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»Kaiser aller Reußen/Russen«

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Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wird Russland zu einem globalen Spieler in Europa. Im Norden schlagen zaristische Verbände nach jahrelangen, verlustreichen Schlachten die Armee des Schwedenkönigs Karl XII. aus dem Feld (1709); und im Süden beginnen die großen russisch-türkischen Kriege um das Erbe des schwächelnden Osmanischen Reiches. Die Eroberung der türkischen Festung Asow an der Mündung des Don im Jahr 1696 stellt insofern eine historische Zäsur dar, als Russland damit erstmals – wenn auch vorläufig nur für 15 Jahre – einen Zugang zum Schwarzen Meer erhält. Ein jahrzehntelanges Ringen um den Ausbruch aus dem Binnenlandcharakter Russlands in Richtung Süden war damit eröffnet.

Im Norden stellt sich die Lage geopolitisch betrachtet ähnlich dar. Auch hier geht es um den Zugang zur Welt und ihren Märkten über das Meer. Mit dem Sieg in der Schlacht von Połtawa Ende 1709 gegen die technisch überlegenen, aber an Soldaten quantitativ unterlegenen Schweden festigt Russland seinen Zugang zur Ostsee, den es wenige Jahre zuvor mit der Eroberung der schwedischen Festung Nyenschanz, an der unteren Newa gelegen, erreichen konnte. Hier an der Newa-Mündung legt Zar Peter I. ab 1703 die Grundsteine für Sankt-Peterburg, das 1712 zur Haupt- und Residenzstadt des Russischen Reiches wird.

Der schon im zarten Alter von zehn Jahren als Zar titulierte Peter war jahrelang von seiner Halbschwester Sofija und seiner Mutter Natalja in Regierungs­geschäften begleitet worden, bis er 1694 die Alleinherrschaft antrat. Er war der erste russische Herrscher, der in den Jahren 1697 bis 1698 nach Westeuropa reiste. Mit einer Delegation von fast 300 Begleitern machte er sich für 18 Monate auf eine der seltsamsten Reisen der Weltgeschichte. Zar Peter lernte Artillerietechnik in Königsberg, besuchte Werften in Amsterdam und Eisen­produk­tions­stätten in England, traf den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich II. (der als Friedrich I. zum Preußenkönig wurde) in Berlin und schmiedete mit dem sächsischen Kurfürsten August dem Starken Pläne gegen Schweden, die kurz darauf in die Tat umgesetzt wurden. Seine Eindrücke von auf Pfählen errichteten holländischen Städten inspirierten ihn später angesichts der Sumpflandschaft des Newa-Deltas beim Bau von Russlands »Tor zum Westen«.

Peters Politik der Verwestlichung Russlands umfasste alle Bereiche. Und sie war gewalttätig. Den Auftakt machte eine öffentliche Hinrichtungsorgie von 1182 Palastgardisten, sogenannten Strelizen,31 einer Einheit, die seit den 1550er Jahren exekutive Funktionen wahrgenommen hatte. Der als begeisterter Handwerker bekannte Zar war sich nicht zu schade, bei den Hinrichtungen selbst Hand anzulegen. Mit Kleidervorschriften und Bart­erlass erzwang er die Durchsetzung westeuropäischer Modevorschriften in den Städten. Und für den Aufbau seiner neuen Hauptstadt an der Newa-Mündung musste das Volk bluten. Erstmals in der russischen Geschichte wurde eine Kopfsteuer erlassen, die Bauern und Knechte zu »Steuerseelen« machte, womit sie alle Rechte verloren. Das traditionelle russische Recht, nach dem Bauern ihren Gutsherren wechseln und von dessen Hof abziehen durften – so sehr dies auch fallweise durch sogenannte »Verbotsjahre« eingeschränkt wurde –, war schon mit dem Gesetzbuch von 1649 aufgehoben worden. Seit damals ist der russische Bauer an die Scholle gebunden und kann mit dem Land verkauft werden, er ist leibeigen. Peter I. verschärft nun mit der Einführung der Kopfsteuer diese Praxis, indem er alle unfreien Knechte und noch freien Bauern zu »Steuerseelen« erklärt. Als solche sind sie nicht mehr an die Scholle – also den Ort –, sondern an den Gutsherren direkt gebunden. Das heißt, Grundbesitz ist gar nicht mehr notwendig, um »Steuerseelen« sein eigen zu nennen, was Kaufleute animieren sollte, Manufaktur- Produktionsstätten zu gründen, auf denen dann Leibeigene (auch fern der Landwirtschaft) tätig waren.

Doch mit der Kopfsteuer allein war es für den Zaren nicht getan. Die neue Hauptstadt Sankt-Peter­burg erforderte mehr; der Aufbau einer russischen Flotte, die dereinst Wache am Schwarzen Meer und an der Ostsee schieben sollte, musste bezahlt werden. Dafür wurde u. a. eine eigene Galeerensteuer aufgelegt, die Gutsherren zu vermehrten Abgaben verpflichtete. Und diese gaben den Druck nach unten weiter.

Politisch spiegelte sich die neue Ordnung von Peter I. im Aufbau einer strengen Zentralisierung der Macht wider. Auch dabei folgte er dem westeuropäischen Vorbild, wo das absolutistische Zeitalter im 17. Jahrhundert Einzug hielt. Ziel war die Etablierung einer unbeschränkten Staatsgewalt und die Zurückdrängung des adeligen, ständischen und kirchlichen Einflusses. Um zu dieser damals als modern eingestuften Staatlichkeit zu kommen, schaffte Peter I. die Duma der Bojaren, die seit dem 11. Jahrhundert als beratendes Gremium dem Moskauer Großfürsten bzw. Zaren zur Seite gestanden war, im Jahr 1711 ab. Auch schwächte der Imperator die orthodoxe Kirche, indem er 1721 das Amt des Patriarchen schließen ließ und stattdessen einen Synod als Kirchenbehörde einsetzte, der in die staatliche Verwaltung eingegliedert wurde und dessen Prokurator er selbst ernannte. Im selben Jahr 1721 nahm der mittlerweile 49jährige Romanow den Titel »Imperator und Selbstherrscher« an und ließ sich als »Kaiser aller Russen – von Moskau, Kiew, Nowgorod, Wladimir, Kasan und Astrachan« huldigen. Die russische Reichsbildung – nun »Rossija« statt dem bis dahin gebräuchlichen »Rus« oder »Moskowien« – war auf ihrem ersten Höhepunkt angelangt.

Im Westen war man von dem »modernen« Zaren an der Newa, der streng genommen nun den Titel »Imperator« trug, anfangs begeistert. Seine Europa-Euphorie und die zur Schau gestellte Lernbegierde auf seiner »großen Gesandtschaft« in den Jahren 1697 und 1698 schmeichelten vor allem den deutschen Fürsten und Meinungsträgern. Die harte Hand gegen den aufmüpfigen Adel und die Einführung einer zentralen Steuergesetzgebung entsprachen der auch im Westen üblichen absolutistischen Staatsform. Die Modernität jener Epoche spiegelte sich in der Selbstherrschaft des Monarchen.

Der entscheidende Punkt für das in Westeuropa weit verbreitete positive Russland-Bild zu Ende des 17. Jahrhunderts lag jedoch weniger in der Bewunderung der petrinischen Reformen und der Europa-Liebe des Herrschers begründet, sondern basierte schlicht auf einer – relativ kurzfristigen – militärischen Allianz. Russland stand im Krieg gegen die Osmanen auf der Seite des Heiligen Römischen Reiches. Mit der sogenannten Zweiten Türken­belagerung Wiens im Jahr 1683 hatte der osmanische Vormarsch nach Westen einen neuen Höhepunkt erreicht. Ihn zurückzuschlagen galt als oberste Christenpflicht. Das russische Zarenreich wiederum stand an anderer Front, im Süden, gegen die Osmanen. Es ging um den Zugang zum Schwarzen Meer und die Befreiung von der Last ständiger Tataren-Einfälle. Diese nahmen seit Jahrhunderten ihren Ausgang vom Khanat der Krim, das in engem Bündnis mit der Hohen Pforte stand. Die Militärallianz des Russischen Imperiums mit dem Heiligen Römischen Reich entsprang dem gemeinsamen geopolitischen Interesse, die Osmanen zurückzudrängen.

In dieser historischen Situation am Ende des 17. Jahrhunderts erreichte die Russophilie im Westen einen Höhepunkt, der Zar erschien vielen als Retter der Christenheit und Freund der Moderne. »Ich sehe gar nicht, wie ein großer Fürst einen schöneren Plan machen kann als den, seine Staaten blühend zu machen und die Pflanzung, die ihm Gott anvertraut hat, zur Vollkommenheit zu entwickeln,« schmiert der große deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz dem Herrscher in Sankt-Peter­burg Honig ums Maul. Und weiter: »Der Große Zar der Russen zeigt eine außerordentliche Höhe seines Genies und seines Heldenmutes nicht nur in den Angelegenheiten des Krieges, sondern auch in der Regierung, indem er Pläne faßt und ausführt, an die keiner seiner Vorfahren mit Erfolg zu denken gewagt hat.« Des Weiteren rühmt Leibniz in seinem 1697 an Peter den Großen verfassten Brief die Kraft, die der Zar »gegen den gemeinsamen Feind« (die Osmanen, d. A.) aufwendet und vermerkt, wie wichtig die von den Russen mit der siegreichen Schlacht um die an der Mündung des Don gelegenen Festung Asow eröffnete zweite Front im Osten für das Überleben der Christenheit ist. In den Worten Leibniz’ liest sich das folgendermaßen: »Das ist umso beachtenswerter, als die Not drängend ist und man Anlass hat zu glauben, dass ohne diese Ablenkung unsere Angelegenheiten in Ungarn eine schlechte Wendung genommen hätten.«32 Mit »Ablenkung« ist wohl der russische Sieg über die Osmanen am Don gemeint, während die »Angelegenheiten in Ungarn« das Zurückschlagen der Türken nach ihrer gescheiterten Offensive vor Wien anspricht.

Das positive Russlandbild im Westen verblasste nach dem Friedensschluss von Karlowitz 1699 schnell. Dieser beendete zwar den Krieg, fand jedoch keine Antwort auf die drängende Frage Russlands nach Zugang zum Schwarzen Meer. Schon 1711 eroberten die Osmanen die Festung Asow zurück und ab 1721 tobten insgesamt elf russisch-türkische Kriege um Land und Meeres­zugang sowie die Schutzmachtfunktion über die orthodoxen Christen unter dem Halbmond. Erst 100 Jahre nach Karlowitz war die Krim russisch. Im Jahr 1783 gehörte das Khanat der Vergangenheit an und Russland verfügte über einen strategischen Hafen am Schwarzen Meer.

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