Читать книгу Feindbild Russland - Hannes Hofbauer - Страница 10
Überdehnte Expansion
ОглавлениеIm Krieg um Livland, eine päpstliche Bastion an der Ostsee, die dem Deutschen Orden als Kolonie anvertraut worden war und das auf dem Gebiet des heutigen Estland und Lettland liegt, erschöpften sich die Heere Moskaus. 25 Jahre lang, von 1558 bis 1582, führte Iwan IV. seine Soldaten in Richtung Nordwesten. Um die Skepsis der Bojaren und Adeligen gegenüber diesem Waffengang zu brechen, errichtete er ein wahrhaftes Terrorregime im Inneren und zog den Krieg in die Länge. Am Ende lag die Wirtschaft danieder, ganze Landstriche waren verwüstet, die Bevölkerung von Hunger und Krankheiten dezimiert. Die soziale und wirtschaftliche Misere spiegelte sich in der politischen Schwäche des Zarenthrons. Anstatt neue Gebiete zu erobern, verlor Russland den Zugang zur Ostsee, und die Newa mündete nicht mehr auf russischem Gebiet ins Meer. Nach 1561 übernahmen Polen und Schweden die Herrschaft in Livland. Historiker nennen die Jahrzehnte nach dem Tod Iwan IV. die »Zeit der Wirren«.22 Herrschaftsgeschichtlich ist damit jene relativ führungslose Epoche zwischen dem Aussterben der Rurikiden 1598 und der ersten Thronbesteigung eines Romanow 1613 gemeint. Es war auch die Zeit, in der polnische Truppen bis Moskau vordrangen und kurzfristig den Kreml und Kitaj-Gorod einnahmen.23
Die Wahl des damals erst 16jährigen Michail Romanow zum Zaren auf der Moskauer Versammlung der Adeligen, dem sogenannten Sobor, zeugt von der Schwäche der Zentralmacht. Michail, der in jenen kalten Januartagen des Jahres 1613 auf den russischen Herrscherthron gehievt wurde, entstammte einer vergleichsweise unbedeutenden Bojarenfamilie; der Sobor war überzeugt davon, mit seiner Wahl die Position des Zaren im eigenen Interesse lokaler Adelsfamilien und Städte schwach halten zu können. Die Geschichte sollte jedoch zeigen, dass der Bojarensprössling eine dreihundertjährige Herrscherfamilie begründete, die erst von den Räten der Oktoberrevolution 1917 beendet werden konnte.
Anfang des 17. Jahrhunderts sah sich das gerade erst einmal 100 Jahre alte Zarentum mit widerstreitenden Machtansprüchen konfrontiert. Auf dem Boden der heutigen Ukraine bedrohten Kirche auf der einen und Kosaken auf der anderen Seite die Ansprüche Moskaus.
Im damals unter polnisch-litauischer Verwaltung stehenden, heute weißrussischen Brest gelang dem römischen Papst ein genialer Schachzug, als er 1596 die Union von Brest verkündete, die Katholisierung der orthodoxen Kirche im litauisch-polnischen Herrschaftsgebiet. Diese kirchenpolitische Anbindung an den Westen war die Grundlage für die Herausbildung einer entsprechenden Orientierung ukrainischer Christen in Abgrenzung zu ihren orthodoxen Glaubensbrüdern, die östlich des polnischen Herrschaftsgebietes unter dem Moskauer Patriarchat lebten. Damit war die ukrainische Christenheit in eine west-unierte und eine russisch-orthodoxe Gemeinde gespalten.24
Mit der Anerkennung des Papstes als oberstem und einzigem Vertreter Gottes auf Erden und Roms als Zentrum der Christenheit begab sich die unierte Kirchenhierarchie – trotz starkem Widerstand vor allem der Lemberger orthodoxen Bruderschaft25 – unter die weströmische Logik und Herrschaft. Die Beibehaltung orthodoxer liturgischer Besonderheiten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Jahr 1596 die wichtigste Zäsur in der Kirchengeschichte seit dem großen Schisma 1054 symbolisiert. Rom konnte mit der Union von Brest im Kampf mit Moskau um die slawisch-orthodoxen Seelen seinen Einfluss erweitern und auch geopolitisch einen Markstein setzen, den in späteren Jahrhunderten die Habsburger in Galizien zu nutzen wussten. Wer erlebt hat, mit welcher Verbitterung, ja mit welchem Hass 400 Jahre später die Nachfahren der in sowjetischen Zeiten verbannten und verbotenen unierten griechisch-katholischen Popen Anfang der 1990er Jahre um orthodoxe Gotteshäuser kämpften, der erahnt die historische Bedeutung des weströmischen Ausgriffs nach Osten. Im Kapitel über die Ukraine wird uns die Aktualität dieses Themas begegnen.
Zurück zur Union von Brest, dem Ausgangspunkt einer ersten Verwestlichung ostslawischer Siedlungsgebiete: Es dauerte nicht lange, bis als Reaktion darauf erste Stimmen in Westeuropa laut wurden, die auch das Bild von Russland als Hort des Antichristen in Frage zu stellen begannen. Wenn sich Kleinrussen (Ukrainer) in Richtung Rom bekehren lassen, so lautete das Motto, kann man auch Russen nicht pauschal den Vorwurf machen, schismatisch zu sein und sie aus dem System der Christenheit ausschließen. Ein eindrückliches Zeugnis eines solchen, nach der Union von Brest nun positiv gewendeten Russlandbildes liefert ein französischer Militär, der 1607 aus Russland heimkehrt. Jacques Margeret, der sein Traktat über den Aufenthalt in Moskau König Heinrich dem IV. von Frankreich widmet, notiert darin: »Russland ist einer der besten Wegbegleiter der Christenheit« und sein Zar »gut gegen die Skythen und andere Mohammedaner« gerüstet.26 Die westeuropäische Wahrnehmung Russlands beginnt sich im 17. Jahrhundert zu ändern; die Hinwendung der west-ukrainischen Kirche nach Rom spielte dabei eine wichtige Rolle. Genauso wesentlich für den Meinungsumschwung waren schwankende Allianzen westlicher Mächte gegen die Türken. Im Abwehrkampf gegen die Hohe Pforte in Konstantinopel brauchte man die Russen fallweise als Verbündete.27
Während Moskau durch die Katholisierungsbemühungen im Westen seines Herrschaftsbereiches unter Druck geriet, waren es im Süden die Kosaken, die für das Zarenreich eine Herausforderung darstellten. Auch diese Auseinandersetzung spielte sich auf dem Territorium der heutigen Ukraine ab. Kosake bezeichnete einen Grenzer, der im Gebiet zwischen dem Einflussbereich Moskaus und den tatarischen, häufig nomadisierenden Muslimen lebte und keiner adeligen Herrschaft zu Abgaben oder Fron verpflichtet war.28 Kosaken waren leicht bewaffnet, oft als Händler unterwegs oder ernährten sich von Fischfang an den Ufern des Dnepr. Im 16. und 17. Jahrhundert bildeten sie stabile Gemeinschaften, die sich selbst verwalteten. Entlang ihres Herrschaftsgebiets entstanden befestigte Burgen (samok) und Forts (gorodok). Die größte und langlebigste dieser Kosakenfestungen hielt sich an den Stromschnellen des Dnepr nahe der heutigen Stadt Saporoschschje/Saporischschja. Die sogenannte »Saporoschschjer Sitsch«, was so viel wie »der Ort hinter den Stromschnellen, an dem die Bäume gefällt wurden« heißt,29 ist die historisch am besten dokumentierte Kosakensiedlung, die auf der Insel Chortyzja mitten im Dnepr liegt. Ein von allen wehrfähigen Männern gewählter Hetman führte das Gemeinwesen, das durch die natürlichen Gegebenheiten des breiten, mäandernden und von Stromschnellen durchzogenen Flussbettes gegen äußere Feinde geschützt war. Die heute musealisierte und touristisch genützte, in den Löß der Dnepr-Böschung gehauene Festung bietet interessierten Zusehern Reiterspektakel aller Art und dient politisch dem neu erwachten ukrainischen Nationalgefühl. Eine aufwendig gestaltete Ausstellung stellt die Saporoschschjer Kosaken des 17. Jahrhunderts als Vorläufer einer modernen ukrainischen Staatlichkeit dar, die schon vor 350 Jahren eine politische Eigenständigkeit behauptete. Die Dnepr-Kosaken zur Mitte des 17. Jahrhunderts kämpften gleichermaßen gegen die polnische Adelsrepublik – die sogenannte Rzeczpospolita – und den Moskauer Zaren. Den polnischen Magnaten waren sie verhasst, weil massenhaft vor Repressionen flüchtende Bauern in den Kosakenheeren Unterschlupf fanden und sich diese dann in zahllosen Aufständen gegen Polen wandten. Die Kosaken behaupteten gegenüber den polnischen Landesherren ihre Unabhängigkeit. Gleichwohl zogen sie fallweise auch im Verbund mit polnischen Adeligen gegen Osmanen und Russen. Ihr berühmtester Hetman, Bohdan Chmelnyzkyj, zerschlug 1648 das polnische Kronheer und führte einen allgemeinen ukrainischen Aufstand gegen Polen, Juden und Jesuiten.30 Daraus entstand im Osten der heutigen Ukraine eine von Warschau und Moskau sowie auch vom Krimkhanat unabhängige Kosakenrepublik. Nach kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Polen, Russland und Schweden, die um Gebiete der heutigen Ukraine geführt wurden, bildete der Fluss Dnepr ab den 1670er Jahren die Grenze zu Russland, wobei bemerkenswerter Weise auch das rechtsufrige Kiew unter Moskauer Verwaltung kam. Im Vertrag von Andrussowo aus dem Jahr 1667 schlossen Moskau und Polen-Litauen einen Waffenstillstand, der auf mittlere Sicht das Ende der polnisch-litauischen Vorherrschaft im osteuropäischen Raum bedeutete und Russland Gebietsgewinne zusprach. Im »Ewigen Frieden« von 1686 fand die Jahrhunderte lange Feindschaft zwischen Russland und Polen (vorläufig) ihr Ende.