­hal­te dir die an­de­re!«

Sie stand auf und griff nach ih­rer Blu­se, die auf ei­nem Stuhl her­um­lag, und zog sie has­tig an.

Er woll­te sie zu­rück­hal­ten; er fühl­te sich be­schämt und stam­mel­te:

»Aber nein … Clo … du bist dumm … ich weiß nicht, wo­her es kommt … höre mal … blei­be doch hier … komm … geh nicht fort!«

Sie wie­der­hol­te:

»Be­hal­te dein al­tes Weib … be­hal­te sie … lass dir aus ih­ren Haa­ren einen Ring ma­chen … aus den wei­ßen Haa­ren … du hast ge­nug da­von da …«

Mit jä­hen und schrof­fen Be­we­gun­gen hat­te sie sich schnell an­ge­zo­gen, den Hut auf­ge­setzt und ih­ren Schlei­er um­ge­bun­den. Er woll­te sie fest­hal­ten; mit ei­nem hef­ti­gen Schwung gab sie ihm eine Ohr­fei­ge, und wäh­rend er be­tört da­stand, öff­ne­te sie die Tür und eil­te da­von.

So­bald er al­lein, er­griff ihn eine ra­sen­de Wut ge­gen die alte Schach­tel, die Mama Wal­ter. Oh, jetzt wür­de er sie füh­len las­sen, und zwar gründ­lich. Er kühl­te sich sei­ne rote Wan­ge mit Was­ser. Dann ging er auch hin­aus und über­leg­te sich sei­ne Ra­che. Die­ses Mal wür­de er es ihr nicht ver­zei­hen. Nie im Le­ben!

Er ging lang­sam den Bou­le­vard her­un­ter und blieb vor ei­nem Ju­we­lier­la­den ste­hen. Er be­trach­te­te im Schau­fens­ter einen Chro­no­me­ter, den er sich schon lan­ge wünsch­te. Er kos­te­te 1800 Fran­cs.

Plötz­lich be­gann sein Herz vor Freu­de zu klop­fen und er dach­te: »Wenn ich die 70000 Fran­cs ver­die­ne, kann ich es be­zah­len.« Und er be­gann zu träu­men, was er al­les mit sei­nen 70000 Fran­cs tun könn­te.

Zu­nächst wür­de er sich zum Ab­ge­ord­ne­ten wäh­len las­sen, dann wür­de er sich den Chro­no­me­ter kau­fen, er wür­de an der Bör­se spie­len und dann … und dann noch … Er woll­te nicht auf die Re­dak­ti­on ge­hen, er zog es vor, mit Ma­de­lei­ne die Sa­che zu be­spre­chen, be­vor er Wal­ter wie­der sah und sei­nen Ar­ti­kel schrieb, und so schlug er den Weg nach Hau­se ein.

Als er die Rue Drouot er­reich­te, blieb er plötz­lich ste­hen. Er hat­te ver­ges­sen, sich nach dem Be­fin­den des Gra­fen de Vau­drec zu er­kun­di­gen; er wohn­te in der Chaus­see d’Au­tin. Er kehr­te lang­sam um und dach­te in glück­li­cher Träu­me­rei an tau­send an­ge­neh­me und schö­ne Sa­chen, an den kom­men­den Reich­tum, an den Trot­tel Lar­oche und an die alte Hexe, die Frau Di­rek­tor. Üb­ri­gens mach­te ihm Clo­til­des Zorn wei­ter kei­ne Sor­ge, denn er wuss­te wohl, dass sie ihm bald ver­zei­hen wür­de.

Im Hau­se, wo Graf de Vau­drec wohn­te, frag­te er den Por­tier:

»Wie geht es dem Gra­fen? Ich hör­te, dass er die letz­ten Tage krank war?«

»Dem Herrn Gra­fen geht es sehr schlecht, mein Herr«, be­kam er zur Ant­wort. »Man glaubt, dass er die Nacht nicht über­le­ben wird. Die Gicht ist ihm bis ans Herz ge­stie­gen.«

Du Roy war so be­trof­fen, dass er nicht wuss­te, was er an­fan­gen soll­te! Vau­drec am Ster­ben! Wir­re Ge­dan­ken schos­sen ihm durch den Kopf, die er sich selbst nicht zu ge­ste­hen wag­te.

Er mur­mel­te:

»Dan­ke … ich wer­de wie­der­kom­men.«

Aber er ver­stand gar nicht, was er sag­te. Dann nahm er eine Drosch­ke und fuhr nach Hau­se.

Sei­ne Frau war da. Er stürz­te in ihr Zim­mer und sag­te:

»Weißt du das nicht, Vau­drec liegt im Ster­ben!«

Sie hob ihre Au­gen vom Brief, den sie ge­le­sen hat­te und stam­mel­te:

»Was sagst du? … Du sagst? … Du sagst? …«

»Ich sage, dass der Vau­drec stirbt. Die Gicht ist ihm bis ans Herz ge­stie­gen.«

Dann füg­te er hin­zu:

»Was denkst du zu tun?«

Sie stand auf, lei­chen­blass, vor Er­re­gung; über ihre Wan­gen lief ein ner­vö­ses Zit­tern. Dann fing sie an zu schluch­zen und barg ihr Ge­sicht in die Hän­de. Sie stand da, wei­nend, das Herz zer­ris­sen vor Verzweif­lung.

»Ich … ich gehe«, sag­te sie end­lich. »Küm­me­re dich nicht um mich … ich weiß nicht, wann ich zu­rück sein wer­de … war­te nicht auf mich …«

»Gut,« sag­te er, »gehe!«

Sie drück­ten sich die Hän­de, und sie ging so schnell, dass sie ver­gaß, ihre Hand­schu­he mit­zu­neh­men.

Nach dem Es­sen setz­te sich Ge­or­ges hin und schrieb einen Ar­ti­kel. Er schrieb ihn ge­nau so, wie der Mi­nis­ter es ha­ben woll­te, und deu­te­te an, dass die Ex­pe­di­ti­on nach Marok­ko nicht statt­fin­den wür­de. Dann brach­te er das Ma­nu­skript auf die Re­dak­ti­on, plau­der­te da mit sei­nem Chef und mit leich­tem, freu­di­gem Her­zen ging er fort. Wes­we­gen ihm so zu­mu­te war, konn­te er nicht er­grün­den. Sei­ne Frau war noch nicht zu­rück. Er leg­te sich zu Bett und schlief ein.

Es war ge­gen Mit­ter­nacht, als Ma­de­lei­ne zu­rück­kam. Ge­or­ges wach­te plötz­lich auf und setz­te sich im Bett auf.

»Nun?« frag­te er.

Er hat­te sie noch nie so bleich und so er­regt ge­se­hen.

»Er ist tot«, flüs­ter­te sie.

»Ah! Und … er hat dir nichts ge­sagt?«

»Nein, nichts. Als ich kam, hat­te er das Be­wusst­sein ver­lo­ren.«

Ge­or­ges dach­te nach. Tau­send Fra­gen gin­gen ihm durch den Kopf, die er nicht zu stel­len wag­te.

»Leg’ dich hin«, sag­te er.

Sie zog sich aus und leg­te sich ne­ben ihn.

Er frag­te:

»War je­mand von den Ver­wand­ten da?«

»Nur ein Nef­fe.«

»So. Hat er ihn oft ge­se­hen?«

»Nie­mals. Sie ha­ben sich seit zehn Jah­ren nicht ge­se­hen.«

»Hat­te er noch an­de­re Ver­wand­te?«

»Nein, ich glau­be nicht.«

»Dann … die­ser Nef­fe wird wohl al­les er­ben?«

»Ich weiß es nicht!«

»War er reich, der Vau­drec?«

»Ja, sehr reich.«

»Weißt du, was er un­ge­fähr be­ses­sen hat?«

»Nein, nicht ge­nau. Vi­el­leicht eine oder zwei Mil­lio­nen.«

Er sag­te nichts mehr. Sie lösch­te das Licht aus. Sie la­gen wach, in Ge­dan­ken ver­sun­ken ne­ben­ein­an­der. Er konn­te nicht mehr schla­fen. Die ver­spro­che­nen 70000 Fran­cs von Frau Wal­ter ka­men ihm un­be­deu­tend vor. Plötz­lich war es ihm, als ob Ma­de­lei­ne wein­te. Um sich zu ver­ge­wis­sern, frag­te er:

»Schläfst du?«

»Nein«, ant­wor­te­te sie mit ei­ner wei­chen, zit­tern­den Stim­me.

»Ich hab’ ver­ges­sen, dir zu sa­gen,« fuhr er wei­ter fort, »dass dein Mi­nis­ter uns rein­ge­legt hat.«

»Wie­so denn?«

Und er er­zähl­te ihr aus­führ­lich die Ge­schich­te, die zwi­schen Lar­oche und Wal­ter vor­be­rei­tet wor­den ist.

Als er zu Ende war, frag­te sie:

»Wo­her weißt du denn das?«

»Du wirst mir wohl ge­stat­ten, dir die­ses zu ver­schwei­gen«, ant­wor­te­te er. »Du hast dei­ne Quel­len, de­nen ich nicht nach­for­sche, ich die mei­ni­gen, und möch­te auch dar­über kei­ne Re­chen­schaft ab­le­gen. Ich ver­ant­wor­te je­den­falls die Rich­tig­keit mei­ner Nach­richt.«

»Ja,« sag­te sie, »es kann schon stim­men. Ich ver­mu­te­te, dass sie et­was ohne uns vor­be­rei­te­ten.«

Ge­or­ges, der nicht ein­schla­fen konn­te, nä­her­te sich sei­ner Frau und küss­te ihr lei­se das Ohr. Sie wies ihn leb­haft ab:

»Bit­te, lass mich in Frie­den«, sag­te sie. »Ja, ich bin heu­te wirk­lich nicht zu Kin­de­rei­en auf­ge­legt!«

Er ant­wor­te­te nichts, dreh­te sich zur Wand, schloss die Au­gen und schlief all­mäh­lich ein.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Подняться наверх