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Von den Liberalen gehasst, von den Reaktionären verehrt

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Im fast lückenlos funktionierenden Zensurregime des preußischen Staates wurde jeder gnadenlos verfolgt, der Kritik an der Obrigkeit und der feudalen Ordnung mit ihren Adelsprivilegien übte. In den Jahrzehnten vor 1848 geriet deswegen ein liberal Gesinnter schnell in die Fänge der deutschen Justiz. Der Hass auf den Zaren, Russland und die Russen bot einen Ausweg. Mit ihm konnte stellvertretend für verbotene Kritik im Inneren gegen ein ähnliches Herrschaftssystem gewettert werden. Doch es war nicht nur der Zar, der als despotisch und willkürlich beschrieben wurde; die deutschen Liberalen des Vormärz entwickelten aus ihrer Feindschaft gegen ihre eigene Monarchie und das fremde Zarentum einen verachtenswerten russischen Volkscharakter. Dieser kam nie ohne die Attribute »faul«, »schmutzig«, »verschlagen«, »versoffen« – mit einem Wort: barbarisch – aus. Damit konstruierten sie die Negation des eigenen Selbstbildes, das als »fleißig«, »sauber«, »ehrlich« und »pflichtbewusst« – mit einem Wort: als »deutsch« – galt. Der »barbarische Russe« war in letzter Konsequenz ein Produkt eines innerdeutschen Machtdiskurses. Aus ihrer Gegnerschaft zum eigenen Preußenkönig entstand im deutsch-national fühlenden Bürgertum über den Umweg der Kritik an der zaristischen Alleinherrschaft ein ausgewachsener Rassismus gegen die Russen.

Ein entscheidender Wendepunkt hin zu diesem antirussischen Rassismus war der Mord am Schriftsteller, Verleger und Theaterdirektor August von Kotze­bue durch den Studenten Karl Ludwig Sand am 23. März 1819. Kotze­bue war seit 1817 auch russischer Generalkonsul und galt den sich radikalisierenden Studenten als russischer Spion, weshalb der Hitzkopf Sand beschloss, ihm von Jena nach Mannheim zu folgen und ihn dort zu erstechen. Die Verehrung des Mörders innerhalb der revolutionären deutsch-nationalen Studentenschaft nahm skurrile Züge an. Nach seiner Hinrichtung zirkulierten Holzsplitter seines Schafotts in der Szene und wurden als patriotische Reliquien gehandelt. Als Reaktion auf den Mord an Kotze­bue beschloss der Deutsche Bund im österreichischen Karlsbad im September 1819 harte Maßnahmen gegen Studentenschaften und Universitäten. Jedes Schriftstück musste in Zukunft einer Vor- und Nachzensurbehörde vorgelegt werden, Berufsverbote für liberal und national gesinnte Professoren wurden erlassen. Die Kritiker dieser Karlsbader Beschlüsse wichen zunehmend in Richtung Russland-Bashing aus. Die konträren Russlandbilder der deutschen (und österreichischen) Herrscherhäuser auf der einen und der radikalen Bürger auf der anderen Seite drifteten mehr und mehr auseinander. Adel und Höfe klammerten sich an die Vorstellung vom Russischen Reich als Garant der Feudal­ordnung, während die Fortschrittlichen zwischen Donau und Nordsee »den Russen« zur negativen Folie des eigenen idealisierten Deutschen machten.

Heroen der deutschen Geistesgeschichte, auch jene, die sich in erster Linie der sozialen Frage widmeten, machten bei der Charakterisierung des Russischen als dem Bösen schlechthin mit. Friedrich Engels z. B. stand in der ersten Reihe, wenn es galt, den Deutschen eine zivilisierende Rolle in Europa zuzuschreiben und die Russen als Barbaren hinzustellen, die den Kontinent bedrohten. Insbesondere der angeblichen »panslawistischen Verschwörung, die ihr Reich auf den Ruinen von Europa zu gründen droht«,50 gelte es entgegenzuwirken. Ob Friedrich Engels dieser Einschätzung auch das sogenannte »Testament Peter des Großen« zugrunde gelegt hat, ist nicht überliefert. In diesem Anfang des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten Pamphlet ist jedenfalls von russischen Expansionsplänen die Rede, die der 100 Jahre zuvor im Jahr 1725 verstorbene Zar angeblich testamentarisch verfügt hätte. Schon vor 1848 stellte sich heraus, dass das »Testament« von Polen im Exil verfasst worden war und nur dem Zweck diente, antirussische Stimmung anzuheizen.51 Es war eine Fälschung.

Die Revolution von 1848 änderte am Russlandbild der Deutschen nichts. Die von Revolutionären geschürte Angst vor der russischen Soldateska und den Kosakenheeren, die im Auftrag der »Heiligen Allianz« der Monarchen gegen die Volkserhebungen eingreifen würden, fand im Juni 1849 ihre Bestätigung. Die Niederschlagung der ungarischen Revolution wäre ohne den Zaren, den die Habsburger in Wien zu Hilfe gerufen hatten, nicht möglich gewesen. Antirussische Regungen verstärkten sich daraufhin nicht nur unter den revolutionären Ungarn.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und der Bismarck’schen Reichsverfassung liberalisierte sich das gesellschaftliche Klima in Deutschland. In Österreich-Ungarn zollten das Grundgesetz und der österreich-ungarische Ausgleich von 1867 den Ideen der 1848er-Revolution Tribut. Die antirussische Stimmung breitete sich aus und erfasste alle gesellschaftlichen Schichten. Nun lernten auch die Kinder in der Schule vom russisch-barbarischen Volkscharakter, vor dem sich Staat und Volk in Acht zu nehmen hätten. Im Seydlitz, dem bekanntesten und am weitesten verbreiteten deutschen Geografielehrbuch stand 1908 zu lesen: »Die russischen Stämme sind Halbasiaten. Ihr Geist ist unselbstständig, Wahrheitssinn wird durch blinden Glauben ersetzt, Forschungstrieb mangelt ihnen. Kriecherei, Bestechlichkeit, Unreinlichkeit sind echt asiatische Eigenschaften.«52 Vor solch einer Wesensart sollte – und musste – sich der Deutsche fürchten. Grafische Darstellungen von bärtigen, wilden Männern, die nomadisierend die Wälder Sibiriens unsicher machten und bald auch über Europa herfallen würden, ergänzten die Hetzschriften, die wie im Fall des Seydlitz offizielle Lehrbehelfe waren.

Feindbild Russland

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