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Befreier oder Barbaren:
Konträre Russenbilder im 19. Jahrhundert

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In der wechselhaften Vorstellung, die sich Westeuropäer und insbesondere Deutsche über Russen und Russland im 19. Jahrhundert machten, spiegelt sich nicht nur die Geschichte des Kontinents wider, sondern auch die soziale und politische Differenz, die mit der Französischen Revolution offenkundig geworden war. Der Russe als Projektion unterschiedlicher gesellschaftlicher Ansichten konnte mal als Sinnbild des Befreiers von als national erlebter Unterdrückung, mal als Bewahrer der alten Feudalordnung und in wieder anderen Zusammenhängen als Bedrohung derselben auftauchen. Was in all den unterschiedlichen Zuordnungen auffällig ist, ist seine starke Präsenz. Vor allem in deutschen Landen war die Bezugnahme auf Russland und die Russen, ob durch die Herrschaft oder das Volk, seit den napoleonischen Kriegen eine Konstante. Als Freund oder Feind, als Guter oder Böser: Der Russe schien allgegenwärtig.

Die Grundlagen dieser Art von Fremdwahrnehmung bildeten sich in der Französischen Revolution heraus. Mit ihr wurde das Bild von der Gottgegeben­heit fürstlicher Herrschaft gesellschaftlich überwunden.43 Und dies war notwendig, um Debatten darüber überhaupt führen zu können. Wenn einmal die allumfassende Zuständigkeit Gottes in Frage gestellt ist, müssen Antworten auf die Fragen nach den Ursachen von politischen, sozialen, wirtschaftlichen, nationalen oder kulturellen Prozessen und Differenzen im Diesseits gesucht werden. Historische Verantwortung wird zuordenbar, Klasseninteressen werden wahrnehmbar, Nationen formieren sich.

Der napoleonische Feldzug in die Tiefe Russlands (1812), sein Scheitern und die anschließend als »Befreiungskriege« (1813/14) in die Literatur eingegangenen Schlachten prägten das Bild von Russland und den Russen bis zur Revolution von 1848 und darüber hinaus. Spätestens mit der drei­tägigen »Völker­schlacht« bei Leipzig, die 100.000 Tote auf dem Feld zurückließ, vermischte sich das Blut deutscher, österreichischer und russischer Soldaten in der Kriegspropaganda zu einer gemeinsamen Opfergabe, die für den Sieg über Napoleon notwendig war. In deutschen Landen überwog die Dankbarkeit gegenüber den russischen Truppen für die Hilfe bei der Befreiung vom französischen Joch. Dafür ertrugen die Bürger die harten Lasten des Krieges, Einquartierungen und Plünderungen.44 Der preußische Hof mit seinem Stab sowie die adeligen Gutsherren und Groß­agrarier, die von der Kapitulation Napoleons durch Gebietsgewinne direkt profitierten, wussten ohnedies, was sie den zaristischen Truppen schuldig waren. Daraus entstand ein in adeligen Kreisen positives Russlandbild, das sich danach praktisch ohne Unterbrechungen über die turbulenten Revolutionszeiten im Jahr 1848 bis zum Zusammenbruch der Monarchien Anfang des 20. Jahrhunderts halten sollte.

Parallel zum Image als Befreier haftete dem russischen Soldaten jedoch bei jenen, die ihn hautnah am Schlachtfeld zu spüren bekommen haben, das Bild des grauenhaften Schlächters an. Die zig-tausenden Toten, die die Heerstraßen säumten, prägten sich tief ins kollektive Gedächtnis nicht nur französischer, sondern auch deutscher und österreichischer Erzählungen ein. Die Brutalität von Kosaken-Überfällen war sprichwörtlich; sie ließen Angstbilder von Russen entstehen, vor denen der politische Nutzen der Befreiung von napoleonischer Herrschaft abstrakt erschien. Konkret galt »der Russe« deutschen Bürgern und Bauern nach den Franzosenkriegen als barbarisch. In einer Beschreibung aus dem Jahre 1824 wird dies deutlich: »Die meisten Soldaten verschmachteten daher an den Heerstraßen oder endigten ihr jammervolles Leben unter den Peitschenhieben wilder Kosaken und den ausgesuchten Martern, womit rache­dürstende Bauern sie zu Tode quälten. Niemals, soweit die Geschichte hinaufreicht, hat die Welt ein Schauspiel gesehen, das an Grässlichkeit mit diesem Heereszug könnte verglichen werden. Von Moskau bis an den Niemen war links der Heerstraße das Land von Leichnamen von Menschen und Pferden bedeckt.«45

Zum Barbarischen kam die Zuordnung als primitiv, trunksüchtig, asiatisch; Adjektive, die in den folgenden Jahrzehnten Russen als angebliche nationale Charaktereigenschaften zugeschrieben wurden. Auch in Russland selbst wurden die Bilder des unzivilisierten, an die Scholle gebundenen, dumpfen Bauern­tölpels von einer schmalen Schicht liberaler Westler gepflegt. Sie beschreiben den Russen als Inkarnation des Fortschrittsfeindes: »Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen«, gießt der Freimaurer Pjotr Tschaadajew seinen ans Sozialrassistische grenzenden Hass auf die eigenen Landleute aus. In dem auf Französisch verfassten Brief kommt die ganze Verachtung eines Intellektuellen, der sein Land und sein Volk nicht begreift, zum Ausdruck: »Wir haben irgendetwas im Blut, das jeden wahren Fortschritt verhindert.«46 Derlei genetische Zuordnungen wurden bei Tschaadajews Gesinnungsbrüdern im Westen begierig aufgegriffen.

Das Bürgertum und noch mehr die deutsch-nationalen Studentenschaften vergaßen recht bald die postnapoleonischen Lobpreisungen über die russische Hilfe bei der Überwindung der französischen Herrschaft. In diesen Schichten paarte sich das Bild vom mordenden Kosakentrupp mit der revolutionären Stimmung, die in den 1830er Jahren halb Europa und insbesondere deutsche Lande erfasste. Fürstenhäuser und Adelsgeschlechter wiederum sahen ihre Stellung – zu Recht – gerade dadurch bedroht. Das mit harter Hand regierte Zarenreich war ihnen Garant für die alte Ordnung und Bollwerk gegen nationales Aufbegehren des Bürgertums und soziale Begehrlichkeiten der unteren Klassen. Die unterschiedliche, ja diametral entgegengesetzte Wahrnehmung von Russland und den Russen folgte diesem Klassengegensatz. National und revolutionär gesinnte Bürger entwickelten einen wahrhaften Russenhass, während die Bewahrer der Monarchie sich an der Standhaftigkeit des Zarentums aufrichteten. Die liberale Öffentlichkeit war antirussisch, die dynastische Reaktion prorussisch gesinnt.

Eine wesentliche Rolle in dieser Auseinandersetzung spielte dabei die Einschätzung eines polnischen Aufstandes im Jahr 1830. Dieser als »November­aufstand« oder »Polnisch-Russischer Krieg« bekannte Versuch polnischer Nationalisten, die russische Herrschaft über Kongresspolen, das der Zar in Personalunion regierte, loszuwerden, fand großen Widerhall unter revolutionär gesinnten Deutschen. Am 29. November 1830 drangen polnische Militär­kadetten in den Warschauer Belvedere-Palast ein und versuchten, den Bruder des russischen Zaren und polnischen Generalstatthalter, Konstantin Pawlowitsch Romanow, zu töten. Der Anschlag misslang, wurde jedoch von einem Teil der Polen als Fanal für eine allgemeine Erhebung gegen Russland verstanden. Diese scheiterte in wenigen Monaten nicht nur am militärischen Einmarsch russischer Truppen, sondern auch an internen Querelen. Keineswegs stand, wie es die polnische Nationalgeschichte gerne darstellt, die Mehrheit der Polen hinter den Aufständischen. Nicht nur im Adel und im Bürgertum herrschte große Skepsis gegenüber der schlecht organisierten Erhebung, sondern vor allem auch die Bauernschaft verweigerte den Putschisten die Gefolgschaft.47 Ihr war in der Verfassung der Aufständischen vom Mai 1831 keinerlei soziale Besserstellung in Aussicht gestellt worden. Im Gegenteil: Die Magnaten setzten sich mit ihren Wünschen nach einer Festigung der feudalen Ausbeutungsstrukturen durch. Der Novemberaufstand scheiterte kläglich.

Dem Polen-Hype in deutschen Landen (wie auch in Frankreich) konnte dies keinen Abbruch tun.48 In romantischer Verklärung der tatsächlichen Verhältnisse interpretierten vor allem die deutsch-national gesinnten Studentenverbindungen den Machtkampf in Polen als Befreiungskrieg gegen Russland. Ein Strom von polnischen Migranten, die der zaristischen Repressionswelle entkamen, half bei dieser Interpretation der Geschichte. Übrig blieb vor allem die antirussische Stimmung in der liberalen deutschsprachigen Öffentlichkeit. Sie liest sich wie jenes damals bekannte Studentenlied von Philipp Jakob Sieben­pfeiffer, das zu mehreren Anlässen, so auch auf dem berühmten Hambacher Fest Ende Mai 1832 angestimmt wurde. Darin heißt es: »Wir sahen die Polen, sie zogen aus, als des Schicksals Würfel gefallen. Sie ließen die Heimat, das Vaterhaus, in der Barbaren Räuberkrallen: Vor des Zaren finsterem Angesicht beugt der freiheitsliebende Pole sich nicht.«49

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