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Im Krieg gegen Russland (1914–1945)

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Die Vernichtung der russischen Flotte durch die Japaner im Fernen Osten, Arbeiteraufstände in den industriellen Kerngebieten, Bauernunruhen auf dem Lande, Meutereien im Militär und Generalstreik in Odessa: Anfang des 20. Jahrhunderts stand das Zarenreich vor dem Abgrund. Es sollte nicht einmal zwei Jahrzehnte dauern, bis die Herrschaft der Romanows Geschichte war.

Im Februar 1904 überfiel Japan den von Russland gepachteten Stützpunkt Port Arthur auf der chinesischen Liaodong-Halbinsel und ließ damit die bereits lang schwelende Auseinandersetzung um die Man­dschu­rei eskalieren. Ein Jahr später lag die zaristische Ostseeflotte, die für den Krieg gegen Japan den langen Weg um Eurasien und Afrika genommen hatte, in Trümmern. Mehrere Landschlachten fügten der russischen Armee weitere hohe Verluste zu. Die Niederlage gegen Japan brachte nicht nur Gebietseinbußen (in Sachalin) und ein Problem der Glaubwürdigkeit für den Zaren an der Heimatfront mit sich, sondern wirkte sich auch sozial dramatisch aus. Bauern und Arbeiter konnten die durch die Kriegskosten immer höher werdenden Belastungen nicht mehr ertragen, die Intelligenz sympathisierte mit den aufkommenden Unruhen, in Sankt-Peter­burg gingen 150.000 Demonstranten auf die Straße und auf dem Linienschiff »Fürst Potjomkin von Taurien« meuterten die Matrosen. Der Regisseur Sergej Eisenstein setzte mit seinem 1925 gedrehten Film »Panzerkreuzer Potemkin« der revolutionären Stimmung des Jahres 1905 ein Denkmal.

Als hungrige Arbeiterinnen in Sankt-Peter­burg Stunden lang um rationiertes Brot anstehen mussten, riefen sie einen Streik aus. Die revolutionäre Stimmung entlud sich – gregorianisch gerechnet – am 22. Januar 1905. Zehntausende zogen zum Winterpalais, um ihren Forderungen nach Brot, Achtstundentag und einer Verfassung Nachdruck zu verleihen. Die zaristische Soldateska antwortete mit einem Blutbad; der Petersburger Blutsonntag mit 200 Toten gilt als der Auftakt zur Oktoberrevolution.

Einen zaghaften Versuch zur Einführung einer konstitutionellen Verfassung – das sogenannte »Oktobermanifest« – nahm der Zar noch im selben Jahr zurück, nachdem sich die Reichsduma erdreistet hatte, Landenteignungen zu beschließen. Auch eine Reform zur Kapitalisierung von Bauernwirtschaften durch Ministerpräsident Pjotr Stolypin scheiterte.64

Doch nicht nur die soziale und politische Situation spiegelte heftige Zerfallserscheinungen, auch der Zustand der Industrie war besorgniserregend, und die Kontrolle über sie lag in ausländischen Händen. Der Großteil der Schlüsselindustrien wurde von Berlin, Paris oder London aus dirigiert. »Obwohl selbst ein expandierender imperialistischer Staat«, schreibt der Historiker Alex Peter Schmid über die Eigentümerstruktur im Land, »war das Zarenreich zugleich auch ein kolonialistisches Objekt des europäischen Finanzkapitals.«65 Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges befanden sich 90% der Bergwerke, 50% der chemischen Industrie und 40% der Banken in ausländischem Besitz; deutsche, französische und britische Firmen teilten sich die Filetstücke.66 Die meisten dieser Fabriken entstanden auf der grünen Wiese, viele von ihnen in Dimensionen, die die Produktionsstätten in den Mutterländern der Eigentümer bei weitem übertrafen. Trotz steigender Produktion, so der Russlandhistoriker Hans-Heinrich Nolte, konnte die nachholende Industrialisierung Russlands unter diesen Vorzeichen nicht gelingen.67

Während im Inneren Russlands die revolutionären Strömungen unter Arbeitern, Bauern, Militärs und Intelligenz immer stärker wurden, schwächelte das Zarenreich auf dem internationalen Parkett. Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die österreichischen Habsburger im Oktober 1908 löste im Russischen Reich heftige Proteste von Panslawisten aus, weil sie einen klaren Bruch der Übereinkunft auf dem Berliner Kongress aus dem Jahr 1878 darstellte. Damals war Wien das Besatzungsrecht über Bosnien und die Herzegowina eingeräumt worden, eine Übernahme der Gebiete, wie sie die Annexion bedeutete, galt als ausgeschlossen. Berlin deckte die österreichische Aggression. Russland, das sich als Unterstützer der Balkan-Slawen in ihrem Befreiungskampf gegen das Osmanische Reich verstand, sah dem Vormarsch der Habsburger tatenlos zu.

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