Читать книгу Feindbild Russland - Hannes Hofbauer - Страница 12
Eurasisches Herzland
ОглавлениеDie Konsolidierung zaristischer Macht verband sich das gesamte 18. Jahrhundert hindurch mit Gebietserweiterungen. Die geopolitischen Konkurrenten im Konzert der europäischen Reiche waren alarmiert.
Eine Prinzessin aus dem deutschen Adelsgeschlecht Anhalt-Zerbst stand wie keine andere für das Vorrücken Russlands. Nach der Ermordung ihres Gatten bestieg sie als Katharina II. – von der Nachwelt »die Große« genannt – 1762 den Zarenthron in Vertretung ihres damals achtjährigen Sohnes. Für 35 Jahre sollte sie das Zepter bis zu ihrem Tod im Jahr 1796 nicht mehr aus der Hand geben.
Auf das von inneren Querelen geschwächte Polen, in dem verschiedene Adelsgeschlechter sich Jahrzehnte lang gegenseitig und damit auch die Reichstage (Sejm) blockierten, übten Katharina II. und ihr preußisches Gegenüber Friedrich II. gehörigen politischen Druck aus. Dort in Warschau hatte die katholische Gegenreformation bereits früher sämtlichen Nichtkatholiken, insbesondere Protestanten im Norden und Orthodoxen im Osten und Südosten, ihre religiösen und politischen Rechte aberkannt, was Berlin und Sankt-Peterburg, die sich als unausgesprochene Schutzmächte der Diskriminierten verstanden, gehörig empörte. Versuche, in dieser Frage zu einer Einigung zu kommen, scheiterten auch daran, dass der einstige Günstling und Geliebte Katharinas und spätere polnische König, Stanisław Poniatowski, sich von seiner Förderin abwandte. Mit einem Truppeneinmarsch im Jahr 1766 wollte Russland den religiösen und politischen »Dissidenten«, wie die Nichtkatholiken genannt wurden, zu Hilfe kommen.33 Dies war zugleich der Anfang vom Ende der polnischen Staatlichkeit. Die Teilung des Landes geschah auf Vorschlag Friedrich II. Russland, Preußen und Österreich bedienten sich in den Jahren 1772, 1795 und 1795, wobei der größte Teil Polens mit fast zwei Dritteln der Landmasse und der Hälfte der Bevölkerung an Russland fiel. Nach der dritten polnischen Teilung grenzte das Zarenreich direkt an Preußen und Österreich.
Die Expansion im Osten und Süden schritt zeitgleich und mit ebensolchem Tempo voran. Hier war es das im schleichenden, aber konstanten Rückzug aus Europa befindliche Osmanische Reich, das sich russischen Eroberungsplänen gegenübersah. Katharina II. hatte für diesen Vormarsch, gemeinsam mit einem ihrer Höflinge, Grigori Potjomkin, ein großes Dessin entworfen. Der als »Griechisches Projekt«in die Geschichtswissenschaft eingegangene Plan sah die Schaffung eines orthodoxen Reiches vor, das von der Tundra und den Steppen Eurasiens bis zum Schwarzen Meer und nach Konstantinopel ans östliche Mittelmeer reichen sollte.34 In dieser Dimension blieb das »Griechische Projekt« ein Wunschbild russisch-weltherrschaftlicher Pläne; mehrere Kriege gegen die Türken fügten dem Zarenreich jedoch Mosaikstein für Mosaikstein neue Gebiete hinzu. Die nördliche Bergkette des Kaukasus wurde 1763 eingenommen, im Frieden von Küçük Kaynarca 1774 erhielt das Russische Reich von der Hohen Pforte über die Flussmündungen von Dnepr und Don Zugang zum Schwarzen Meer. Das letzte Khanat, das sich in der Herrschaftstradition der Mongolen verstand, das Krim-Khanat, verschwand 1783 von der Landkarte, und nach einem weiteren Waffengang gegen die Türken Ende der 1780er Jahre kam die gesamte Nordostküste des Schwarzen Meeres unter russische Kontrolle. Die planmäßige Gründung der Stadt Odessa im Jahr 1794 an der Stelle des türkischen Hafens Hacıbey war als Tor zur Welt am Rande neurussischer Siedlungsgebiete gedacht, die zum Neurussischen Gouvernement wurden.
Auch im Inneren des Russischen Reiches änderte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert Beträchtliches. Die Ansiedlung von Kolonisten, viele von ihnen aus deutschsprachigen Ländern, diente der Urbarmachung von Wald- und Sumpfgebieten. Und in weiten Teilen der heutigen Ukraine setzte sich nach und nach die russische Gesetzgebung durch. Die Befreiung des Adels vom Dienst am Hof auf der einen Seite und die Ausdehnung der Leibeigenschaft auf ukrainische Gebiete auf der anderen Seite ließen die als soziales Gleichgewicht verstandene Gerechtigkeit (prawda) zwischen Gutsherren und Untertanen zerbrechen, was zu bäuerlichen Aufständen führte.35 Deren heftigster fand unter der Führung des Donkosaken Jemeljan Pugatschow statt und wurde von Katharina II. blutig niedergeschlagen. Anfang des 19. Jahrhunderts führte die russische Verwaltung Regie von Kamtschatka im fernen Osten bis zur Krim am Schwarzen Meer, und tief hinein in polnische Gebiete bis ins Baltikum.