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Napoleons großer Feldzug
ОглавлениеDen Westmächten war das von Sankt-Peterburg aus gesteuerte Russland zu mächtig geworden. Aus dem eurasischen Herzland, das fern vom Zugang zu Meeren und Weltmärkten rund um sein Zentrum Moskau kreist, wurde innerhalb eines Jahrhunderts ein Reich, das östlich an den Pazifik, südlich ans Schwarze Meer und nördlich – neben dem unzugänglichen Eismeer – an die Ostsee grenzte. Der Ausbruch aus einer vorgeblich naturräumlich gegebenen Isolation konnte vor der Welt und den europäischen Mächten nicht augenscheinlicher vollzogen werden.
Ende des 18. Jahrhunderts erschütterte der Sturm auf die Pariser Bastille Europa. Die Französische Revolution ließ die Herrscherhäuser auf dem ganzen Kontinent erzittern. Instinktiv formten Kaiser, Könige und andere Fürstenhäuser Koalitionen gegen die Revolutionäre von Paris. Auch der Zar von Moskau folgte der internationalen Reaktion gegen die Französische Republik. Nachdem diese von innen ausgehöhlt und im Macht- und Expansionsstreben Napoleons zerborsten war, wandten sich die Herrscherhäuser wieder den alten Feindschaften zu. Nach wechselnden Bündnissen gegen Großbritannien und Frankreich schloss Zar Alexander i., ein Enkel von Katharina II., am 7. Juli 1807 Frieden mit Napoleon. In einem geheimen Zusatzprotokoll zum Frieden von Tilsit wurde Frankreich die Kontrolle über Deutschland und Spanien anheim gestellt, während Russland schwedische und türkische Gebiete einnehmen durfte, ohne in Konflikt mit Paris zu geraten.
Alexander I. nahm dies als Freibrief. Im fünften russisch-türkischen Krieg besetzten Truppen des Zarenreiches die rumänischen Donaufürstentümer Moldau und Walachei, die seit dem 15. Jahrhundert dem Osmanischen Reich tributpflichtig waren.36 Im Jahr 1810 erklärt Sankt-Peterburg die beiden Fürstentümer als annektiert und lässt sich die Gebietsgewinne im Frieden von Bukarest 1812 bestätigen.
Nur wenige Wochen danach, im Sommer 1812, überschreitet Napoleon mit der mutmaßlich stärksten Armee der Weltgeschichte, die fast 500.000 Soldaten umfasst, die russische Grenze. Der russisch-französische Vertrag von Tilsit wie auch seine Zusatzabkommen sind damit Makulatur. Die personell und technisch wesentlich schwächeren und vom Angriff überraschten zaristischen Truppen ziehen sich in den russischen Raum zurück. Die legendär gewordene Strategie der verbrannten Erde lässt die Franzosen rasch bis nach Moskau vordringen, wo sie eine fast gänzlich leere Stadt vorfinden, die am 15. September 1812 in Flammen aufgeht, nachdem sie der russische Gouverneur Rostoptschin in Brand stecken hatte lassen.37 Damit verloren die Franzosen jede Möglichkeit, ihre immer noch mehr als 100.000 Mann zählende Armee zu versorgen und über den Winter zu bringen. Der Rest ist Weltgeschichte. Im verlustreichsten Rückzug einer großen Armee erschöpft sich das Napoleonische Heer völlig und wird in der Folge auch aus deutschen Landen vertrieben. Am 30. März 1814 rücken Soldaten des Zaren in Paris ein. Tags darauf reitet Alexander I. gemeinsam mit dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. und dem österreichischen Feldmarschall Karl Philipp zu Schwarzenberg über die Champs-Élysées. Er lässt sich von deutschen Fürstenhäusern als Befreier feiern, womit politisch eine Phase der Reaktion eingeleitet wird. Der Zar wird zum Sinnbild der Bewahrung einer monarchischen Ordnung.38 Vage versprochene Verfassungsänderungen und Demokratisierungen fanden nicht statt, was vielerorts die Kluft zwischen Adel und Volk vertiefte.
Am Wiener Kongress des Jahres 1815 wurde eine post-napoleonische Neuordnung des Kontinents beschlossen und die Grenzen neu gezogen. Russland endet nun im Westen an der Oder, nachdem ihm Kongresspolen zugestanden wurde. Im äußersten Osten rücken russische Grenzsteine über die Beringstraße auf den amerikanischen Kontinent vor. Die Einigung auf dem als »tanzender« Kongress titulierten Großereignis wird geopolitisch durch die Gründung der »Heiligen Allianz« der Herrscherhäuser Österreichs, Preußens und Russlands begleitet. Von der Aufbruchsstimmung der Französischen Revolution bleibt nichts übrig.