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Neuntes Kapitel
ОглавлениеIch zog nach Hermannsburg. Hermannsburg? Hermannsburg! Nicht mal Paderborn. Egal. Hermannsburg nun also. Wo immer das war.5 Dort musste man die ersten vier Semester studieren, bevor es dann an die große Schwester nach Celle ging, dahin, wo die älteren Semester, die Weisen wohnten. Wir waren ja noch Frischlinge, Dummköpfe. In Hermannsburg, einem völlig degenerierten, am Arsch der Welt6 gelegenen Ort, gab es neben der Theologischen Akademie auch das Missionsseminar der hannoverschen Landeskirche. Das waren die Frommen, die das heilbringende Wort Gottes in die Welt tragen sollten. Wir waren die Wissenschaftler. Das fühlte sich gut an. Hermannsburg gehörte, wie ich erfuhr, zu den drei großen christlichen Nabeln dieser Welt. Rom, Jerusalem und Hermannsburg. Ich war beeindruckt. Und glücklich. Ich saß nun im Zentrum des Christentums, das ich nun - bald schon - aus dieser Mitte heraus, quasi die eigene Nabelschnur um den Hals legend, langsam durch die reine Vernunft genüsslich erdrosseln konnte. Ich fühlte mich böse, ich fühlte mich großartig. Aber das sagte ich ja schon.
Der erste Tag in der Theologischen Akademie war aber gar nicht so großartig. Er ging sogar total daneben. Es war eigentlich auch kein Tag. Es war ein Abend. Die Begrüßungsfeier der älteren Semester für uns "Erstis" war gut geplant und genauso gemeint. Ging aber daneben. Zumindest für mich.
Wir "Neuen" wurden herzlich in Empfang genommen, es war alles hübsch geschmückt, die Tische fein gedeckt, ein tolles Buffet wartete auf uns und nach den obligatorischen Begrüßungsreden des Dekans und des Ältesten und des Studentensprechers und der Studentensprecherin - auf eine korrekte, geschlechterspezifische Anrede wurde ganz penibel geachtet -, des VorsitzendIn der studentischen Hallen-Halma-Mannschaft beiderlei Geschlechts, der Frauenbeauftragten, des Senators für studentische Haushaltsfragen und des Hausmeisters ging es endlich zu Tisch. Ich saß neben einer älteren Dame - ich sage 'Dame', obwohl ich damals dachte: 'Schachtel' - und fragte sie, ob sie als Putzfrau hier tätig sei, oder als gute Küchenfee, die das lieb gemeinte Buffet vorbereitet hätte, oder sich irgendwie anders segensreich in das Gelingen dieses wunderbaren Abends eingebracht hätte? Sie guckte etwas konsterniert, was ich spontan auf meine so verbindlichen und wertschätzenden Worte schob. Das war sie bei diesem ganzen elitären Gesocks hier sicher nicht gewohnt. Sie guckte also so und zeigte mit ihrem knöchernen Zeigefinger auf das Namensschild, das sie sich an die Brust geheftet hatte: Ich musste mich dieser Brust - ich wollte das nicht - etwas nähern, um lesen zu können, was da stand: Prof. Dr. Dr. Priv.-Doz. Gudrun-Elisabeth I. von Hülsenitz. Dozentin für alte Kirchengeschichte. Ich hatte einen Kloß im Hals. Aber den konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Ich schluckte ihn runter und sie schob süffisant nach, dass sie nicht nur Prof. Dr. Dr. Priv.-Doz. Gudrun-Elisabeth I. wäre, sondern darüber hinaus die Ehefrau des Dekans war, der allerdings - was sie mit unüberhörbarer Genugtuung betonte - nur einen Doktortitel hätte.7
Mist. Kein so guter Anfang. Ich war erledigt. Mein Leben war zu Ende. Und dabei hatte mein Studium noch nicht mal angefangen.
Ich betrank mich an diesem Abend – sicherheitshalber - denn ich befürchtete, dass meine noch so junge, mir so wichtige akademische Ausbildung ein jähes Ende finden könnte. Hier und jetzt. Sofort. Es passierte aber zunächst nichts. Wir "Neuen" hatten offensichtlich so etwas wie Welpenschutz. Zumindest für den Moment. Und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich in Gottes unermesslicher Gnade ganz gut aufgehoben. Aber nur für diesen, für diesen einen Augenblick. Morgen früh würde ich sie ihm zurückgeben. Und würde dann schon sehen, was die Schachtel macht. Ich prostete mir zur. Ein wenig fürchtete ich mich aber doch noch.