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Das Russlandbild im Westen
ОглавлениеFeindschaft erzeugt Feindbilder. Mit dieser ebenso einfachen wie historisch unstrittigen Tatsache erklärt sich bereits der Kern jenes Russland und die Russen diffamierenden Bildes, das während des 16. Jahrhunderts im Westen Europas vorherrschte. Zwischen 1492 und 1582 führten Moskau und Polen-Litauen bzw. das bis 1561 unter Deutscher Ordensherrschaft stehende Livland insgesamt sechs Kriege gegeneinander. Während der Hälfte dieser Zeit (von 1492–1494, 1500–1503, 1507–1508, 1512–1522, 1534–1537 und 1558–1582) sprachen die Waffen. Dementsprechend gestaltete sich die Wahrnehmung des Feindes. Das im Westen des Kontinents verbreitete Bild vom »asiatischen, barbarischen Russland« ist in dieser Epoche grundgelegt. Und es waren vor allem polnische Intellektuelle, die es verbreiteten und ideologisierten. Der Krakauer Philosoph und Mathematiker Jan z Głogowa (Johannes von Glogau) ergänzte im Jahre 1494 eine kosmografische Ausgabe des klassischen Ptolomaios-Atlas und bezeichnete darin Moskau als »asiatisches Sarmatien«.11 Der Zeitpunkt dieser mutmaßlich ersten Orientalisierung Russlands in der europäischen Geistesgeschichte ist bemerkenswert. Johannes von Glogau reagierte mit der Zuordnung Moskaus als »asiatisch« auf den ersten Krieg der polnisch-litauischen Union gegen Iwan III. Die militärische Auseinandersetzung zweier in der Folge sich gegenseitig als »natürliche Feinde« betrachtenden Reiche und Fürstenhäuser lag somit am Ursprung der Entstehung eines Vorurteils, das über die folgenden 500 Jahre immer wieder die Wahrnehmung Russlands im Westen Europas geprägt hat. Und »asiatisch« war schon damals abwertend gemeint, obwohl die Herkunft des Wortes (asu) auf das Assyrische zurückgeht und keinerlei negative Konnotation aufweist. Im Gegenteil: dort bedeutet es nichts anderes als »hell« bzw. beschreibt den Ort, wo, vom Zentrum des assyrischen Reiches im mesopotamischen Zweistromland des Euphrat und Tigris aus betrachtet, die Sonne aufgeht. Dem entgegen steht im Assyrischen das Wort erp, was so viel wie »dunkel, finster, düster« heißt – dort, wo die Sonne untergeht.12 In den Begriffen »Morgenland« und »Abendland« spiegelt sich noch dieselbe Herkunft. Im später über die griechische Mythologie verbreiteten »Europa« dürfte der assyrische Wortstamm erp stecken.
Den Siegeszug der Zuordnung des Asiatischen als barbarisch und fremd konnte die Etymologie des Begriffes nicht aufhalten. Er orientierte sich am damaligen militärischen Feindbild. Und den Feind galt es nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch philosophisch und geistig zu bekämpfen. Ein wesentlicher Kampfplatz dafür war die Kirchenkanzel, denn parallel zur Asiatisierung Russlands und der Russen wurde das sich konsolidierende Moskau von seinen Gegnern als Hort des Antichristen definiert. Die meisten westeuropäischen Autoren des 16. Jahrhunderts sahen die östlich von Polen-Litauen siedelnden Slawen als außerhalb des »orbis christianus« – des christlichen Erdkreises – lebende Menschen. Ihnen galten Polen-Litauen und Livland als Bollwerke der Christenheit.13
Es war nicht die Geografie, die Russland außerhalb Europas imaginierte, denn die meisten diesbezüglichen Gelehrten folgten seit der Neuzeit der antiken Tradition, nach der die Grenze zwischen Europa und Asien am Don bzw. am Asowschen Meer verlief; Moskau lag ohne Zweifel im »europäischen Sarmatien«; erst mit der Einnahme des Khanats Astrachan im Jahre 1556 griff das Moskauer Zarenreich auch auf asiatische Gebiete über.14 Das Bild vom »asiatischen Russland« entstand infolge politischer Interessen. Es war eine polnische Erfindung, die dazu diente, den »Erzfeind des Jagiellonenstaates gleichsam als ein ›Reich des Bösen‹ hinzustellen.«15 Die Krakauer Universität als führende Lehrstätte jener Tage produzierte die im Kampf gegen Moskau benötigte Ideologie. Als intellektuelle Drehscheibe strahlte sie auch in den deutschen Sprachraum aus; gerade die Vorlesungen des Johannes von Glogau waren stark von deutschen Studenten besucht. Eine später erstellte Studie listet für die Jahre 1460 bis 1520 fast 60 deutsche Gelehrte auf, die an der Universität Krakau ihre Ausbildung erhalten hatten.16 Sie trugen das negative Russlandbild in den Westen des Kontinents. Eigene, in sogenannten Felddruckereien hergestellte Flugschriften verbreiteten während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts antirussische Propaganda in mehreren Sprachen.17 Polnische Autoren gaben die Linie vor.
Als ideales Instrument der Feindbildkonstruktion diente die Religion. Seit dem großen Schisma von 1054 galten die oströmisch Betenden den Päpsten in Rom als Schismatiker. Die russisch-orthodoxe Kirche bildete dabei keine Ausnahme. Im Gegenteil: Jenseits der sogenannten »Vormauer der Christenheit« – antemurale christianitatis18 –, deren Verteidigung sowohl das polnische Königreich als auch die ungarischen Herrscher für sich in Anspruch nahmen, anerkannte die katholische Kirchenlehre keine christliche Gemeinschaft. Die orthodoxen Metropolien und erst recht das Patriarchat des »Dritten Rom«, Moskau, galten als Horte der Abtrünnigen. So entwarf der einflussreiche Gelehrte und Rektor der Krakauer Universität, Johannes Sacranus, im Jahr 1500 in seiner Schrift Elucidarius errorum ritus Ruthenici die Vorstellung, bei den Russen handle es sich um ein »Ketzervolk mit Verbindungen zu den Türken«.19 Schlimmer hätte man ein weströmisches Feindbild in jenen Zeiten nicht zeichnen können.
Anfang des 16. Jahrhunderts hielt der osmanische Vormarsch die abendländischen Herrscherhäuser in Atem. 1517 eroberte Sultan Selim I. Palästina, 1526 rissen die Türken dann die »Vormauer der Christenheit« im ungarischen Mohács nieder, 1529 standen sie vor Wien. Der katholischen Propaganda waren Türken und Russen gleichermaßen hassenswert. Dies kam an prominenter Stelle zum Ausdruck, als im Jahr 1518 während des Reichstages zu Augsburg Erasmus Ciołek, der Bischof von Płock, eine Brandrede gegen die »Moskowier« hielt. Niemand geringerer als der polnische König Sigismund I. übertrug dem Bischof von Płock das Wort. Und dieser griff vor versammeltem Reichstag den Moskauer Zaren frontal an, indem er ihn mit der türkischen Bedrohung auf eine Stufe stellte: »Es existiert noch ein zweiter, nicht geringerer Feind, der in Richtung auf das feste Siebengestirn diesseits des Eismeeres verharrt, der Herzog von Roxolanen, den wir den Moskowier nennen; dieser ist für ödes Heidentum und fluchwürdiges Schisma berüchtigt. Tagtäglich bedrängt er überdies einen Teil des Reiches, nämlich die Provinz der Litauer, durch große Kriegsleidenschaft.«20 460 Jahre später war es der höchste Repräsentant der katholischen Kirche, Papst Johannes Paul II. – auch er polnischer Abstammung –, der am Katholikentag in Wien die Verbindung von Türken- und Russengefahr herstellte. In seiner Rede am 10. September 1983 erinnerte er an den 300. Jahrestag der Türkenbelagerung und warnte zugleich vor der neuen Gefahr aus dem Osten: dem russischen Kommunismus.
Zurück ins 16. Jahrhundert. Der Reichstag war die höchstrangige politische Veranstaltung des Heiligen Römischen Reiches, die man sich vorstellen konnte, eine dortige Feindnennung entsprechend bedeutsam. Das Bild vom barbarischen und unchristlichen Russen hat sich im 16. Jahrhundert weit über das Heilige Römische Reich hinaus bis nach England21 festgesetzt und kreierte dort sogar eine Theatermode unter dem Kürzel »Moscovite monsters«. Seit damals fräste es sich – wie auch jenes des muslimischen Türken als Feind der Christenheit – in das historische Gedächtnis Westeuropas ein.