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Von der britischen »Heartland«-Theorie zur deutschen Kriegserklärung
ОглавлениеTrotz sichtbarer Schwäche des russischen Bären hatte man insbesondere in Großbritannien große Sorgen um eine mögliche Konsolidierung des riesigen eurasischen Reiches. Spätestens seit dem Krimkrieg (1853–1856) fürchtete London einen Einflussgewinn Russlands nicht nur zwischen Schwarzem Meer und Konstantinopel. Das britische Empire sah in Sankt-Peterburg einen ernsthaften Konkurrenten um die Kontrolle jener Länder und Völker, die zwischen Griechenland und Indien lagen bzw. lebten und zum eigenen Einflussgebiet gezählt wurden. Also dauerte es nicht lange, bis sich auch Wissenschaftler des geopolitischen Konkurrenzkampfes der »Global Player« annahmen. Der Wirtschaftsgeograf Halford Mackinder, Direktor der von ihm mitbegründeten London School of Economics, goss die britischen Ängste und die notwendigen Gegenmaßnahmen in ein geopolitisches Konzept. Unter dem Kürzel »Heartland-Theorie« sollte sie das gesamte 20. Jahrhundert hindurch in unterschiedlichen Ausprägungen zur Blaupause der jeweils führenden westlichen Hegemonialmacht werden, wie mit Russland bzw. der Sowjetunion umzugehen sei.
Die Heartland-Theorie tauchte erstmals im April 1904 auf, als Mackinder den Aufsatz »The Geographical Pivot of History« im Organ der Royal Geographical Society veröffentlichte.68 Das Wort »pivot« steht für Dreh- und Angelpunkt; diese Funktion schreibt Mackinder dem eurasischen Herzland zu. In Mackinders Weltbild ist für drei Großregionen Platz: der »Weltinsel«, zu der er Europa, Asien und Afrika zählt, den Raum mit der größten Bevölkerungsdichte; den »küstennahen Inseln« (offshore islands) mit Großbritannien im Westen und Japan im Osten der »Weltinsel«; und den »küstenfernen Inseln« (outlying islands), also den beiden Amerikas und Australien. Im Herzen der »Weltinsel« liegt der Dreh- und Angelpunkt, das »Herzland« (heartland), das Schlüsselland zur Beherrschung der Welt: Russland. Um seine Kontrolle, so Mackinder, würde es in Zukunft gehen. Ohne das »Herzland« würde Großbritannien seine weltherrschaftlichen Ansprüche nicht durchsetzen können. Die königlich-britische Überlegenheit auf den Meeren, so stark sie auch sein mochte, sei nicht in der Lage, an den Kern des russischen Reiches heranzukommen. Selbst Seeblockaden würden da nicht helfen. Dies umso weniger, seit durch moderne Technologien die Verkehrsinfrastruktur im Inneren des Herzlandes besser und von äußeren Einflüssen unabhängiger würde.69 Britische Herrschaftspläne, so die Warnung des Geografen an die königliche Gesellschaft, dürften die Kraft dieser eurasischen Landmasse nicht unterschätzen. Es sei mit allen Mitteln zu verhindern, dass sich diese durch eine Annäherung Deutschlands und Russlands potenzierte. Mackinders Kampfruf von 1904 war in erster Linie gegen Deutschland geschrieben, vor allem gegen eine Allianz Berlins mit Sankt-Peterburg.
Nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1919, verkürzte Mackinder seine Hauptthese auf drei Sätze: »Wer Osteuropa regiert, beherrscht das Herzland; wer das Herzland regiert, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel regiert, kontrolliert die Welt.«70 Der Respekt vor einer eurasischen Weltmacht, das spürt man in dieser Analyse, war in London auch nach vier für Russland und Deutschland verheerenden Kriegsjahren noch vorhanden. Spätere Generationen – von Nazi-Ideologen bis US-Imperialisten – wärmten die Heartland-Theorie immer wieder auf und legten sie Einkreisungsplänen gegenüber der Sowjetunion und Russland zugrunde. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Das wilhelminische Deutschland war zur selben Zeit, in der Mackinder der britischen Krone indirekt Angriffspläne diktierte, um mögliche eurasische Integrationsversuche im Keim zu ersticken, mit anders gearteten, im Kern jedoch ähnlichen Problemen beschäftigt. Seine Strategen steckten bereits in Kriegsvorbereitungen, und die Propagandaabteilungen arbeiteten mit Hochdruck am Bild einer slawischen, einer russischen Gefahr, der rechtzeitig begegnet werden müsse.
Der Rüstungsindustrielle und spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau gab den Takt bei den deutschen Erweiterungsplänen an, die 1914 zur Kriegserklärung führten. Bereits ein Jahr zuvor rief er als Aufsichtsratsvorsitzender des elektrochemischen AEG-Konzerns dazu auf, sich offensiver, aggressiver zu verhalten. Das im Zeitalter des Kolonialismus zu kurz gekommene Deutschland, so sein Credo, müsse sich nehmen, was es (gemeint war: seine Industriellen) brauchte. »Die letzten hundert Jahre bedeuteten die Aufteilung der Welt«, schrieb Rathenau: »Wehe uns, daß wir so gut wie nichts genommen und bekommen haben! Nicht politischer Ehrgeiz und nicht theoretischer Imperialismus rufen diese Klage aus, sondern beginnende wirtschaftliche Erkenntnis. (…) Erzlager werden eines Tages mehr gelten als Panzerkreuzer«,71 fügte er hinzu. Nicht theoretisch, sondern praktizierend sollte also der deutsche Imperialismus sein, den sich einer der führenden Unternehmer seiner Zeit wünschte. Russland mit seinen unendlichen Weiten, Kohle- und Erzlagerstätten bot sich in dieser Sicht als quasi »natürlicher« Expansionsraum an. Rathenau machte keinen Hehl daraus, dass Kontrolle über Rohstoffe auch die Eroberung entsprechender Länder bedeutete: »Es wird Zeit, daß wir es kennenlernen und daß wir unumwunden bekennen und aussprechen: Ja, es ist wahr, wir haben Nöte und Bedürfnisse. Wir können nicht in einem Menschenalter hundert Millionen Deutsche mit den Produkten einer halben Million Quadratkilometer einheimischen Bodens und einer afrikanischen Parzelle72 ernähren und beschäftigen … Wir brauchen Land dieser Erde.«73
Am 1. August 1914 erklärte Berlin Russland den Krieg. Nur vier Wochen danach verlor die zaristische Armee in einer Schlacht bei Allenstein (Olsztyn), die als »Schlacht von Tannenberg« in die Militärgeschichte einging, 30.000 Mann und zählte 100.000 Verwundete. Die deutsche Expansion begann verheißungsvoll; in der Kriegspropaganda Berlins wurde Tannenberg zum Synonym für »Wir schreiten voran, wir schaffen es«.
An der Propagandafront hieß es von Anfang an: »Nach Osten!«. Die gleichnamige Flugschrift von Alfons Paquet sollte zur ideologischen Bibel des Vormarsches gegen Russland werden. Der 1881 in Wiesbaden geborene Alfons Paquet war ein umtriebiger Journalist, der für liberale und deutsch-nationale Zeitschriften tätig war, bevor er unmittelbar nach Kriegsausbruch Mitarbeiter des Stellvertretenden Generalkommandos XVIII der Armee,74 mit anderen Worten: im militärischen Nachrichtendienst für Propaganda zuständig wurde. Bestimmt kannte Paquet die »Heartland«-Theorie Mackinders; für den deutschen Gebrauch zog er weitreichende Schlussfolgerungen daraus. Russland stand kurz vor dem Zerfall, so sah es jedenfalls die überwiegende Mehrheit der kriegsbegeisterten Deutschen. Es wartete nur mehr darauf, in seine Bestandteile zerlegt und dem Nutzen des Siegers zugeführt zu werden. In der Propaganda-Schrift Paquets las sich diese »Gewissheit« folgendermaßen: »Russland ist der Steinbruch, aus dem einmal jene große Landbrücke gebaut werden wird, die das mittlere Europa mit dem Morgenland verbindet. Und aus dem Material dieses Steinbruchs muss zugleich die Scheidewand gebaut werden, die uns für immer von der moskowitischen Öde trennt.«75 Der Historiker Gerd Koenen nennt das deutsche Vorhaben eine »strategische Amputation des Russischen Reiches«. Und Paquet weiß auch, an welchen Gliedmaßen anzusetzen ist, um die Zerstückelung erfolgreich durchführen zu können: Finnland, Polen, die Ukraine und Georgien sollten aus der russischen Verwaltung herausgelöst werden. Dort lebten jene am wenigsten russifizierten Völker im Zarenreich, die sich für den deutschen Vormarsch – so die feste Überzeugung der Berliner Strategen – am ehesten instrumentalisieren ließen. Paquet war der erste, der die Schwachstelle des russischen Bären klar und deutlich benannte: Es war die ethnische Komponente oder – wie es damals hieß – die »kulturelle Scheidelinie«, an der die Zerschlagung Russlands anzusetzen habe. Diese Scheidelinie hat eine lange politische und religiöse Geschichte und reicht von Sankt-Peterburg, das ab 1914 Petrograd hieß, über Smolensk und das Schwarze Meer bis in den Kaukasus.76 Bis zu dieser Linie sollte der deutsche Einfluss auf jeden Fall reichen, wenn nicht darüber hinaus.
Der Plan war fertig, der Bär jedoch noch lange nicht erlegt. Kein Kriegsmonat verging, in dem nicht die führenden Industriellen Deutschlands voran – nach Osten – drängten. Im September 1914 verfasste Stahlbaron August Thyssen eine Denkschrift, in der er seine Vorstellung eines zukünftigen Russlands darlegte: »Vielleicht interessiert es Sie, meine Ansichten in grossen Umrissen über die zukünftige Gestaltung Europas kennen zu lernen. Werden wir den Krieg so glorreich durchführen, wie wir ihn begonnen haben, dann werden wir Frankreich und Russland niederwerfen und beiden Staaten die Bedingungen zu Lande diktieren können, die wir für notwendig erachten.« Dann wird Thyssen konkret: »Russland muss uns die Ostseeprovinzen, vielleicht Teile von Polen und (das) Dongebiet mit Odessa, Krim, sowie asowsches Gebiet und den Kaukasus abtreten, um auf dem Landwege Kleinasien und Persien zu erreichen.«77 Auch diesem großen Plan liegt die Erkenntnis Mackinders zugrunde, nach der es das »Herzland« ist, das es zu kontrollieren bzw. von dem es Teile zu beherrschen gilt.
Auch Thyssens Konkurrent Hugo Stinnes, mit dem er gleichwohl eine Vielzahl von Wirtschaftskooperationen einging, stellte geopolitische Überlegungen an und schrieb sie, gemeinsam mit dem Nationalökonomen Hermann Schumacher, ebenfalls in einer Denkschrift nieder. Im November 1914 mahnte er vor der Maßlosigkeit deutscher Ansprüche gegenüber Russland. Das »eigentlich großrussische Gebiet soll nicht angetastet werden«, diktiert er seiner Sekretärin, sondern es gelte, die ganze Kraft auf die westlichen Ränder des Zarenreiches zu lenken. In anderen Worten: »… (Es) muß das Bestreben darauf gerichtet bleiben, den Gegensatz zwischen Russen und Polen in aller Schärfe zu erhalten (…), sowie ferner denjenigen zwischen Russen und Kleinrussen78 möglichst zu benutzen und zu vertiefen.«79 Nach der Lektüre solcher Denkschriften, die immerhin von den wichtigsten Unternehmerfiguren zu Papier gebracht wurden, wähnt man sich im falschen Jahrhundert. Fast auf die Jahreszahl genau, nur hundert Jahre später, stehen dieselben Begehrlichkeiten auf der Agenda der nun EU-europäischen Politik.
Im Spätsommer 1915 gelang es der deutschen Heeresleitung nach dem Rückzug russischer Truppen, im Baltikum eine eigene – wenn auch kurzlebige – Territorialität zu etablieren. »Ober Ost« nannte sie das militärisch verwaltete Gebiet. Es umfasste Kurland (einen Teil des heutigen Lettland), Litauen und nordöstliche polnische Gebiete. General Erich Ludendorff, Stellvertreter des Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg, sah in »Ober Ost« bereits die Grundstruktur eines Staates verwirklicht, in dem nicht-russische Völker aus dem Zarenreich unter deutscher Kontrolle vereint und später auch als Staat anerkannt würden. Die beiden Deutschen waren stolz, denn »›Ober Ost‹ hatte sich zu einem beeindruckenden, unabhängigen Militärstaat im Osten, einem militärischen Utopia im Osten« entwickelt, wie der aus einer litauischen Familie stammende US-Historiker Vėjas Liulevičius schreibt.80
»Ober Ost« entsprach dem expliziten Kriegsziel der Schaffung von Pufferstaaten am Rande eines verkleinerten Russlands, wie es von höchster Stelle bereits zu Beginn des Feldzuges gegen Russland ausgegeben worden war. Am 11. August 1914 schrieb Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in einem Erlass an den deutschen Botschafter in Wien, dass es darauf ankäme, antirussische Aufstandsbewegungen anzuschieben, zum einen »als Kampfmittel gegen Rußland«, und zum anderen »weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Rußland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweckmäßig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Rußland möglichst nach Osten zurückzudrängen.«81
Eine ähnliche Rolle wie »Ober Ost« kam auch dem im Mai 1915 von den Mittelmächten militärisch eingenommenen »Kongress-Polen« zu, dem bei den Aufteilungen Polens im 18. Jahrhundert Russland zugesprochenen Teilungsgebiet. Berlin und Wien gliederten das Gebiet in die Kriegswirtschaft ein: Nahrungsmittel, Kohle und Erze wurden abtransportiert. In Hinblick auf den politischen Status schwebte dem österreichischen Kaiser anfangs eine austro-polnische Lösung vor; »Kongress-Polen« sollte an Galizien angeschlossen werden. Im Zwei-Kaiser-Manifest vom 5. November 1916 schwenkte der Habsburger schließlich auf den deutschen Plan der Hohenzollern ein. Dieser sah die Ausrufung eines eigenen polnischen Staates auf dem ehemals russischen Teilungsgebiet mit eingeschränkter Selbstverwaltung unter deutsch-österreichischer Oberherrschaft vor.