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Die Ukraine zwischen den Fronten
ОглавлениеEs war das Herauslösen der Ukraine aus dem Russischen Reich, das damals – wie heute – eine zentrale Rolle in den deutschen Planungen spielte. In Militär- und Geheimdienstkreisen machte sich dafür eine eigene sogenannte »Osteuropäische Schule« Gedanken, wie das zaristische Vielvölkerreich entlang der ethnischen Linien gespalten werden könnte. Die Rede war von einer eigenen »Randstaatenpolitik«,82 die – anders als groß- und alldeutsche Ansätze – nicht-russischen Völkern eine gewisse Selbstständigkeit gewähren sollte. Einer der führenden Köpfe dieses Ansatzes war der im damaligen russischen Kurland aufgewachsene Deutschbalte Paul Rohrbach. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er im deutschen Auswärtigen Amt. In seiner Schrift Die russische Revolution – gemeinsam mit Axel Schmidt verfasst – reagierte er auf die Oktoberereignisse des Jahres 1917 und machte sich Sorgen um eine mögliche Konsolidierung Russlands unter revolutionärer, roter Fahne. Der, wie er es nennt, »Zwangsverband zwischen den Großrussen und den Fremdvölkern« müsse aufgelöst werden. Und Rohrbach wird deutlich: »Entscheidend hierfür ist die Lösung der ukrainischen Frage. Bleiben die Ukrainer Untertanen der Moskowiter, so bleibt das Grundelement der russischen Gefahr sowohl direkt durch die ungeheure Zahl und das reißende Wachstum der russischen Masse, als auch indirekt durch die Fortdauer des russischen Willens nach Konstantinopel erhalten.«83
Am (julianisch gerechnet) 3. März 1917 fand die Romanow-Dynastie und mit ihr der Zarismus ein Ende. Hungerrevolten, massenhafte Desertionen und Meutereien hatten einen revolutionären Prozess beflügelt, der am 25. Oktober in Petrograd kulminierte und als »Oktoberrevolution« in die Weltgeschichte einging. Der Führer der Bolschewiki, Lenin, war im April 1917 über Deutschland, Schweden und Finnland aus seinem Schweizer Exil nach Petrograd zurückgekehrt. Berlin unterstützte die Heimkehr des Revolutionärs im legendären »plombierten Waggon«84 in der Hoffnung, damit Russland zu schwächen und seine eigenen Kriegsziele leichter erreichen zu können. In einem als »streng geheim« klassifizierten Akt des Auswärtigen Amtes vom 29. September brüstet sich der kaiserliche Legationssekretär Kurt von Lersner mit dieser erfolgreichen »Minierarbeit« zwecks Unterstützung der bolschewistischen Kräfte. Dort heißt es: »Die Bolschewiki-Bewegung hätte ohne unsere stetige Unterstützung nie den Umfang annehmen und den Einfluß erringen können, den sie heute besitzt.«85
Und tatsächlich sollte es sich für den Kaiser – allerdings nur für sehr kurze Zeit – bezahlt machen, dass Berlin in Petrograd auf die bolschewistische Karte gesetzt hatte. Die deutsche Führung wusste die politischen und militärischen Wirren unmittelbar nach der Revolution zu nutzen.
Überall im Russischen Reich hatte die Revolution widerstreitende politische Umgestaltungsprojekte auf den Plan gerufen. Sozialrevolutionäre konkurrierten mit Bolschewisten; Räte, zaristische Getreue und Anhänger eines bürgerlichen Parlamentarismus rangen um Vorherrschaft in einer von Kriegswirren, Chaos, spontanen Aufständen und Landenteignungen gekennzeichneten Landschaft. Ausländische Mächte mischten bei den Auseinandersetzungen um zukünftige Ausrichtungen und Grenzziehungen mit. Auf dem Gebiet der Ukraine hatte sich im Laufe der Revolutionen vom Februar und Oktober 1917 ein sozialrevolutionär ausgerichteter Zentralrat (Rada) mit Sitz in Kiew gebildet, der mit dem vorwiegend im Osten, von Charkow/Charkiw aus operierenden Bolschewiki rivalisierte. In der Frage der Unabhängigkeit oder Zugehörigkeit zur Russländischen Föderation schwankten die Positionen. Vor dem Hintergrund bolschewistischer Terraingewinne erklärte die Rada im Jänner 1918 die Ukraine für unabhängig; kurz darauf ersuchte sie die Mittelmächte um militärischen Beistand gegen die Bolschwiken.
Die militärische Lage der Mittelmächte stand Anfang 1918 auf Messers Schneide. Die große Streikwelle und die Hungerunruhen im Jänner 1918 signalisierten eine weit verbreitete Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung mit der Gefahr einer revolutionären Erhebung nach russischem Vorbild. Der im Dezember 1917 in Brest-Litowsk mit Russland geschlossene Waffenstillstand entlastete das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn an der Ostfront. In seinem Schatten boten die Mittelmächte der Rada-Führung in Kiew einen Separatfrieden an. Im Tausch für die Lieferung von einer Million Tonnen Brotgetreide erkannte Berlin deren Unabhängigkeit an. Mit den im sogenannten »Brotfrieden« zugesagten Nahrungsmitteln hoffte das Deutsche Reich, die Bevölkerung daheim beruhigen und weiter Krieg führen zu können.
Am 18. Februar 1918 marschierten deutsche und österreichische Soldaten in die Ukraine ein und errichteten zwei Besatzungszonen. Österreich-Ungarn installierte sein Oberkommando in Odessa, die deutsche Militärführung ihres in Kiew. Der gesamte Schwarzmeerraum von Bessarabien über die Krim bis zum Kaukasus stand unter deutscher bzw. österreichisch-ungarischer Kontrolle. Vor diesem Hintergrund blieb dem revolutionären Russland unter Führung des Volkskommissars für äußere Angelegenheiten, Leo Trotzki, keine andere Wahl, als am 3. März 1918 dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk zuzustimmen, dessen ungünstige Bedingungen in Versailles teilweise wieder revidiert werden sollten. Das Überschreiten der Waffenstillstandsgrenze durch deutsche und österreichische Truppen am 18. Februar und die anschließende Besetzung der Ukraine zwangen den russischen Delegationsleiter Trotzki zum Einlenken.86 Die russische Demütigung von Brest-Litowsk liest sich in Zahlen folgendermaßen: Russland verlor in diesem im März 1918 aufgezwungenen Friedensvertrag 26% seines europäischen Territoriums, 27% des anbaufähigen Landes, insgesamt 1,4 Mio. Quadratkilometer Land, auf dem 60 Mio. Menschen – ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Reiches – leben.87
Eine Hauptaufgabe der Besatzungsmächte bestand in der Organisation von Lebensmittelrequirierungen. Dies ging mit dem Kampf gegen ukrainische Bolschewisten und der Niederschlagung lokaler Aufstände einher. Die Zentralrada wurde aufgelöst und durch ein den Besatzern genehmes Staatsoberhaupt ersetzt, den Großgrundbesitzer Pawlo Skoropadskyj, dessen Hetmanat sich bewusst an eine frühere ukrainische Staatlichkeit anlehnte.
Wie groß die Rolle der Ukraine in den deutschen Planungen für die Nachkriegszeit war, zeigt ein 1918 in Deutschland weit verbreitetes Plakat, das vermutlich auch im Schulunterricht Verwendung fand. Auf ihm sind politische und sozio-ökonomische Karten der Ukraine zu sehen. Mit Blick auf die begehrte fruchtbare Schwarzerde im Süden und die Rohstoffe im Osten des Landes steht am Rande des Plakates zu lesen: »Die landwirtschaftliche Produktion der Ukraine im Frieden könnte den Bedarf der Mittelmächte (also auch Deutschlands, d. A.) sicherstellen, ihre reichen Schätze an Kohle, Erze, Salz und Petroleum würden einen Überschuß für Mitteleuropa lassen.«88 Die Ukraine, da waren sich beim Zusammenbruch des Zarismus Unternehmer, Politiker und offensichtlich auch Lehrer einig, würde künftig deutschen Interessen dienen.
Die tatsächliche Getreideaufbringung blieb allerdings weit unter den Erwartungen und im November 1918 löste sich die deutsche Ostarmee im Chaos auf. Teile blieben weiterhin im Lande. In den Bürgerkrieg zwischen »Rot« und »Weiß« um die Kontrolle des Landes griffen im Sommer 1918 auch Tausende britische, französische und US-amerikanische Truppen ein. Sie landeten in Murmansk und Archangelsk, zu Jahresende auch in Odessa. Der Friede von Riga, der am 18. März 1921 zwischen Sowjetrussland und Polen geschlossen wurde, trug indirekt zum Ende des russischen Bürgerkriegs zwischen »Rot« und »Weiß« bei. Weite Teile der westlichen Ukraine fielen mit ihm an Polen; der Osten wurde sowjetisch. Die damit einhergehende Entlastung an der Westfront nutzte die Rote Armee, um die Weißen in anderen Landesteilen zurückzudrängen.
Mit dem »Diktatfrieden« vom 3. März 1918 war für kurze Zeit die Voraussetzung für ein von Friedrich Naumann mitten im Krieg zu Papier gebrachtes Mitteleuropa-Projekt gegeben, dessen Kern er im Zusammenwachsen des Deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn sah. »Absichtlich schreibe ich mitten im Krieg«, erklärt der Theologe und liberale Politiker den LeserInnen seine Beweggründe, »denn nur im Krieg sind die Gemüter bereit, große umgestaltende Gedanken in sich aufzunehmen.« Die Grundlagen der neuen Gestaltung müssen, so Naumann weiter, »im Krieg, im Fließen des Blutes und im Wogen der Völker gelegt werden. Später könnte und würde es zu spät sein.«89 Das hier positiv beschriebene Zeitfenster des Völkerschlachtens wollte die Oberste Heeresleitung nutzen, um jenseits der »mitteleuropäischen« Konsolidierung militärisch nach Osten auszugreifen. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk schienen die Generäle Paul von Hindenburg und sein Stellvertreter Erich Ludendorff ihr Ziel erreicht zu haben: Von Finnland über die baltischen Gebiete, die Ukraine und die Krim bis zum Kaukasus erlaubte der Zusammenbruch an der Ostfront die Bildung einer Art Cordon sanitaire. In dieser gegen das russische Kernland einzurichtenden Pufferzone würden deutsche und österreichische Konzerne ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzen können.
Während sich deutsche Soldaten auf der Krim und in Odessa herumtrieben, um mit allerlei Hilfstruppen vor Ort ihr Interessensgebiet abzustecken, gerieten die seit den 1860er Jahren ausgebeuteten kaukasischen Erdölfelder ins Visier britischer und US-amerikanischer Konzerne. Rund um Baku am Kaspischen Meer lagen riesige Reserven des schwarzen Goldes. Darauf wollten sich die USA und Großbritannien einen Zugriff sichern. Um dafür gerüstet zu sein, gingen Shell und Standard Oil in die Offensive. »In Erwartung, daß das Sowjetregime in kürzester Zeit politisch, militärisch und vor allem wirtschaftlich zusammenbrechen würde«, schrieb der deutsch-amerikanische Publizist und Wirtschaftsfachmann William Engdahl, »hatte Shell-Chef Deterding heimlich seine Fühler nach Paris ausgestreckt und dort alle Wertpapiere und Konzessionsbriefe für die Ölfelder Bakus aufkaufen lassen. Sie stammten aus der Zeit vor der Revolution und schienen inzwischen wertlos geworden zu sein. Entsprechend billig waren sie zu haben. Er gründete die Anglo-Kaukasische Ölgesellschaft, in die er die Ölkonzessionen für Baku einbrachte.«90 Die wirtschaftliche Grundlage zur Ausbeutung des kaukasischen Öls schien gelegt. Politisch setzten die Briten und Amerikaner Ende 1918 auf den ins Exil nach Paris geflüchteten Vertreter der weißen Generalität, Boris Sawinkow. Sawinkow gehörte vor der Oktoberrevolution zum bewaffneten Arm der Sozialrevolutionäre und wandte sich nach der Machtübernahme der Sowjets den Weißen zu. Da er über beträchtliche Kontakte sowohl im Exil als auch zu den militärischen Spitzen der Konterrevolution wie General Peter von Wrangel und Admiral Alexander Koltschak verfügte, fanden Washington und London in ihm einen brauchbaren Partner. Die Briten und Amerikaner steckten ihm hohe Geldbeträge zu. Damit bestach Sawinkow die Truppen von von Wrangel und stellte eine Verbindung zu den westlichen Geheimdiensten, insbesondere zum im Jahre 1909 gegründeten britischen Secret Intelligence Service (SIS) her.91 Parallel zur Finanzierung der antisowjetischen Kräfte rückten britische und US-amerikanische Truppen, vom nördlichen Hafen Archangelsk kommend, in Russland vor. Im ölreichen Aserbaidschan hielten sich die Soldaten Georgs V. bis in das Frühjahr 1920, als die Rote Armee dem imperialistischen Spuk ein Ende setzte. Der aus deutsch-baltischem Adel stammende von Wrangel war der letzte weiße Militärführer, der sich Mitte Oktober 1920 der Roten Armee geschlagen gab und von der Krim aus ins Exil ging.
Henri Deterding, Gründer und Hauptaktionär des Shell-Konzerns, öffnete zusätzlich zu den aus dem britischen Budget aufgebrachten Mitteln noch die Privatschatulle seines Unternehmens, mit der er – sicher ist sicher – eine kaukasische Separatistenbewegung finanzierte, um die Sowjets in Schach zu halten.92 Neben dem britischen Unternehmen Shell war es vor allem John D. Rockefellers Standard Oil, die auf US-amerikanischer Seite Druck machte, um an das russische Öl zu kommen. Ein Korruptionsskandal um Erdöl-Schürfrechte in Wyoming (USA), der bis in die höchsten Kreise der Politik reichte, führte dazu, dass die USA im Wettlauf um das kaukasische Erdöl noch vor den Briten ausschieden.