Читать книгу Die Elegien des Properz - Hans Peter Syndikus - Страница 10
Cynthia
ОглавлениеWie es der erste Vers des 1. Buches programmatisch verkündet, steht im Mittelpunkt von Properzens Liebeselegien eine einzige Gestalt: Cynthia. Anders als bei den Dichtern der griechischen Anthologie ist das ein bezeichnender Zug für die römische Liebesdichtung mit Ausnahme von Horaz, der die griechische Art, mit den Objekten der Leidenschaft zu wechseln, vorzieht. Properz selbst kennt in der Elegie 2,34,85–92 bei einem Überblick über seine römischen Vorgänger in der Liebesdichtung, also bei Varro Atacinus, Catull, Calvus und Gallus immer nur eine Geliebte. Das nimmt Ovid auf. Er hält wie bei Catull und Gallus bei Properz und ihm selbst die eine Geliebte für einen bezeichnenden Zug. Auch Martial hält die eine den Dichter inspirierende Geliebte für das zentrale Motiv der römischen Elegiker. Zu der Liste des Properz fügt er noch Tibulls Nemesis und Ovids Corinna hinzu.35 Bei Properz ist die Konzentration auf eine einzige Geliebte sogar noch ausgesprochener als etwa bei Catull. Immer wieder versichert er auch in Gedichten, die von Abkehr und Treulosigkeit Cynthias sprechen, daß er seiner einzigartigen Geliebten treu bleiben wolle.36 Vorschläge, sich mit anderen Mädchen zu trösten, weist er entschieden zurück.37
Eine vergleichbare Erhöhung einer einzigartigen Geliebten und die Hinnahme ihrer nicht seltenen Treulosigkeiten ist bei Catull und Gallus vorgeprägt. Catull empfindet im 68. Gedicht in ungewöhnlichen Bildern das Nahen der Geliebten wie eine Rettung aus Todesnähe, und ihr erstes Kommen feiert der wie die Epiphanie einer Göttin (Vers 70: candida diva). Unterwürfig nennt er sie seine Herrin (Vers 68, 136 und 156). Ihre Treulosigkeiten nimmt er demütig hin und sieht sich in Vertauschung der üblichen Geschlechterrollen in der Gestalt der Hera, die die Seitensprünge ihres Göttergemahls ertragen mußte (Vers 135–139). Abschließend betont er, die Geliebte sei das Glück und Licht seines Lebens, die ihm sein Leben erst lebenswert mache (Vers 158–160). Ebenso scheint bei Gallus in den vier Büchern seiner Liebeselegien nur die geliebte ‚Lycoris‘ im Mittelpunkt gestanden zu sein.38 Nach der Darstellung Virgils in der 10. Ekloge war ein unstillbares Liebesleid bezeichnend für seine Dichtung. Auch der neugefundene Galluspapyrus zeigt klar das Weiterwirken von Catulls Liebesauffassung: Gallus nimmt wie vor ihm Catull und nach ihm Properz39 die nequitia, also die Treulosigkeit seiner Geliebten hin und nennt sie seine domina. Bei Properz scheint vom Prologgedicht des ersten Buches an das alles noch gesteigert. In der Elegie 1,19,13–16 kann keine der mythischen Schönen, deren Schönheit er oft feiert, an die Schönheit Cynthias heranreichen, und in 2,3,25–32 preist er sie wie eine auf Erden erschienene Göttin.40 Aber auch das Zerstörerische bei seiner leidenschaftlichen Bindung an die einzige und einzigartige Geliebte wird ohne Illusionen gesehen. Er nennt seine Verfallenheit einen Wahnsinn gegen jede Vernunft, ein hartes Schicksal, eine unheilbare Krankheit. Aber die Anziehung der Geliebten ist so überwältigend, daß er nicht von ihr lassen kann.
Cynthia ist ein Poesiename: Apollon wurde von Kallimachos nach dem Berg Kynthos auf der Insel Delos, dem Geburtsort Apollons, mehrfach Kynthios genannt.41 Der Name bedeutet also etwa ‚die Apollinische‘. Diese Verhüllung der Lebenswirklichkeit war bei den römischen Liebesdichtern üblich. Apuleius beleuchtet diesen Brauch42 und nennt als Beispiele außer Properz, die Dichter Catull, Ticidas und Tibull, die alle für ihre Geliebten Pseudonyme wählten. Nach dieser Nachricht sei der bürgerliche Name Cynthias Hostia gewesen, was auf eine gebürtige Römerin oder wenigstens Italikerin hindeutet.43
Properzens Elegien, die Cynthia gelten, sind, wie vor allem die zahlreichen Motivaufnahmen aus der griechischen Dichtung zeigen, gewiß nicht immer treue Widerspiegelungen bestimmter Lebenssituationen, also keine Erlebnisgedichte im Sinne Goethes oder der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Boucher hat klar gesehen,44 daß die drei ersten Bücher des Properz seine Liebesbeziehung nicht als eine Art Liebesroman, gar in chronologischer Reihenfolge widerspiegeln wollen, wie man früher vielfach geglaubt hat. Properzens Ziel sei nicht die Widerspiegelung gelebten Lebens, sondern die Schaffung von Kunstwerken gewesen, die nach künstlerischen Gesichtspunkten, etwa im Aufeinandertreffen von Kontrasten oder in thematisch verwandten Gedichtguppen, zusammengestellt seien. Wie andere augusteische Dichter greift Properz vielfach literarische Motive, also typische Situationen auf, sieht also nicht selten die Geliebte im Lichte der literarischen Tradition, wie er sie ja auch immer wieder durch Vergleiche mit mythischen Gestalten erhöht.45
Aber es ist kaum richtig, die Liebesbegegnungen der Elegien als pure Fiktion, als Spiel der Phantasie in der Nachfolge literarischer Vorbilder aufzufassen. Die heute so beliebten Bezeichnungen ‚persona‘, Sprecher oder ‚lyrisches Ich‘ sind wohl viel zu papierene philologische Begriffe, die dem unauslotbaren Zusammenspiel zwischen persönlichen Erfahrungen und Gefühlen und dem Leben in einer literarischen Tradition nicht gerecht werden können. Die Kritiker, die die römische Liebesdichtungen als rein literarische Konstruktionen ohne Lebenshintergrund auffassen, beachten wohl zu wenig, wie gerade Properz auch die aus anderen Quellen stammenden Motive verändert und ihnen einen sehr einheitlichen persönlichen Stempel aufdrückt. Properz vertieft traditionelle Motive und gestaltet aus einem oft wenig ernsthaften Stoff ein bewegendes Schicksal. Eigentümlich Properzisch ist auch, wie er jede Gefühlsbewegung bis zum Extrem auskostet. Und Properzens Cynthia ist in vielfacher Weise in der stadtrömischen Welt der damaligen Gegenwart verwurzelt. Diese selbstbewußte,46 unabhängige,47 mit allen Rafinessen vertraute, aber wenig um ihren Ruf oder gar um das herkömmliche Verhalten einer römischen Matrone bekümmerte Dame erscheint ganz als eine Schwester der Sempronia,48 Lesbia oder Lycoris der vorherigen Generation. Diese Gestalten zeigen eine tiefgreifende Umwandlung der römischen Gesellschaft an. Wie O. Lyne an vielen Beispielen dargetan hat,49 traten in Rom in Anlehnung an das griechische Hetärenwesen seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. immer mehr emanzipierte Frauen auf, die, verheiratet oder unverheiratet, mit allen Künsten einer raffinierten Kultur ausgestattet, auch hochstehende Römer anzuziehen verstanden und sie in oft dauernden Bindungen an sich fesselten. In dieser Weise war Cynthias Lebensstil der einer griechischen Hetäre.50 Wenn sie einen Liebhaber erwartet, steht ihm ihre Türe die ganze Nacht offen,51 und wenn die Türe geschlossen ist, bitten Nachtschwärmer vor der Tür um eine Liebesstunde.52 Wie eine Hetäre trägt sie ein verführerisches koisches Gewand und schminkt sich aufreizend.53 Und wie eine Hetäre ist sie eine zügellose Teilnehmerin an den Symposien der römischen Jugend54 und glänzt mit ihren Tanzkünsten und ihren musikalischen Talenten.55 Schließlich hat Properz nicht selten zu klagen, daß sie ihm andere Liebhaber vorzieht, auch weil sie von ihnen größere Geschenke erhält.56
An anderen Stellen wird aber deutlich, daß Cynthia doch eine ungewöhnliche Frau war, die nicht von ungefähr eine große Anziehungskraft ausübte. Properz war von ihrer Schönheit überwältigt, und nur der Vergleich mit den größten Schönheiten des griechischen Mythos schien ihm die einzig ihr würdige Huldigung.57 Aber ihm gefiel nicht weniger, daß sie literarisch gebildet war, Verständnis für seine Dichtung hatte, ja selbst Verse schrieb.58 Und so wetterwendisch Cynthia sein konnte, zog sie ihren Dichterfreund doch auch reichen Liebhabern vor wie in der Elegie 1,8 dem Praetor, der sie nach Osten in seine Provinz locken wollte. Die von vielen umschwärmte Frau hat doch auch immer wieder Properz, ohne Geschenke von ihm zu erwarten, Herz und Tür geöffnet.59 Und als er einmal zornig wegbleibt, schließt sie sich traurig in ihrem Haus ein und denkt nicht daran, sich mit einem anderen Liebhaber zu trösten.60 Schließlich läßt Properz in der Elegie 4,7,15–20 in der Traumerscheinung der toten Cynthia sie daran erinnern, daß sie sich immer wieder, offenbar in einem Zustand gesellschaftlicher Erniedrigung und Abhängigkeit, heimlich an einem Strick von einem hochgelegenen Fenster zu ihrem Liebhaber herabgelassen habe und daß sie sich auf dem Straßenpflaster geliebt hätten. Und in Vers 93f. dieses Gedichtes beteuert sie, daß auch für sie der Liebesbund mit Properz etwas Einzigartiges war, ein Leben und Tod umfassender Bund.