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Vom »Drang nach Osten« zum »Volk ohne Raum«

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Im Vertrag von Versailles, den Berlin am 28. Juni 1919 unter Protest unterzeichnete, wurde Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Kriegsverantwortung zugesprochen. Die Siegermächte der Entente oktroyierten harte Bedingungen. Deutschland musste große territoriale Verluste, weit reichende militärische Einschränkungen und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen hinnehmen. Das nach den Ratifizierungen im Januar 1920 gültig gewordene Dokument verkleinerte das Land um Elsass-Lothringen, Nordschleswig, Westpreußen, Posen und kleinere schlesische Gebiete, stellte das Saarland, Danzig und das Memelland unter die Kontrolle des Völkerbundes und erzwang Volksabstimmungen bezüglich staatlicher Zugehörigkeit in einer Reihe von Gebieten. Militärisch verkleinerte Versailles die deutsche Armee beträchtlich und verbot Aufrüstungsvorhaben, Befestigungsanlagen und die allgemeine Wehrpflicht. In wirtschaftlicher Hinsicht verpflichtete der Friedensvertrag Berlin zu hohen Reparationszahlungen und verschaffte den Siegermächten für eine befristete Zeit zollfreien Zugang zum deutschen Markt. Da gleichzeitig durch territoriale Abtretungen sowohl rohstoffreiche und schwerindustrielle Zentren als auch wertvolle landwirtschaftliche Gebiete verloren gingen, sicherten sich Frankreich und Großbritannien mit der Meistbegünstigung im Handel ein riesiges Absatzgebiet.

Fast einhellig war man nicht nur in der deutschen politischen und wirtschaftlichen Elite der Ansicht, dass die Bedingungen von Versailles Deutschland lähmten und seinen Wiederaufbau behinderten. Bald war vom »Schandfrieden« und dem »Versailler Diktat« die Rede. Ähnlich sah das auch einer der britischen Unterhändler, der Vertreter des Schatzamtes John Maynard Keynes. Er trat noch vor dem Abschluss des Vertrages aus Protest zurück. Die harten Bedingungen, so argumentierte er seine Ablehnung, würden in absehbarer Zeit große wirtschaftliche Probleme aufwerfen und sozialen Sprengstoff in sich bergen.93 Keynes sollte auf schauerliche Weise Recht behalten. Und in Deutschland machte sich in intellektuellen Kreisen die Überzeugung breit, dass der Vertrag von Versailles den Nationalisten jene Argumente in die Hände spielte, mit denen Adolf Hitler eine Mehrheit erhalten und schließlich Reichskanzler werden sollte. Der damalige liberale Reichstagsabgeordnete und spätere Bundespräsident Theodor Heuss brachte diese Stimmung auf den Punkt, als er 1932 über die (Wieder-)Gründung der 1925 in München entstandene NSDAP schrieb: »Die Geburtsstunde der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles …«94 In der auf Teile des deutschsprachigen Gebiets zusammengeschrumpften Republik Österreich war die Lage nicht viel anders. Hier diktierte der Völkerbund mit der sogenannten »Genfer Sanierung« aus 1922 Massenentlassungen und Sparauflagen. Die damit provozierten sozialen Verwerfungen führten zehn Jahre später zum Aufstieg der Austrofaschisten und zum Ständestaat. Das im Vertrag von Saint Germain festgelegte Anschlussverbot (an Deutschland) erwies sich schließlich am 12. März 1938 als hinfällig.

Im durch Versailles radikal verkleinerten Deutschland erlangten bald nach der Niederschlagung roter Rätebewegungen rechte Kreise eine kulturelle und politische Hegemonie. Eines ihrer eingängigsten Schlagworte war jenes vom »Volk ohne Raum«. Nach den Gebietsverlusten lag es auf der Hand, mit solch einfachen Losungen Politik zu machen und vermeintliche Lösungen anzubieten. Schon im Parteiprogramm der NSDAP vom Februar 1920 hieß es unter Punkt 3: »Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses«.95 Den Begriff »Volk ohne Raum« entliehen sich die Nationalsozialisten übrigens vom Titelblatt eines Romans, den der völkische Schriftsteller Hans Grimm im Jahr 1926 veröffentlicht hatte.96 Bis dahin hörte man vom für Deutsche notwendigen »Lebensraum im Osten«, den die Rechten als »natürlichen Siedlungsraum« am Schwarzen Meer, am Kaspischen Meer und im Kaukasus imaginierten. »Die Sowjetunion«, so der Russland-Historiker Hans-Heinrich Nolte, »war das vorrangige Ziel der deutschen Expansion«.97

Die Vorstellung von der Erweiterung des deutschen Lebensraumes findet sich zu jener Zeit auch in einschlägigen geopolitischen Publikationen. Die geografisch geschulten Geopolitiker waren es auch, die den ursprünglich aus der Biologie stammenden Begriff des Lebensraumes politisierten. Der in Karlsruhe aufgewachsene Zoologe und Geograf Friedrich Ratzel schrieb in einer Publikation aus dem Jahr 1901 als erster vom »Lebensraum« in einem geopolitischen Sinn. Er gilt als Begründer der politischen Geografie. Eine Generation später übernahm Karl Haushofer98 das Ratzel’sche Bild und fügte es in die Gedankenwelt der Nationalsozialisten ein. Haushofer, ein enger Freund Rudolf Heß’, war Professor für Geografie und nach 1934 Präsident der »Akademie zur wissenschaftlichen Pflege des Deutschtums«. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg popularisierte er seine These vom notwendigen Lebensraum über eine wöchentliche Rundfunksendung; nach der Machtergreifung der Nazis erhielt er einen regelmäßigen Sende­platz im Radio. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion zog sich Haushofer, der selbst nie Mitglied der NSDAP war, auf sein bayerisches Anwesen zurück. Für die gewaltsame praktische Umsetzung seiner geopolitischen Vorstellungen konnte er sich nicht erwärmen.

Die Geopolitiker sorgten für den Begriff des Raumes als machtpolitische Vorstellung. Mit der darauf aufbauenden Vision vom »Volk ohne Raum« etablierte sich ein Paradigmenwechsel in der deutschen Ostpolitik generell. Jahrzehnte lang war zuvor das politische Schlagwort vom »Drang nach Osten« in Gebrauch. Anders als die noch aggressivere nationalsozialistische Losung eines »Volkes ohne Raum«, die die Auswirkungen der Niederlage im Ersten Weltkrieg reflektiert, wurzelt die Vorstellung vom »Drang nach Osten« in historischen Tiefen. Sie stellt sich damit in die Tradition spätmittelalterlicher Siedler­bewegungen von Deutschen, die entweder von lokalen Fürsten im Namen des technischen oder organisatorischen Fortschritts angeworben wurden oder unter missionarischem Deckmantel Siedlungsgebiete eroberten. Die damit einhergehende Überlagerung der einheimischen slawischen Bevölkerung durch deutsche Handwerker, Händler und Bauern war ein Nebenprodukt des im Kern wirtschaftlichen oder verwaltungstechnischen Vormarsches. Nationale Ideologie spielte damals keine Rolle.

»Volk ohne Raum« ist für die 1930er Jahre ein radikal neues, modernes Paradigma deutscher Expansionsbestrebung. Die NSDAP bediente sich dieser Parole, während sie vom »Drang nach Osten« kaum mehr sprach. Und sie unterbuttert sie mit offen rassistischer und sozialdarwinistischer Ideologie. Der, den es zu verdrängen gilt, ist der singularisierte und damit seiner vielfältigen Menschlichkeit beraubte »Russe«. Er wird als rassisch minderwertig, schwach, krank und degeneriert dargestellt. Ihn auszulöschen, zu vernichten wird zur zivilisatorischen Aufgabe. Beim Leiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, kann man diese ideologische Begründung einer angeblichen wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeit – »den Raum nehmen« – im Organ des Kampfbundes des Gewerblichen Mittelstandes, Der Deutsche Handel, vom 17. Oktober 1939 nachlesen: »Wir können unseren Auftrag nur daher nehmen, dass wir sagen, es ist von Gott gewollt, dass eine höhere Rasse über eine mindere herrschen soll, und wenn für beide nicht genügend Raum ist, dann muss die mindere Rasse verdrängt und, wenn notwendig, zum Vorteil der höheren Rasse ausgerottet werden. Die Natur rottet überall das Schwache und Ungesunde zugunsten des Starken und Gesunden aus. (…) Aus diesen Gedanken, aus dieser Idee kommt unser Auftrag. Deshalb verlangen wir Boden.«99

Eine neue, konkrete, expansive und rücksichtslose »Ostpolitik« statt einer allgemeinen »Ostorientierung« forderte auch der Führer der NSDAP, Adolf Hitler, in Mein Kampf. Im erst 1927 erschienenen zweiten Band setzt er sich vor allem mit dem Verhältnis Deutschlands zu Russland auseinander, das er als »Prüfstein« für die Partei und das Land bezeichnete.100 Die oberste Devise seiner »Lebensraum-Politik« müsse lauten, »dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden dieser Erde zu sichern.«101 Die russische Erde bot genug Platz dafür, diese Pläne zu verwirklichen.

Die deutsche Journaille zog nach. Einer der schlimmsten Rassisten, den sie zu bieten hatte, war der aus Reval/Tallinn stammende Deutsch-Balte, mit einer russischen Staatsbürgerschaft ausgestattete Alfred Rosenberg. Der Russen­hass des Chefideologen der NSDAP speiste sich aus Antisowjetismus und Antisemitismus, wobei er die beiden insofern verband, als er die sowjetische Führung als »verjudet« und dementsprechend »rassisch minderwertig« ansah. Das Asiatische, Östliche war für ihn der Feind des Nordischen, Europäischen, Deutschen. Wie hasserfüllt er der Sowjetunion gegenüberstand, zeigt sein Pamphlet Der Mythus des 20. Jahrhunderts, das 1930 erstmals erschien: »Der Bolschewismus«, heißt es darin, »bedeutet die Empörung des Mongoliden gegen nordische Kulturformen, ist der Wunsch nach der Steppe, ist der Hass des Nomaden gegen Persönlichkeitswurzel, bedeutet den Versuch, Europa überhaupt abzuwerfen.« Dieser Gefahr, so Rosenbergs Bekenntnis, müsse man dadurch begegnen, indem man die Slawen »als schmiegsamer Ton in der Hand nordischer Führer«102 der »deutschen Herrenrasse« dienstbar mache. Die ideologischen Pflöcke für den nächsten Feldzug gegen Osten waren spätestens Anfang der 1930er Jahre eingeschlagen, der »Untermensch« identifiziert und nach dessen Eliminierung das Versprechen an die deutsche Gefolgschaft abgegeben, dessen Grund und Boden zu übernehmen.

Den Grundstein für ein revanchistisches Deutschland, das die Folgen seiner Niederlage mit Rassismus kompensierte, legte der Vertrag von Versailles, so wie es Trianon für Ungarn und – mit etwas geringerer Strahlkraft – Saint Germain für Österreich tat. Die Machtübernahme der Sowjets in Russland hatte der herrschenden Klasse in Deutschland zum ethnischen Feindbild des Russen noch den Kommunisten hinzugefügt. Auf diesem Klavier der doppelten Ressentiments ließ sich vorzüglich vorurteilsbeladene, rassistische und antikommunistische Politik spielen. Doch nicht nur Berlin ortete seinen Feind im Osten, auch die Westmächte taten in den 1930er Jahren alles, um Moskau zu demütigen. So insbesondere in einem entscheidenden Moment der europäischen Geschichte zwischen den großen Kriegsgängen. Am 29. September 1938 trafen in München Benito Mussolini, Adolf Hitler, Neville Chamberlain und Édouard Daladier zusammen. Die vier Regierungschefs aus Rom, Berlin, London und Paris segneten die Eingliederung der mehrheitlich deutschsprachigen, sogenannten »Sudenten­gebiete« der ČSR ins Deutsche Reich ab. Die Tschechoslowakei in der Form ihrer 1918 als Vielvölkerstaat gegründeten Republik hörte damit zu existieren auf. Hitlers erste Grenzverschiebung in Richtung Osten blieb auf europäischem Parkett ohne Widerspruch.

Auffällig abwesend bei der Konferenz in München waren nicht nur Vertreter der Tschechoslowakei, um deren Existenz es immerhin ging, sondern auch die Führung der Sowjetunion. Sie war von den Westmächten nicht eingeladen worden. Dies interpretierte Moskau nicht zu Unrecht als Ausschluss aus dem internationalen Konzert und als Versuch, der deutschen Expansion im Osten ohne Widerstand den Weg zu bereiten. Diese Strategie weitergedacht, konnte dies nur bedeuten, dass Westeuropa die UdSSR im Falle eines Angriffs durch Deutschland wohl ebenso im Stich ließe wie es mit der Tschechoslowakei vorgeführt wurde.103 Vor diesem Hintergrund wird der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 verständlicher. Moskau fühlte sich von Frankreich und Großbritannien im Stich gelassen. Stalin garantierte im deutsch-russischen Pakt die sowjetische Neutralität, sollte Berlin Polen angreifen. Das geheime Zusatzprotokoll hingegen, das der Sowjetunion »im Falle einer territorial-politischen Umgestaltung« die Wiederinbesitznahme von Gebieten erlaubte, die dem Zarenreich im Ersten Weltkrieg verloren gegangen waren – was schließlich auch geschah –, zeigt erste (neo)imperiale Züge Russlands unter der roten Fahne.

Trotz offiziell gültigem deutsch-russischen Nichtangriffspakt blieben in Berlin die geopolitischen Planungen für den Osten weiterhin gegen Russland gerichtet. Ein Blick in die Gedankenwelt eines der höchsten NSDAP-Politiker, Reichsführer SS und späterer Reichsinnenminister Heinrich Himmler, mag die deutsche Position nach dem Angriff auf Polen (1. September 1939) und vor dem Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) erhellen. Mit feiner Feder entwirft Himmler in einer Niederschrift vom 15. Mai 1940 ein Zukunftsszenario für Osteuropa, wie es in den Berliner Planungsstäben diskutiert wurde. Es geht, wie gewohnt, um die Kontrolle der Völker im Osten durch den deutschen »Herrenmenschen«: »Bei der Behandlung der Fremdvölkischen im Osten müssen wir daraus sehen, so viel wie möglich einzelne Völkerschaften anzuerkennen und zu pflegen, also neben den Polen und Juden die Ukrainer, Weissrussen, die Goralen, die Lemken und die Kaschuben. Wenn sonst noch irgendwo Volkssplitter zu finden sind, auch diese. Ich will damit sagen«, so Himmler weiter, »dass wir nicht nur das grösste Interesse daran haben, die Bevölkerung des Ostens nicht zu einen, sondern im Gegenteil in möglichst viele Teile zu Splittern zu zergliedern.«104 Neben der vielleicht für Mai 1940 überraschend anmutenden Bemerkung über die Juden, die Himmler als »Volkssplitter« anerkannt wissen will, ist es von größerem Interesse, wie sich der Chef der deutschen Polizei und Reichsführer SS den Umgang mit zu erobernden Gebieten im Osten vorstellt. »Teile und herrsche« ist die sichtbar zum Ausdruck gebrachte Devise. Aber dahinter steht die wahrhaftige Feindortung: Russland. Himmler verliert in der gesamten Niederschrift kein Wort über Russland oder die Sowjetunion, immerhin besteht ja zwischen Moskau und Berlin ein Nichtangriffspakt. Unschwer ist dennoch die Stoßrichtung seiner Planungen erkennbar: Moskau muss geschwächt werden, und zwar über die ethnische Frage, oder wie er es ausdrückt: das »völkische« Moment. Es gilt, wieder einmal, die Ukraine und Weißrussland – nebst möglichst vielen anderen Gebieten – vom russischen Einfluss fern zu halten bzw. aus dem sowjetischen Verband herauszulösen. Das Ziel der »Behandlung der Fremdvölkischen« im Rahmen der Eroberung kommt im strategischen Papier Himmlers nicht vor. Es sind die alten deutschen Pläne, die schon vor und während des Ersten Weltkrieges bestanden hatten, nämlich im Süden Russlands die Kontrolle über Getreidefelder, Erzlager und Erdöl zu erlangen. Deswegen machten die großen deutschen Industriemagnaten aus dem Gefreiten des Ersten Weltkrieges den Führer des Deutschen Reiches.

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erhob sich schlagartig eine vielstimmige Propaganda gegen Bolschewismus, Russland und die Russen. Die Heimatfront tobte, wie in jedem Krieg. Der Begriff des »Untermenschen« wurde zum Stereotyp, wenn es darum ging, Russen bzw. Sowjetmenschen zu beschreiben. Eine 1942 vom SS-Hauptschulungsamt herausgegebene Broschüre zeigt am Titelbild einen solchen »Untermenschen«. Er ist breitschädelig, hat einen verschlagenen Blick, einen sklavisch rasierten Kopf, sein zur Fratze verzerrtes Gesicht ist dunkelhäutig; hinter ihm vermitteln Horden von tierisch anmutenden Gestalten die Gefahr, die von Russland ausgeht und die es zu bändigen gilt.105

Feindbild Russland

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