Читать книгу Einstein, Gott und meine Brüder - Harry Flatt-Heckert - Страница 10
Kapitel Nummer drei
ОглавлениеAber es war nicht alles schlecht. Überhaupt nicht. Ich hatte sogar eine ausgesprochen behütete Kindheit. Wir wohnten in unserem eigenen Haus in einem kleinen, aber leider auch äußerst beschaulichen Dorf, mein Vater war Regierungsdirektor für Agrar und Forsten in Hannover, begeisterter Hobbysegler und Jäger. Meine Mutter war nach der Geburt der vier Kinder Hausfrau und Mutter. Und damit hatte sie mehr als genug zu tun. Es ging uns gut. Uns fehlte nix. Wir hatten sogar ein paar Jahre lang ein Ferienhaus am Steinhuder Meer, wo wir schon als Knirpse das Segeln lernten und mein kleiner Bruder Purzel schmerzhaft - und um ein Haar tödlich - verinnerlichen musste, dass vor dem Schwimmen-können das Schwimmen-lernen steht. Er rannte nämlich, damals vielleicht vier Jahre alt, einen Bootssteg entlang, versäumte oder schaffte es einfach nicht, rechtzeitig zu bremsen und fiel - platsch - ins Wasser. Einfach so. Zum Glück war Lülle in der Nähe und rettete den hilflos um sich schlagenden, zappelnden und schreienden Purzel aus den Fluten des Steinhuder Meeres. Verdient hatte er es eigentlich nicht. Er brüllte trotz seiner Rettung wie am Spieß. Ein Riesenspaß.
Wir vier Jungs verstanden uns richtig gut, nachdem wir Purzel die richtige Rangfolge und Dienstgrade beigebracht hatten. Wir hatten nun eine sinnvolle Hackordnung, prügelten uns regelmäßig, stritten und vertrugen uns wieder und terrorisierten nach Kräften unsere Umwelt. Allen voran meine Eltern. Dabei verstanden wir uns besonders gut. Mit meinem Bruder Pitze-Patze spielte ich sogar jahrelang gemeinsam in verschiedenen Schülerbands, die so abstruse Namen wie "Desaster", "Sudden Fear" oder "Six feet under" hatten. So hat sich das dann auch angehört. Ich spielte Gitarre, mein Bruder Schlagzeug. Und zur großen Freude meiner Eltern haben wir in unserem Haus geprobt.
Wir hatten Tiere, wir hatten Räder und später Mofas, wir hatten Freunde, wir hatten Freiheiten, wir hatten eigentlich alles, was man sich wünschen kann. Auch wenn man das als pubertierender Jugendlicher natürlich ganz anders sieht. Vor allem defizitär. Aber, summa summarum, eine schöne Kindheit und Jugend.
Wenn da nicht mit zunehmendem Alter die ständigen politischen Auseinandersetzungen gewesen wären. Der ewige Stuss, den ich in den Ohren meines Vaters von mir gab. Ich fand nämlich nicht, dass die Nato den Osten in Grund und Boden rüsten müsse oder dass die Bundesrepublik Gebietsansprüche an Polen haben könnte. Ich war der Meinung, verzockt ist verzockt. Eine Einstellung, die meinen Vater zur Weißglut bringen konnte. Mit Recht vielleicht, denn er hatte damals im Krieg gar nichts verzockt, er war ein Kind und hatte seine geliebte Heimat und Kindheit verloren. Eine Kindheit in den Weiten Pommerns, mit Pferden, eigener Landwirtschaft und einer wundervollen Zukunft. Wenn nicht dieser verdammte Krieg seine Träume zerstört hätte. Und wenn ich meinen Erzeuger auf die Palme bringen wollte, dann brauchte ich nur das Thema auf die Ostgebiete zu lenken.
Und ich wollte ihn oft auf die Palme bringen. Ich weiß gar nicht genau warum. Oder vielleicht weiß ich es doch. Ich sah ihn eben nur als meinen Erzeuger an, nicht als meinen Vater, schon gar nicht als meinen Papa. Von einem Papa hatte ich ein anderes Bild. Das Bild von jemandem, der für mich da ist, wenn ich ihn brauche. Das war er nicht. Zumindest war dieses Gefühl tief in meinem Unterbewusstsein verankert. Er war nicht da, als ich ihn brauchte. Meine Mutter auch nicht. Und in mir wuchs Stück für Stück so eine ablehnende Anti-Haltung. Und dabei konnten sie eigentlich gar nichts dafür.
Meine Eltern haben 1966 ihren ersten Urlaub geplant. Der erste gemeinsame Urlaub. Vier Kinder bekommen, Haus gebaut und nun endlich ein erster Urlaub. Allein, ohne uns. Oma und Opa sollten aufpassen. Und kurz bevor sie ihre Reise auf die Färöer-Inseln - damals eine Weltreise - antreten wollten, ließ ich mich vor unserer Haustür überfahren. Einfach so. Es war Sommer. Lülle, Pitze und ich planschten in unserem aufblasbaren Planschbecken im Garten - Purzel war noch ganz klein und schlummerte in seinem Kinderwagen - als irgendetwas - ich habe heute keine Ahnung mehr, was das war - das Interesse meiner Brüder weckte und sie schnurstracks aus dem Wasser an die Straße zog. Es dauerte ein Weilchen bis ich mich rappelte und wie der Blitz hinterherlief. Leider lief ich nicht an die Straße, sondern auf die Straße, wo ich sofort von einem Auto überfahren wurde. Sofort. Klatsch und weg. Der konnte nicht mal versuchen zu bremsen. Geschrei, die Nachbarn laufen zusammen, "oh Gott, der arme Junge!", meine Mutter kommt aus der Küche - woher auch sonst -, Rettungswagen, Tatütata, Krankenhaus. Aus die Maus.
Zum Glück nicht ganz, ich war noch am Leben. Schwer verletzt, aber am Leben. Meine Eltern waren natürlich überglücklich, dass ich nicht tot war. Glaube ich. Und natürlich wollten sie ihren Urlaub stornieren. Sie mussten, sie wollten doch jetzt für mich da sein! Da gab es für sie keinen Zweifel. Aber der Professor, der mich damals im Krankenhaus behandelte, der Kindheitszerstörer, meinte, ich sei doch jetzt in guten Händen, hier könne mir nichts passieren und meine Eltern sollten beruhigt in den Urlaub fahren, den hätten sie schließlich dringend nötig und hier und jetzt könnten sie ohnehin nichts für mich tun. Und sie zweifelten, sie diskutierten, sie gingen mit sich selbst ins Gericht und sie fuhren. Und ich glaube, das haben sie bereut. Es war die schrecklichste Zeit ihres Lebens, und als sie da auf den Färöer-Inseln waren, da hätten sie sich am liebsten zurückgewünscht. 1966. Am Arsch der damals bekannten Welt. Da ging natürlich nichts. Ich war versorgt. Sicher. Aber ich war allein. Mutterseelenallein. Und das wusste ich. Ich bin allein. Und aus dem Gefühl des Alleinseins, des auf-mich-selbst-gestellt-seins wurde Distanz und mit der Zeit Rebellion. Und sie konnten gar nichts dafür. Sie haben nur das gemacht, was mein Arzt ihnen sagte. Bei mir hat das aber tiefe Spuren hinterlassen. Aber das konnte ich damals noch nicht verstehen. Damals noch nicht. Aber später, als ich größer wurde, war das irgendwie präsent. Da wollte ich sie, vor allem meinen Vater, auf die Palme bringen. Das war wohl meine Rache.