Читать книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant - Страница 30

II.

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»Bit­te, wo wohnt hier Herr Fo­res­tier?«

»Im drit­ten Stock links.«

Der Con­cier­ge gab die­se Aus­kunft mit freund­li­chem Ton, aus dem Hochach­tung vor dem Mie­ter zu ent­neh­men war.

Ge­or­ge Du­roy stieg die Trep­pe hin­auf. Er war ein we­nig ver­le­gen, et­was schüch­tern und fühl­te sich nicht sehr be­hag­lich. Zum ers­ten Male in sei­nem Le­ben trug er einen Frack, und das gan­ze Zu­be­hör die­ser Klei­dung stör­te ihn. Er fühl­te, dass vie­les an ihm de­fekt war. Sei­ne Stie­fel sa­hen ziem­lich ele­gant aus, denn er hielt auf gute Fuß­be­klei­dung, wa­ren aber kei­ne Lack­schu­he. Das Hemd hat­te er sich erst vor­mit­tags für vier Fran­cs fünf­zig im Lou­vre ge­kauft, und der schma­le, ge­stick­te Bru­stein­satz sah schon jetzt zer­knit­tert aus. Üb­ri­gens wa­ren die an­de­ren Ober­hem­den, die er sonst trug, alle mehr oder we­ni­ger be­schä­digt und konn­ten über­haupt nicht in Fra­ge kom­men. Die Ho­sen wa­ren ihm viel zu breit, sie pass­ten sich schlecht der Be­in­form an und schlu­gen über der Wade häss­li­che Fal­ten. Man sah es ih­nen an, dass sie ab­ge­nutzt und für einen an­de­ren zu­ge­schnit­ten wa­ren. Nur der Frack saß gut, denn er hat­te einen ge­fun­den, der rich­tig zu sei­ner Fi­gur pass­te.

Lang­sam stieg er die Trep­pe hin­auf. Vor Angst poch­te ihm sein Herz. Vor al­lem quäl­te ihn die Furcht, lä­cher­lich zu er­schei­nen. Plötz­lich sah er ge­ra­de vor sich einen Herrn in großer Toi­let­te, der ihn be­trach­te­te. Sie stan­den so dicht bei­ein­an­der, dass Du­roy un­will­kür­lich einen Schritt zu­rück­trat. Dann blieb er ver­blüfft ste­hen: es war sein ei­ge­nes Spie­gel­bild in ei­nem ho­hen Wand­spie­gel, der im Flur des ers­ten Stockes eine lan­ge Per­spek­ti­ve vor­täusch­te. Er zit­ter­te vor lau­ter Freu­de, nie hät­te er ge­dacht, dass er so vor­nehm und ele­gant aus­se­hen könn­te. Zu Hau­se, in sei­nem klei­nen Ra­sier­spie­gel, dem ein­zi­gen, den er be­saß, hat­te er sich nicht rich­tig be­trach­ten kön­nen und war nach ei­nem flüch­ti­gen Blick über die Män­gel sei­ner im­pro­vir­sier­ten Ge­sell­schaft­stoi­let­te au­ßer sich ge­ra­ten. Der Ge­dan­ke, lä­cher­lich zu er­schei­nen, mach­te ihn ver­rückt. Als er sich aber plötz­lich in dem Spie­gel er­blick­te, hat­te er sich nicht ein­mal er­kannt, er hat­te sich für einen an­de­ren ge­hal­ten, für einen Herrn aus bes­ter Ge­sell­schaft, den er beim ers­ten An­blick für sehr ele­gant und schick hielt. Und jetzt, wo er sich sorg­fäl­tig be­trach­te­te, fand er, dass die Ge­samt­wir­kung tat­säch­lich zu­frie­den­stel­lend war.

Da­rauf stu­dier­te er sei­ne Hal­tung, wie ein Schau­spie­ler, der sei­ne Rol­le lernt. Er lä­chel­te sich zu, reich­te sich sel­ber die Hand, mach­te ver­schie­de­ne Ge­bär­den, ver­such­te sich ein­zel­ne Ge­müts­be­we­gun­gen vor­zu­spie­len: Er­stau­nen, Freu­de, Bei­fall; er be­ob­ach­te­te die Nuan­cen des Lä­chelns und stu­dier­te die stum­me Spra­che der Bli­cke, um sich bei Da­men be­liebt zu ma­chen und ih­nen an­zu­deu­ten, dass er sie liebt und be­wun­dert.

Eine Tür ging im Trep­pen­flur auf. Er fürch­te­te, über­rascht zu wer­den, und lief has­tig hin­auf, aus Angst, dass ihn ein Gast sei­nes Freun­des so ge­se­hen hät­te, wie er sich selbst Fa­xen vor­mach­te. Er er­reich­te den zwei­ten Stock, be­merk­te einen an­de­ren Spie­gel und mä­ßig­te sei­ne Schrit­te, um sich im Vor­bei­ge­hen wie­der ge­nau be­ob­ach­ten zu kön­nen. Sei­ne Er­schei­nung kam ihm jetzt wirk­lich ele­gant vor. Sein Auf­tre­ten und sei­ne Hal­tung wa­ren gut. Und ein maß­lo­ses Selbst­ver­trau­en und Über­mut er­füll­ten sei­ne See­le. Ja, mit die­sem Äu­ße­ren und mit dem fes­ten Wil­len, vor­wärts zu kom­men, mit sei­ner rück­sichts­lo­sen Ener­gie und sei­nem un­ab­hän­gi­gen Ver­stand muss­te er Glück ha­ben. Die Trep­pe zum drit­ten Stock wäre er am liebs­ten hin­auf­ge­sprun­gen. Vor dem drit­ten Spie­gel blieb er noch­mals ste­hen, dreh­te ge­wohn­heits­mä­ßig den Schnurr­bart, nahm sei­nen Zy­lin­der­hut ab, um sei­ne Fri­sur glatt zu strei­chen und mur­mel­te mit halb­lau­ter Stim­me: »Ein glän­zen­der Ein­fall.« Dann streck­te er die Hand aus und klin­gel­te.

Die Tür ging fast im sel­ben Mo­ment auf und er be­fand sich vor ei­nem ernst­haf­ten, glat­tra­sier­ten Die­ner in schwar­zem Frack, der eine so ta­del­lo­se Hal­tung zeig­te, dass Du­roy, ohne zu be­grei­fen wes­halb, von Neu­em die­sel­be un­er­klär­li­che Un­si­cher­heit und Ver­le­gen­heit fühl­te; viel­leicht durch den un­be­wuss­ten Ver­gleich der Schnit­te ih­rer An­zü­ge her­vor­ge­ru­fen. Die­ser Die­ner, der Lack­schu­he trug, nahm Du­roy den Über­zie­her ab, den die­ser auf dem Arm ge­tra­gen hat­te, da­mit die Fle­cke nicht all­zu sicht­bar wa­ren, und frag­te ihn:

»Wen darf ich mel­den?«

Dann hob er den Tür­vor­hang und rief den Na­men in den Sa­lon hin­ein.

Aber Du­roy ver­ließ plötz­lich alle sei­ne Wür­de. Er fühl­te sich vor Furcht ge­lähmt und at­me­te schwer. Er stand jetzt an der Schwel­le ei­nes neu­en Le­bens, von dem er ge­träumt und auf das er ge­hofft hat­te.

Trotz­dem ging er wei­ter. Eine jun­ge, blon­de Dame stand ganz al­lein in ei­nem großen hel­ler­leuch­te­ten Zim­mer, das vol­ler Topf­pflan­zen war, wie ein Treib­haus.

Ganz au­ßer Fas­sung ge­bracht, blieb er plötz­lich ste­hen. Wer war die­se Dame, die ihn lä­chelnd er­war­te­te? Dann fiel ihm ein, dass Fo­res­tier ver­hei­ra­tet war, und der Ge­dan­ke, dass die­se hüb­sche, ele­gan­te Blon­di­ne die Frau sei­nes Freun­des war, ver­blüff­te ihn vollends.

Er mur­mel­te:

»Ma­da­me, ich bin …«

Sie reich­te ihm die Hand.

»Ich weiß es, mein Herr. Charles hat mir er­zählt, wie er Sie ges­tern ge­trof­fen hat, und ich bin sehr froh, dass er den gu­ten Ein­fall hat­te, Sie heu­te zum Di­ner ein­zu­la­den.«

Er er­rö­te­te bis an die Ohren und wuss­te ab­so­lut nicht, was er er­wi­dern soll­te. Er fühl­te sich be­ob­ach­tet, von Kopf bis zu den Fü­ßen ge­mus­tert, ab­ge­schätzt, ge­wo­gen. Er hat­te Lust, sich zu ent­schul­di­gen, einen Grund zu er­fin­den, um die Nach­läs­sig­keit sei­ner Klei­dung zu er­klä­ren, aber er fand kei­nen, und wag­te es nicht, die­sen hei­klen Punkt zu be­rüh­ren. Er setz­te sich in einen Arm­ses­sel, den sie ihm an­bot, und als er un­ter sich den wei­chen und elas­ti­schen Samt des Pols­ters fühl­te, als des­sen Sei­ten­leh­nen ihn wie ein Paar zärt­li­cher Arme um­fin­gen, da war es ihm, als sei er jetzt end­lich in ein neu­es, reiz­vol­les Le­ben ge­tre­ten, als hät­te er was Kost­ba­res er­obert, als sei er nun end­lich et­was ge­wor­den; und er be­trach­te­te Frau Fo­res­tier, de­ren Bli­cke un­ver­wandt auf ihm ruh­ten. Sie trug ein hell­blau­es Kasch­mir­kleid, das ihre bieg­sa­me Fi­gur und ihre vol­le Brust zur Gel­tung brach­te. Durch die wei­ßen Spit­zen, mit de­nen der Kra­gen und die kur­z­en Är­mel be­setzt wa­ren, schim­mer­te das Fleisch ih­rer Arme und ih­res Bu­sens, und die Haa­re, die auf dem Schei­tel zu­sam­men­ge­nom­men wa­ren und sich im Na­cken leicht kräu­sel­ten, bil­de­ten eine leich­te Flaum­wol­ke über dem Hal­se.

Ihre Bli­cke be­ru­hig­ten Du­roy, sie er­in­ner­ten ihn, ohne dass er wuss­te warum, an den Blick des Mäd­chens, das er ges­tern in den Fo­lies Ber­gè­re ge­trof­fen hat­te. Ma­da­me Fo­res­tier hat­te blau­graue Au­gen, von ei­nem selt­sa­men Aus­druck, eine schma­le Nase, star­ke Lip­pen, ein et­was flei­schi­ges Kinn und un­re­gel­mä­ßi­ge, ver­füh­re­ri­sche Ge­sichts­zü­ge voll An­mut, Lie­bens­wür­dig­keit und List. Es war eins von die­sen Ge­sich­tern, die mit je­der Li­nie einen be­son­de­ren Reiz und Schön­heit aus­drücken und die mit je­der Be­we­gung et­was zu sa­gen oder zu ver­ber­gen schei­nen. Nach ei­ner kur­z­en Pau­se frag­te sie ihn:

»Sind Sie schon lan­ge in Pa­ris?«

Er ge­wann all­mäh­lich sei­ne Selbst­be­herr­schung wie­der:

»Seit ei­ni­gen Mo­na­ten erst, Ma­da­me. Ich bin bei der Ei­sen­bahn an­ge­stellt, aber Ihr Gat­te hat­te mir die Hoff­nung ge­macht, ich könn­te mit sei­ner Hil­fe Jour­na­list wer­den.«

Sie hat­te ein noch aus­drucks­vol­le­res und wohl­wol­len­de­res Lä­cheln und mur­mel­te mit lei­ser Stim­me:

»Ich weiß.«

Es klin­gel­te von Neu­em und der Die­ner mel­de­te: »Ma­da­me de Ma­rel­le.«

Es war eine klei­ne Brü­net­te, die mit flin­ken Be­we­gun­gen ein­trat. Ihre Ge­stalt schi­en von Kopf bis zu den Fü­ßen in ih­rem ganz ein­fa­chen dunklen Klei­de her­vor­zu­tre­ten. Nur eine rote Rose, die sie sich ins Haar ge­steckt hat­te, zog ge­walt­sam das Auge an. Sie un­ter­strich den Cha­rak­ter ih­res Aus­se­hens, sie be­ton­te ihr ei­gen­ar­ti­ges We­sen und gab ihr den leb­haf­ten, schnel­len Aus­druck, der zu ihr pass­te. Ein klei­nes Mäd­chen in kur­z­em Klei­de folg­te ihr. Ma­da­me Fo­res­tier eil­te ihr ent­ge­gen:

»Gu­ten Tag, Clo­til­de.«

»Gu­ten Tag, Ma­de­lei­ne.«

Sie um­arm­ten sich. Dann hielt das Kind sei­ne Stirn zum Kus­se hin, mit der Si­cher­heit ei­ner Er­wach­se­nen und sag­te:

»Gu­ten Tag, Cou­si­ne.«

Ma­da­me Fo­res­tier gab ihr einen Kuss und stell­te dann vor:

»Mon­sieur Ge­or­ges Du­roy, ein gu­ter Freund von Charles, — Ma­da­me de Ma­rel­le, mei­ne Freun­din und Ver­wand­te.«

Sie füg­te hin­zu:

»Sie wis­sen, wir sind hier ganz ein­fach un­ter uns, ohne Fei­er­lich­keit und Zwang. Das ist selbst­ver­ständ­lich, nicht wahr?«

Der jun­ge Mann ver­beug­te sich.

Doch die Tür ging von Neu­em auf und ein ganz klei­ner, runder, di­cker Herr er­schi­en. Er führ­te am Arm eine große, schö­ne Frau, grö­ßer als er selbst, viel jün­ger, mit vor­neh­mem Be­neh­men und erns­tem We­sen. Das war Herr Wal­ter, De­pu­tier­ter, Finan­zier, Geld- und Ge­schäfts­mann, ein süd­fran­zö­si­scher Jude, Di­rek­tor der Vie Françai­se, und sei­ne Frau, ge­bo­re­ne Ba­si­le-Ra­valau, die Toch­ter des Ban­kiers glei­chen Na­mens. Dann ka­men gleich nach­ein­an­der der ele­gan­te Jaques Ri­val und Nor­bert de Va­ren­ne, des­sen Rock­kra­gen un­ter der ste­ten Berüh­rung der lan­gen Dich­ter­mäh­ne glänz­te, die bis an die Schul­ter reich­te und die­se mit klei­nen wei­ßen Schup­pen be­deck­te.

Sei­ne schlecht ge­bun­de­ne Kra­wat­te schi­en er nicht das ers­te Mal zu tra­gen. Mit der Gra­zie ei­nes ga­lan­ten al­ten Herrn küss­te er Frau Fo­res­tier auf das Hand­ge­lenk und sein lan­ges Haar fiel da­bei wie ein Was­ser­fall auf den nack­ten Arm der jun­gen Dame. Nun er­schi­en auch der Haus­herr und ent­schul­dig­te sich für sein spä­tes Er­schei­nen. Er sei je­doch in der Re­dak­ti­on durch den Fall Mo­rel zu­rück­ge­hal­ten wor­den. Der ra­di­ka­le Ab­ge­ord­ne­te Mo­rel hat­te so­eben den Mi­nis­ter we­gen ei­ner Kre­dit­for­de­rung für die Ko­lo­ni­sie­rung Al­giers in­ter­pel­liert.

Der Die­ner mel­de­te: »Es ist an­ge­rich­tet!«

Man ging in das Spei­se­zim­mer.

Du­roy saß bei Tisch zwi­schen Ma­da­me de Ma­rel­le und ih­rer Toch­ter. Er fühl­te sich von Neu­em ver­le­gen, weil er fürch­te­te, ir­gend­ei­nen Irr­tum in der rich­ti­gen Hand­ha­bung von Ga­bel, Löf­fel oder Glä­sern zu be­ge­hen. Vier Glä­ser stan­den vor ihm, von de­nen eins et­was matt bläu­lich war. Was moch­te man wohl aus die­sem trin­ken? Wäh­rend der Sup­pe herrsch­te Schwei­gen, dann frag­te Nor­bert de Va­ren­ne:

»Ha­ben Sie den Pro­zess Gau­thier ge­le­sen?«

Und nun re­de­te man hin und her über die­sen Ehe­bruchss­kan­dal, der durch eine Er­pres­sung be­son­ders ver­wi­ckelt war. Man sprach nicht dar­über, wie man im Fa­mi­li­en­kreis über Er­eig­nis­se spricht, die in den Zei­tun­gen ste­hen, son­dern wie man un­ter Ärz­ten über Krank­hei­ten, un­ter Obst­händ­lern über Früch­te spricht. Man war nicht ent­rüs­tet oder er­staunt über die Tat­sa­chen, man forsch­te nur mit ei­ner be­ruf­li­chen Sorg­falt und mit voll­stän­di­ger Gleich­gül­tig­keit ge­gen­über dem Ver­bre­chen selbst, nach des­sen tiefe­ren, ver­bor­ge­nen Ur­sa­chen. Man such­te ein­fach die Mo­ti­ve der Hand­lung zu er­klä­ren, all die psy­chi­schen Vor­gän­ge, die die­ses Dra­ma ver­an­lasst hat­ten; es war so­zu­sa­gen das wis­sen­schaft­li­che Re­sul­tat ei­ner be­son­de­ren Geis­tes­ver­fas­sung. Auch die Da­men nah­men an die­ser Un­ter­su­chung regs­ten An­teil.

Es wur­den dann noch an­de­re Er­eig­nis­se dis­ku­tiert, be­spro­chen, von al­len Sei­ten be­leuch­tet und nach ih­rer Wich­tig­keit be­ur­teilt mit dem schar­fen, prak­ti­schen Sinn der Zei­tungs­men­schen, der Nach­rich­ten­händ­ler, des zei­len­wei­sen Ver­scha­cherns der mensch­li­chen Ko­mö­die, ge­nau, wie man un­ter Kauf­leu­ten die Ge­gen­stän­de prüft und dreht und ab­schätzt, be­vor man sie dem Pub­li­kum zum Ver­kauf an­bie­tet. Dann kam das Ge­spräch auf ein Duell, und Jaques Ri­val er­griff das Wort. Das war sein Fach: nie­mand an­ders durf­te die­se Fra­ge be­han­deln.

Du­roy trau­te sich nicht, an der Un­ter­hal­tung teil­zu­neh­men. Er be­trach­te­te ein paar­mal sei­ne Nach­ba­rin, de­ren üp­pi­ger Bu­sen ihn er­reg­te. An ih­rem Ohr hing ein Dia­mant, der durch einen dün­nen Gold­fa­den ge­hal­ten wur­de, wie ein Was­ser­trop­fen, der über das Fleisch ge­glit­ten war. Von Zeit zu Zeit mach­te sie eine Be­mer­kung, die stets ein Lä­cheln auf ih­ren Lip­pen her­vor­rief. Sie hat­te einen wit­zi­gen, lie­bens­wür­di­gen, schnell auf­fal­len­den Esprit, den Esprit ei­nes al­les wis­sen­den Gas­sen­jun­gen, der die Din­ge mit Gleich­mut be­trach­tet und mit leich­tem, lus­ti­gem Spott über sie hin­weg­geht.

Du­roy ver­such­te ver­geb­lich, ihr ir­gend­ein Kom­pli­ment zu sa­gen, und da er nichts fand, be­schäf­tig­te er sich mit ih­rer Toch­ter; er goss ihr Wein ein, hielt ihr die Schüs­sel, be­dien­te sie und er­wies sich als auf­merk­sa­mer Nach­bar. Das Kind war viel erns­ter als sei­ne Mut­ter, dank­te mit ru­hi­ger Wür­de, nick­te mit dem Kopf und sag­te:

»Sie sind sehr lie­bens­wür­dig…«, und dann lausch­te sie wie­der mit nach­denk­li­chem Ge­sichts­aus­druck der Un­ter­hal­tung der Er­wach­se­nen.

Das Es­sen war vor­treff­lich und fand all­ge­mei­nen Bei­fall. Herr Wal­ter aß wie ein hung­ri­ger Wolf, sprach fast gar nichts und be­trach­te­te un­ter sei­nem Knei­fer mit schrä­gen Bli­cken die Spei­sen, die ihm ser­viert wur­den. Nor­bert de Va­ren­ne wett­ei­fer­te mit ihm und ließ Sau­ce auf den Hemdein­satz fal­len.

Fo­res­tier über­wach­te das Gan­ze mit lä­cheln­der Auf­merk­sam­keit, er wech­sel­te von Zeit zu Zeit mit sei­ner Frau Bli­cke des Ein­ver­ständ­nis­ses, als woll­te er sa­gen: »Siehst du, un­ser schwie­ri­ges, ge­mein­sa­mes Werk klappt aus­ge­zeich­net.«

Die Ge­sich­ter wur­den rot, die Stim­men laut. Alle Au­gen­bli­cke flüs­ter­te der Die­ner den Gäs­ten ins Ohr: »Cor­ton — Château La­ro­se.«

Du­roy fand den Cor­ton nach sei­nem Ge­schmack und ließ je­des Mal sein Glas fül­len. Eine an­ge­neh­me, er­wär­me­n­de Fröh­lich­keit er­füll­te ihn, eine hei­ße Freu­de, die ihm vom Ma­gen in den Kopf stieg, durch sei­ne Adern rann und ihn ganz durch­drang. Er fühl­te sich von voll­kom­mens­tem Be­ha­gen er­füllt, von ei­nem Be­ha­gen des Le­bens und Den­kens, des Kör­pers und der See­le.

Und es über­kam ihn ein Ver­lan­gen, zu spre­chen, sich her­vor­zu­tun, ge­hört und ge­schätzt zu wer­den, wie die­se Män­ner, de­ren ge­rings­te Be­mer­kun­gen lau­ten Bei­fall fan­den.

Die Un­ter­hal­tung ging un­auf­hör­lich, sprang von ei­ner An­sicht zur an­de­ren, hat­te nun alle Er­eig­nis­se des Ta­ges er­schöpft und da­bei tau­send Fra­gen ge­streift. Dann kehr­te sie zu der großen In­ter­pel­la­ti­on des Herrn Mo­rel über die Ko­lo­ni­sa­ti­on in Al­gier zu­rück.

Herr Wal­ter mach­te zwi­schen zwei Gän­gen ein paar scherz­haf­te Be­mer­kun­gen, denn er war geist­reich und für Wit­ze ver­an­lagt. Fo­res­tier er­zähl­te über sei­nen Ar­ti­kel vom nächs­ten Tage. Jaques Ri­val ver­lang­te eine mi­li­tä­ri­sche Ver­wal­tung mit Über­las­sung von Län­de­rei­en an alle Of­fi­zie­re, die zwan­zig Jah­re im Ko­lo­ni­al­dienst ver­bracht hat­ten.

»Auf die­se Wei­se«, sag­te er, »wer­den sie eine ener­gi­sche Be­völ­ke­rung schaf­fen, die das Land seit län­ge­rer Zeit kennt und liebt, sei­ne Spra­che be­herrscht und über alle Schwie­rig­kei­ten in ko­lo­nia­len Fra­gen Be­scheid weiß, an de­nen die Neu­lin­ge un­fehl­bar stol­pern müs­sen.«

Nor­bert de Va­ren­ne un­ter­brach ihn.

»Ja … sie wer­den über al­les Be­scheid wis­sen, nur nicht über die Land­wirt­schaft. Sie wer­den Ara­bisch ver­ste­hen, aber kei­ne Ah­nung da­von ha­ben, wie man Rü­ben pflanzt oder Ge­trei­de sät. Sie wer­den stark im Fech­ten sein und schwach im Dün­gen. Nein, die­ses neue Land muss für je­der­mann of­fen sein. Die Tüch­ti­gen wer­den dann dort ih­ren Weg ma­chen, die an­de­ren ge­hen eben zu­grun­de. Das ist ein so­zia­les Ge­setz.«

Es folg­te ein kur­z­es Schwei­gen. Man lä­chel­te.

Ge­or­ge Du­roy öff­ne­te den Mund, und er­staunt über den Klang sei­ner Stim­me, als ob er sich selbst noch nie hat­te re­den hö­ren, sag­te er:

»Woran es da un­ten am meis­ten fehlt, das ist der gute Bo­den. Die wirk­lich frucht­ba­ren Län­de­rei­en kos­ten da ge­ra­de so viel wie in Frank­reich und wer­den als Ka­pi­tal­an­la­ge von rei­chen Pa­ri­sern auf­ge­kauft. Die wirk­lich ar­men Ko­lo­nis­ten, die aus­wan­dern, um Brot zu ge­win­nen, sind auf die Wüs­te an­ge­wie­sen, wo aus Man­gel an Was­ser gar nichts ge­deiht.«

Alle blick­ten ihn an; er fühl­te, wie er rot wur­de.

Herr Wal­ter frag­te: »Ken­nen Sie Al­gier, mein Herr?«

Er ant­wor­te­te: »Ja­wohl, mein Herr, ich war dort acht­und­zwan­zig Mo­na­te und habe mich in al­len drei Pro­vin­zen auf­ge­hal­ten.«

Nun frag­te ihn plötz­lich Nor­bert de Va­ren­ne, der den Fall Mo­rel ver­gaß, über die Ein­zel­hei­ten in den Sit­ten der Ein­ge­bo­re­nen, die er von ei­nem Of­fi­zier er­fah­ren hat­te. Es han­del­te sich um Mzab, eine selt­sa­me, klei­ne, ara­bi­sche Re­pu­blik in­mit­ten der Sa­ha­ra, im tro­ckens­ten Tei­le je­nes hei­ßen Erd­tei­les.

Du­roy war zwei­mal in Mzab ge­we­sen und er­zähl­te nun von den Sit­ten die­ses ei­gen­ar­ti­gen Lan­des, wo Was­ser­trop­fen Gold­wert ha­ben und je­der Be­woh­ner zu al­len öf­fent­li­chen Ar­bei­ten ver­pflich­tet ist und im Han­del und Ge­wer­be eine Ehr­lich­keit herrscht, wie man sie bei zi­vi­li­sier­ten Völ­kern in Eu­ro­pa kaum kennt.

Er sprach mit ei­nem ge­wis­sen Schwung; der Wein und der Wunsch zu ge­fal­len, trie­ben ihn an. Er er­zähl­te An­ek­do­ten aus dem Sol­da­ten­le­ben, Kriegs­ge­schich­ten und al­ler­lei klei­ne Züge aus dem Le­ben der Ara­ber. Er fand so­gar ein paar far­bi­ge Aus­drücke zur Schil­de­rung der wei­ten, gel­ben Wüs­te­ne­be­ne, die un­ter der ver­zeh­ren­den Son­nenglut in ewi­ger öde liegt. Alle Da­men hiel­ten die Au­gen auf ihn ge­rich­tet.

Frau Wal­ter mur­mel­te mit ih­rer lang­sa­men Stim­me:

»Sie könn­ten aus ih­ren Erin­ne­run­gen eine Rei­he rei­zen­der Ar­ti­kel ma­chen.«

Da­rauf­hin be­trach­te­te auch Herr Wal­ter über sei­nen Knei­fer den jun­gen Mann, wie er es im­mer tat, wenn er ein Ge­sicht wirk­lich ge­nau se­hen woll­te. Die Spei­sen sah er sich un­ter dem Knei­fer hin­weg an.

Fo­res­tier er­griff die Ge­le­gen­heit:

»Ver­ehr­ter Chef, ich er­zähl­te Ih­nen be­reits von Herrn Ge­or­ge Du­roy, und bat Sie, ihn für die po­li­ti­schen In­for­ma­tio­nen bei uns an­zu­stel­len. Seit­dem Ma­ram­bot uns ver­las­sen hat, habe ich nie­man­den für drin­gen­de und ver­trau­li­che Er­kun­di­gun­gen zur Ver­fü­gung und für die Zei­tung ist die­ser Man­gel recht be­deu­tend.«

Papa Wal­ter wur­de plötz­lich ganz ernst und nahm sei­ne Bril­le ab, um Du­roy noch ge­nau­er be­trach­ten zu kön­nen. Dann sag­te er:

»Si­cher­lich hat Herr Du­roy einen ori­gi­nel­len Ver­stand. Wenn er mich mor­gen nach­mit­tag um drei Uhr be­su­chen will, wer­den wir das be­spre­chen.«

Nach ei­ner kur­z­en Pau­se wand­te er sich di­rekt an den jun­gen Mann:

»Aber schrei­ben Sie uns so­fort eine klei­ne Rei­he von Erin­ne­run­gen über Al­gier. Er­zäh­len Sie über Ihre Ein­drücke und brin­gen Sie da­mit die Ko­lo­ni­al­fra­ge in Ver­bin­dung, so wie Sie es eben ta­ten. Es ist ak­tu­ell, höchst ak­tu­ell, und es wird un­se­ren Le­sern ohne Zwei­fel zu­sa­gen.

Aber be­ei­len Sie sich. Ich brau­che den ers­ten Ar­ti­kel schon mor­gen oder über­mor­gen, da­mit wir das Pub­li­kum be­ar­bei­ten kön­nen, so­lan­ge man dar­über in der Kam­mer de­bat­tiert.«

Frau Wal­ter füg­te mit je­ner ernst­haf­ten Lie­bens­wür­dig­keit, die sie im­mer zeig­te, noch hin­zu:

»Und Sie hät­ten einen rei­zen­den Ti­tel: ›Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­ger­s‹, nicht wahr, Herr Nor­bert?«

Der alte Dich­ter, der erst spät zu An­se­hen und Ruhm ge­kom­men war, ver­ab­scheu­te Neu­lin­ge und miss­trau­te ih­nen. Er ant­wor­te­te tro­cken:

»Ja, aus­ge­zeich­net, vor­aus­ge­setzt, dass die Ar­ti­kel auch die ent­spre­chen­de Stim­mung ha­ben wer­den, was sehr schwer sein wird. Es kommt näm­lich auf die rich­ti­ge Stim­mung an, oder mu­si­ka­lisch aus­ge­drückt, auf den Ton.«

Ma­da­me Fo­res­tier warf Du­roy einen wohl­wol­len­den, lä­cheln­den Blick zu, wie ein er­fah­re­ner Ken­ner, der sa­gen will: »Du, du wirst schon dei­nen Weg ma­chen.«

Ma­da­me de Ma­rel­le hat­te sich mehr­mals zu ihm hin­ge­dreht, und der Dia­mant in ih­rem Ohr zit­ter­te un­auf­hör­lich, als woll­te der dün­ne Was­ser­trop­fen sich ab­lö­sen und fal­len. Nur die Klei­ne blieb un­be­weg­lich und ernst und hielt den Kopf über ih­ren Tel­ler ge­beugt.

Der Die­ner ging rings um den Tisch und schenk­te Jo­han­nis­ber­ger in die matt­blau­en Glä­ser, und dann wen­de­te sich Fo­res­tier zu Herrn Wal­ter und brach­te einen Trink­spruch aus: »Auf lan­ges Ge­dei­hen der Vie Françai­se!«

Alle ver­beug­ten sich vor dem Chef, der lä­chel­te, und Du­roy, durch sei­nen Er­folg be­rauscht, leer­te sein Glas in ei­nem Zuge. Er hät­te, so war ihm zu­mu­te, ein gan­zes Fass aus­trin­ken kön­nen, er hät­te einen Och­sen auf­es­sen, einen Lö­wen er­wür­gen kön­nen. Er fühl­te über­mensch­li­che Kraft in sich, un­be­sieg­ba­re Ener­gie und un­be­grenz­te Hoff­nun­gen. Jetzt war er in­mit­ten die­ser Men­schen zu Hau­se, er hat­te sich hier eine Stel­lung ver­schafft, sei­nen Platz er­obert. Jetzt blick­te er je­dem ein­zel­nen zu­ver­sicht­lich ins Auge, und zum ers­ten Male wag­te er auch sei­ne Nach­ba­rin an­zu­spre­chen.

»Sie ha­ben die schöns­ten Ohr­rin­ge, Ma­da­me, die ich je ge­se­hen habe.«

Lä­chelnd wand­te sie sich zu ihm hin.

»Es war ein gu­ter Ein­fall von mir, die Dia­man­ten so ein­fach am Ende ei­nes Gold­fa­dens auf­zu­hän­gen. Nicht wahr, sie se­hen aus wie Tau­trop­fen?«

Ver­wirrt durch sei­ne ei­ge­ne Kühn­heit und vol­ler Angst, ob er auch nicht eine Al­bern­heit sage, mur­mel­te er:

»Ganz rei­zend … Aber an Ihren Ohren se­hen sie be­son­ders schön aus.«

Sie dank­te ihm mit ei­nem Blick, mit ei­nem je­ner of­fe­nen Frau­en­bli­cke, die bis ins Herz drin­gen.

Als er den Kopf her­um­wand­te, be­geg­ne­te er wie­der den Au­gen der Frau Fo­res­tier, die ihn noch im­mer wohl­wol­lend an­sa­hen, doch glaub­te er in ih­nen jetzt eine leb­haf­te­re Hei­ter­keit, eine lei­se Hin­ter­list und eine Er­mu­ti­gung zu le­sen.

Die Her­ren re­de­ten jetzt alle durch­ein­an­der, mit leb­haf­ten Ge­bär­den und schal­len­der Stim­me. Man be­sprach den Rie­sen­plan der Un­ter­grund­bahn. Der Ge­gen­stand war auch beim Des­sert noch nicht er­schöpft und je­der hat­te ei­ni­ge Din­ge zu sa­gen über die zu lang­sa­men Ver­bin­dun­gen in Pa­ris, über die Un­be­quem­lich­kei­ten der Stra­ßen­bahn und der Om­ni­bus­se und über die gro­be Un­ver­schämt­heit der Dro­schen­kut­scher.

Dann ver­ließ man den Spei­se­saal, um Kaf­fee zu trin­ken. Du­roy bot aus Scherz dem klei­nen Mäd­chen sei­nen Arm an, das ihm mit erns­ter Mie­ne dank­te und sich auf die Fuß­spit­zen stell­te, um ihre Hand auf den Arm des Nach­bars le­gen zu kön­nen.

Als er in den Sa­lon ein­trat, hat­te er von Neu­em das Ge­fühl, in ein Treib­haus zu kom­men. Hohe Pal­men öff­ne­ten ihre an­mu­ti­gen Fä­cher in al­len vier Ecken, stie­gen bis zur De­cke em­por und ver­brei­te­ten sich dann wie Was­ser­strah­len. Zu bei­den Sei­ten des Ka­mins stan­den zwei run­de Gum­mi­bäu­me mit ih­ren lan­gen, dun­kel­grü­nen, über­ein­an­der wach­sen­den Blät­tern, und auf dem Flü­gel prang­ten zwei ganz ori­gi­nel­le, run­de Sträu­cher, mit Blü­ten be­deckt, die einen dun­kel­ro­sa, die an­de­ren schnee­weiß. Sie sa­hen aus, als ob sie künst­lich wä­ren und zu schön, um echt zu sein.

Die Luft war an­ge­nehm frisch, von ei­nem dis­kre­ten, zar­ten Par­füm er­füllt, das man nicht nä­her be­stim­men konn­te.

Du­roy fühl­te sich jetzt be­deu­tend si­che­rer und sah sich das Zim­mer auf­merk­sam an. Es war nicht groß, und au­ßer den Sträu­chern war nichts dar­in, was den Blick be­son­ders auf sich lenk­te, kei­ne leb­haf­ten Far­ben tra­ten her­vor; man fühl­te sich ru­hig und ge­müt­lich dar­in; es um­fing den Kör­per sanft wie eine zärt­li­che Lieb­ko­sung. Die Wän­de wa­ren mit ei­nem al­ten, vio­let­ten Stoff be­spannt, mit klei­nen gelb­li­chen Pünkt­chen, die klei­ne Blüm­chen dar­stell­ten und so groß wa­ren wie eine Flie­ge. Blau­graue Tuch­por­tie­ren mit leich­ten Sti­cke­rei­en aus ro­ter Sei­de be­deck­ten die Tü­ren und Fens­ter, und durch das gan­ze Zim­mer stan­den, wahl­los ver­streut, Sitz­mö­bel in al­len For­men und Grö­ßen, Chai­se­lon­gues, große und klei­ne Fau­teuils, Puffs und Ta­bu­retts mit Louis-XVI.-Sei­de oder schö­nem Ut­rech­ter Samt be­zo­gen, mit gra­nat­far­be­nem Mus­ter auf cre­me­far­be­nem Grund.

»Neh­men Sie eine Tas­se Kaf­fee, Herr Du­roy?«

Frau Fo­res­tier reich­te ihm die vol­le Tas­se mit ei­nem freund­li­chen Lä­cheln, das ihre Lip­pen nicht ver­ließ.

»Ja, gnä­di­ge Frau, ich dan­ke Ih­nen.«

Er nahm ihr die Tas­se aus der Hand, und wäh­rend er sich ängst­lich vor­beug­te, um mit der sil­ber­nen Zan­ge ein Stück Zu­cker aus der Scha­le zu neh­men, die das klei­ne Mäd­chen hielt, sag­te die jun­ge Dame halb­laut:

»Sie müs­sen jetzt Frau Wal­ter den Hof ma­chen.«

Dann ent­fern­te sie sich, be­vor er ein Wort hat­te ant­wor­ten kön­nen.

Zu­nächst trank er sei­nen Kaf­fee aus, weil er fürch­te­te, den­sel­ben wo­mög­lich noch auf den Tep­pich zu gie­ßen. Dann fühl­te er sich et­was frei­er und such­te nach ei­ner Mög­lich­keit, sich der Frau sei­nes zu­künf­ti­gen Di­rek­tors zu nä­hern und eine Un­ter­hal­tung an­zu­knüp­fen.

Plötz­lich be­merk­te er, dass sie eine lee­re Tas­se in der Hand hielt. Sie be­fand sich ziem­lich weit von ei­nem Tisch und wuss­te nicht recht, wo sie die Tas­se hin­stel­len soll­te. Er eil­te auf sie zu.

»Ge­stat­ten Sie, Ma­da­me.«

»Ich dan­ke Ih­nen, mein Herr.«

Er trug die Tas­se fort und kam wie­der zu­rück:

»Wenn Sie wüss­ten, gnä­di­ge Frau, welch glück­li­che Stun­den mir die Vie Françai­se da un­ten in der Wüs­te be­rei­tet hat. Sie ist wirk­lich die ein­zi­ge Zei­tung, die man au­ßer­halb Frank­reichs le­sen kann, denn sie ist geist­vol­ler, li­te­ra­ri­scher und lan­ge nicht so mo­no­ton und ba­nal wie die üb­ri­gen. Man fin­det al­les, was man will.«

Sie lä­chel­te mit lie­bens­wür­di­ger Gleich­gül­tig­keit und sag­te dann ernst:

»Herr Wal­ter hat sich viel Mühe ge­ge­ben, eine sol­che Zei­tung zu schaf­fen. Sie ent­spricht dem jet­zi­gen mo­der­nen Be­dürf­nis.«

Sie be­gan­nen zu plau­dern. Er sprach leicht und ober­fläch­lich mit ei­ner reiz­vol­len Stim­me. Auch hat­te er viel An­mut im Blick und einen un­wi­der­steh­lich be­ste­chen­den Schnurr­bart. Er wir­bel­te sich kraus und al­ler­liebst auf der Lip­pe, dun­kel­blond, mit ei­nem Stich ins Röt­li­che, wäh­rend die Haar­spit­zen et­was hel­ler schim­mer­ten.

Sie un­ter­hiel­ten sich über Pa­ris und sei­ne Um­ge­bung, über die Ufer der Sei­ne, über die Ba­de­or­te, Som­mer­fri­schen und alle die­se Din­ge, über die man ohne jeg­li­che geis­ti­ge An­stren­gung end­los plau­dern kann.

Dann trat Nor­bert de Va­ren­ne mit ei­nem Li­kör­glas in der Hand her­an, und Du­roy zog sich dis­kret zu­rück.

Ma­da­me de Ma­rel­le, die sich eben mit Ma­da­me Fo­res­tier un­ter­hielt, rief ihn her­an: »Also, Sie wol­len es mit dem Jour­na­lis­mus ver­su­chen?« frag­te sie et­was schroff.

Da sprach er mit un­be­stimm­ten Wor­ten über sei­ne Plä­ne und be­gann dann mit ihr ge­nau die­sel­be Un­ter­hal­tung, die er vor­her mit Frau Wal­ter ge­führt hat­te. Jetzt, wo er den Ge­gen­stand bes­ser be­herrsch­te, zeig­te er sich et­was ge­wand­ter und wie­der­hol­te, wie aus sich her­aus, das, was er ge­ra­de ge­hört hat­te. Da­bei blick­te er sei­ner Dame fort­wäh­rend in die Au­gen, wie um sei­nen Wor­ten einen tiefe­ren Sinn zu ge­ben.

Sie er­zähl­te ihm ih­rer­seits Ge­schich­ten mit dem leb­haf­ten Ton ei­ner Frau, die weiß, dass sie geist­reich und wit­zig ist, und die im­mer lus­tig wir­ken kann. Dann wur­de sie ver­trau­lich, leg­te die Hand auf sei­nen Arm, senk­te die Stim­me, um Nich­tig­kei­ten zu sa­gen, die da­durch das Ge­prä­ge ei­ner Ver­trau­lich­keit er­hiel­ten.

Er war in­ner­lich ent­zückt, der jun­gen Frau, die sich ihm so eif­rig wid­me­te, auch kör­per­lich nahe zu sein. Am liebs­ten hät­te er um ih­ret­wil­len so­fort ir­gend­ei­ne große Tat voll­führt und ihr ge­stan­den, dass er sie schät­ze und nur des­we­gen manch­mal ver­stum­me, weil er ganz von ihr ein­ge­nom­men sei.

Aber plötz­lich rief Ma­da­me de Ma­rel­le ohne jede Ver­an­las­sung: »Lau­ri­ne!« Das klei­ne Mäd­chen kam. »Setz’ dich hier­her, mein Kind, du er­käl­test dich am Fens­ter!«

Und Du­roy emp­fand ein tol­les Ver­lan­gen, das Kind zu küs­sen, als soll­te auch die Mut­ter von die­sem Kus­se et­was ver­spü­ren. Er frag­te in ei­nem ga­lan­ten, vä­ter­li­chen Ton:

»Darf ich Sie küs­sen, klei­nes Fräu­lein?«

Das Kind sah ihn er­staunt an. Ma­da­me de Ma­rel­le sag­te la­chend: »Ant­wor­te: heu­te möch­te ich es schon, denn im­mer geht das nicht.«

Du­roy setz­te sich so­fort hin, zog Lau­ri­ne auf sein Knie und streif­te die zar­ten, wol­li­gen Haa­re des Kin­des mit den Lip­pen.

Die Mut­ter war er­staunt: »Wie, sie ist nicht da­von­ge­lau­fen? Das ist ja son­der­bar. Sonst lässt sie sich nur von Frau­en küs­sen. Sie müs­sen un­wi­der­steh­lich sein, Herr Du­roy.«

Er wur­de rot, ant­wor­te­te nichts und schau­kel­te mit ei­ner leich­ten Be­we­gung das klei­ne Mäd­chen auf den Kni­en.

Ma­da­me Fo­res­tier trat zu ihm und stieß einen Ruf des Er­stau­nens aus: »Schau, ein Wun­der, Lau­ri­ne ist ge­zähmt.«

Jaques Ri­val trat mit der Zi­gar­re im Mun­de her­an und Du­roy ver­ab­schie­de­te sich, um durch ir­gend­ein un­ge­schick­tes Wort den gu­ten Ein­druck, den er ge­macht hat­te, nicht wie­der zu zer­stö­ren und das be­gon­ne­ne Erobe­rungs­werk in Fra­ge zu stel­len.

Er ver­beug­te sich, drück­te leicht die klei­nen Frau­en­hän­de, die sich ihm ent­ge­gen­streck­ten, und schüt­tel­te kräf­tig den Her­ren die Hand. Es fiel ihm da­bei auf, dass Jaques Ri­vals Hand heiß und tro­cken war und sei­nen Druck herz­lich er­wi­der­te, wäh­rend die Hand Nor­bert de Va­ren­nes feucht und kalt war und sich kaum fas­sen ließ. Va­ter Wal­ters Hand war kühl und weich, ohne Ener­gie und Aus­druck, die Fo­res­tiers fett und warm. Sein Freund flüs­ter­te ihm zu:

»Mor­gen um drei. Ver­giss nicht!«

»O nein, sei un­be­sorgt!«

Als er sich wie­der auf der Trep­pe be­fand, war sei­ne Freu­de so groß, dass er am liebs­ten hin­ab­ge­lau­fen wäre. Er nahm im­mer zwei Stu­fen auf ein­mal.

Plötz­lich er­blick­te er in dem großen Spie­gel des zwei­ten Stockes einen über­ei­li­gen Herrn, der auf ihn zu­ge­sprun­gen kam. Be­schämt blieb er ste­hen, als hät­te man ihn auf ei­ner Dumm­heit er­tappt. Dann be­trach­te­te er sich lan­ge Zeit aufs höchs­te ver­wun­dert, dass er wirk­lich ein so hüb­scher Kerl war. Freund­lich lä­chel­te er sich zu und ver­ab­schie­de­te sich dann von sei­nem Eben­bild mit ei­nem tie­fen, fei­er­li­chen Gruß, wie man eine hoch­ge­stell­te Per­sön­lich­keit grüßt.

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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